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Vierunddreißigstes Kapitel. Verschüttet und heimgesucht.

»Zünd ein Licht an, Lenz, zünd ein Licht an. Wenn eine Gefahr ist, muß ich sie sehen. Du bleibst im Finstern und klagst und weinst. Was weinst du jetzt auf meine Hand? Was soll das? Laß mich los, ich will aufstehen und Licht machen.«

»Annele, so bleib doch ruhig,« konnte Lenz kaum hervorbringen. Seine Zähne klapperten. »Annele, ich habe mich vor deinen Augen umbringen wollen.«

»Bring lieber mich um. Mir wäre der Tod recht.«

»Annele, hast du mich denn nicht verstanden? Wir sind begraben mit unserm Kind. Wir sind verschüttet.«

»Jawohl, wenn du das Unglück zu machen gehabt hättest, wär's nicht geschehen; es hat von selber kommen müssen.«

Noch immer, jetzt noch dieser gellende, schneidende Ton, diese ätzenden, stachelnden Worte! Lenz konnte kaum Atem holen.

»Ich stehe auf, ich stehe auf,« fuhr Annele fort, »ich bin nicht so wie du und lasse die Arme hängen: komm, Glück, komm, Unglück, mach mit mir, was du willst! Ich muß sehen, was da zu machen ist. Du möchtest am liebsten warten, bis man dich ausgräbt oder der Schnee von selbst weggeht. Bei mir ist's anders. Wehr dich, hat unser alter Hund geheißen.«

»Bleib ruhig. Ich will Licht anzünden,« erwiderte Lenz und ging nach der Stube; aber noch hatte er das Licht nicht angezündet, als Annele bei ihm stand. Sie hatte das Kind auf dem Arm. Er ging nach dem Speicher, kam aber schnell wieder zurück und berichtete mit Entsetzen, daß das Dach eingedrückt sei. »Das ist nicht vom Schnee allein,« sagte er, »da sind Baumstämme mit heruntergerollt. Drum hat's so gepoltert.«

»Was geht mich das an? Helfen, ein Rettungsweg ist die Hauptsache.«

Annele rannte hin und her, drückte an allen Fenstern, an allen Thüren. Es darf nicht sein, solch ein Unglück darf nicht geschehen! Erst als sie merkte, daß nichts nachgab, alles wie fest eingemauert, schrie sie laut jammernd auf und setzte das Kind auf den Tisch. Lenz nahm das Kind auf den Arm und redete Annele zu, geduldig zu sein; sie gab keinen Laut von sich. »Die kalte Hand des Todes liegt auf unserm Hause,« sagte er, »da hilft kein Ankämpfen mehr. Hast du den Wilhelm auch noch daheim? Ist er wo versteckt?«

»Nein, er ist fort, das Kind aber hab' ich bei mir behalten.«

»Gottlob! da sind wir doch nicht alle verloren, ist doch eines von uns gerettet. O, du armes Kind! Ich will dir ehrlich sagen, ich habe den Knaben fortgeschickt, er sollte nicht dabei sein, wie ich mich umbringe. Jetzt ist's anders. Jetzt hat uns Gott miteinander abgefordert. O, du armes Kind, daß du um der Sünde deiner Eltern willen sterben mußt!«

»Ich habe nicht gesündigt, ich habe mir nichts vorzuwerfen.«

»Gut, bleib auch jetzt noch dabei. Davon weißt du nichts, daß du mich ermordet, mir das Herz im Leib vergiftet, mich verunehrt hast vor mir selber, mich hast unter den Fuß treten wollen und mir alle Kraft genommen?«

»Ein Mann, der sich die Kraft nehmen läßt, verdient's nicht besser.«

»Annele, um Gottes willen, in einer Stunde stehen wir vielleicht vor einem andern Richter. Geh in dich!«

»Ich brauche dein Predigen nicht, predige dir selber.«

Sie ging in die Küche und wollte Feuer anzünden, aber sie that einen jammervollen Schrei. Als Lenz hinauskam, sah er ihren Blick starr auf den Herd gerichtet, da saßen die Ratten und Mäuse auf dem Herde und starrten sie an, und ein Rabe flog in der Küche umher und schlug bald einen Teller, bald einen Topf zu Boden.«

»Schlag sie tot,« schrie Annele und floh in die Stube.

Lenz wurde der Ratten und Mäuse bald Meister, des Raben konnte er nicht habhaft werden, wenn er nicht alles Geschirr in der Küche zertrümmern wollte, beim Lampenlicht war er wie toll, und ohne Licht fand man ihn nicht. Lenz ging in die Stube und sagte: »Ich habe hier meine geladene Pistole, ich könnte den Raben erschießen, aber ich darf's nicht wagen; die Erschütterung durch den Schuß kann das Zusammenstürzen des Hauses beschleunigen. So, ich will wenigstens diese Stube sicher machen.«

Er rückte in die Mitte der Stube unter den Durchzugsbalken einen schweren Schrank, stemmte einen kleinen darauf, stopfte sie voll mit Linnenzeug und rammte sie so fest gegen die Decke, daß sie sattsam Tragkraft haben mußten.

»Jetzt wollen wir, was wir von Speisen haben, hierhereinbringen.« Auch das vollführte er schnell und sicher. Annele sah ihn staunend an, sie konnte sich nicht vom Platze bewegen, sie war wie gelähmt.

Lenz holte sein Gebetbuch und das Anneles, er schlug in beiden das Gleiche auf: Vorbereitung zum Tode. Er legte das eine vor Annele, in dem andern las er; aber bald schaute er auf und sagte: »Du hast recht, daß du nicht hineinsiehst, da steht nichts für uns.« Noch nie waren zwei Menschen auf der Welt, sie sollten, abgeschieden, still einander das Leben verdoppeln, aber sie hielten's nicht aus, dahin, dorthin zieht es, und jetzt sind sie beide gefangen im Vorhof des Todes, konnten nicht miteinander leben, müssen miteinander sterben. »Still!« unterbrach er sie plötzlich. »Hörst du nicht schreien? Mir war's, wie wenn ich was hörte, tiefes Brummen.«

»Ich höre nichts.«

»Wir können kein Feuer machen,« fuhr Lenz fort, »der Rauchfang ist verschüttet, wir ersticken. Gottlob! da ist die Spirituslampe, die meine Mutter selig noch angeschafft hat. Ja, Mutter,« sagte er, zu dem Bilde aufschauend, »du hilfst noch im Tode. So, jetzt zünd an, Annele, spar aber den Spiritus. Wer weiß, wie lange wir da ausharren müssen!«

Annele sah dem ganzen Gebaren des Lenz wie erstarrt zu, das Wort drängte sich ihr oft auf die Lippe: »Bist du denn der Lenz, der sich nicht zu helfen weiß?« Aber sie brachte das Wort nicht hervor, sie war wie ein Scheintoter, der reden will und nicht kann; das Wort kam nicht heraus.

»Wenn aber die Mäuse auch hier hereinkommen,« sagte Annele, als sie den ersten Schluck warmer Milch getrunken.

»Dann schlagen wir sie auch hier tot, und ich stecke sie in den Schnee hinaus, damit der Faulgeruch uns nicht schadet. Ich will gleich die draußen versorgen.«

Annele sah Lenz wieder erstaunt nach. Ist denn das ein andrer Mensch? Ist das der alte, weiche, schlaffe Mensch, der jetzt im Angesicht des Todes so keck zugreift?

Ein gutes, ein anerkennendes Wort kam bis auf die Lippe, aber es kam nicht hervor.

»Schau', der verdammte Rabe hat mich gebissen,« sagte Lenz, mit blutiger Hand eintretend, »und ich kann ihn nicht fassen. Der Kerl ist toll, weil ihn die Schneelawine auch mit fortgerollt hat. Durch den Schornstein ist eine ganze Schneesäule herunter. Schau', jetzt ist's schon zehn Uhr. Jetzt gehen sie drunten im Dorf aus der Kirche. Mit dem letzten Läuten sind wir verschüttet worden. Das war unser Grabgeläute.«

»Ich will aber noch nicht sterben, ich bin noch so jung! Und mein Kind! Das habe ich nie gewußt, das habe ich nie geahnt, daß man sich so in den Tod stellt, wenn man sich zu euch Uhrmachern auf der Einöde niederläßt.«

»Das hat auch nur dein Vater gethan,« erwiderte Lenz; »meine Eltern sind auch dreimal verschneit gewesen, draußen lag der Schnee, daß man zwei, drei Tage nicht aus dem Hause konnte, aber verschüttet waren wir nie. Da hat dein Vater den Wald verthan, das ist sein Werk, er hat mir den Wald überm Kopf niederhauen lassen.«

»Du bist selbst schuld. Er hat dir den Wald geben wollen.«

»Das ist wahr.«

»O lieber Gott, wenn ich nur mit meinem Kind da heraus wäre!« klagte Annele wieder.

»Und an mich denkst du gar nicht?«

Annele that, als ob sie das nicht hörte, und rief nur wieder: »O lieber Gott, warum muß ich so sterben! Was hab' ich denn gethan?«

»Was du gethan hast? Ueber eine Weile wird dir's Gott selber sagen, mein Reden hilft nichts mehr.«

Lenz schwieg, auch Annele schwieg, und doch war ihr, als müßte sie reden, ganz anders, sie konnte nicht.

»O lieber Gott,« begann Lenz, »da sind wir zwei jetzt in den Tod gestellt, und wie sind wir zu einander! O Elend und Jammer! Und wenn wir gerettet werden, da geht das Martern und Peinigen von neuem an. Meine Eltern waren auch dreimal verschneit; meine Mutter hat jeden Winter Vorkehrungen dagegen getroffen und immer großen Vorrat von Salz und Oel gehabt. Von den ersten beiden Malen weiß ich nichts, aber das letzte Mal, das ist mir noch ganz im Gedächtnis. Nie in meinem Leben habe ich gesehen, daß Vater und Mutter einander küßten, und doch haben sie einander im Herzen getragen – getreu und gut; und wie nun der Vater sagt: ›Marie, jetzt sind wir einmal wieder allein auf der Welt, außer der Welt,‹ da habe ich zum erstenmal gesehen, wie die Mutter den Vater küßt, und die drei Tage lang war's, wie wenn man immer in der Ewigkeit wäre, im Paradies. Am Morgen, am Mittag und Abend haben Vater und Mutter miteinander aus dem Gesangbuch gesungen, und jedes Wort, was sie miteinander redeten, war so heilig und so still, ich kann's gar nicht sagen. Meine Mutter sagte einmal: ›Wenn wir nur einsmals so miteinander sterben könnten, so aus der Ruhe heraus in die ewige Ruhe, und ich möchte mit dir in derselben Minute sterben, daß keines dem andern nachjammern muß.‹ Da war's auch, wie der Vater vom Ohm gesprochen hat, und er sagte: ›Wenn ich jetzt sterben müßte, ich habe keinen Feind draußen in der Welt, ich bin niemand was schuldig, nur mein Bruder Peter ist mir feind, und das thut mir weh.‹«

Plötzlich hielt Lenz wieder inne im Erzählen.

Es kratzt etwas an der Hausthür, es wimmert, es bellt. »Was ist das? Ich muß sehen, was das ist,« sagte Lenz.

»Nein, laß, um Gottes willen, laß!« schrie Annele und legte ihre Hand auf seine Schulter, es durchzuckte ihn wie ein Blitz. »Laß, Lenz. Es ist ein Fuchs, der bellt, nein, es ist ein Wolf, so bellen die Wölfe. Ich hab' einmal einen gehört.«

Von den Stimmen im Hause geweckt, schien das draußen lebendiger, es kratzte und bellte mächtiger.

»Nein, das ist kein Wolf, das ist ein Hund. Still, das ist der Büble. Heiliger Gott, der ist's! Wo der Büble ist, ist auch der Ohm. Der ist auch verschüttet.«

»Laß ihn liegen, wenn er's ist, der Schelm verdient's nicht besser.«

»Weib, bist du toll? Jetzt noch kannst du dein Gift nicht lassen?«

»Ich habe mich voll getrunken, bis da herauf an Gift. Ich habe die langen Tage sonst nichts gehabt. Es war meine einzige Speise.«

Lenz ging nach der Küche und kam mit dem Beile wieder.

»Was willst du?« sagte Annele und hielt das Kind vor sich.

»Geh weg! Geh weg!« schrie Lenz, und mit aller Macht hieb er die Thür, die nach außen aufging, in Stücke. Es war in der That Büble, der heulend hereinsprang; schnell aber eilte er wieder zurück und begann im Schnee zu wühlen und immer wieder zu bellen.

Lenz machte sich dran, den Schnee wegzuschaufeln. Es dauerte nicht lange, es kam ein Pelzstück zum Vorschein, Lenz arbeitete behutsam weiter, legte Hacke und Schaufel weg und grub mit den Händen. Er mußte den Schnee in das Haus hereinnehmen, um Raum zu gewinnen. Er fand den Ohm. Er war leblos und so schwer, daß er ihn fast nicht erschleppen konnte. Lenz trug ihn in die Kammer, riß ihm die Kleider vom Leib und brachte ihn ins Bett. Dort rieb er ihn mit aller Macht, bis er aufatmete. »Wo bin ich?« stöhnte er, »wo bin ich?«

»Bei mir, Ohm!«

»Wer hat mich hierher gebracht? Wer hat mir meine Kleider ausgezogen? Wo sind die Kleider? Wo ist mein Pelz? Wo ist meine Weste? Da sind meine Schlüssel drin? Ha! Habt ihr mich endlich?«

»Ohm, haltet euch ruhig, ich will alles suchen. Da, da ist Euer Pelz; da, da ist Eure Weste.«

»Gib sie her; sind die Schlüssel drin? Da, da sind sie. Ha! Büble, bist du auch da?«

»Ja, Ohm, der hat Euch gerettet.«

»Ja, jetzt besinn' ich mich. Wir sind verschüttet. Wie lange ist das schon? War's nicht gestern?«

»Es ist kaum eine Stunde,« sagte Lenz.

»Hörst du nicht Hilfe kommen?«

»Ich höre gar nichts; haltet Euch jetzt ein bißchen ruhig, ich gehe in die andere Stube und will Euch was holen.«

»Laß mir das Licht da, bring' mir etwas Warmes.«

Als er allein war, sagte Petrowitsch vor sich hin: »Geschieht mir recht, geschieht mir ganz recht. Warum bin ich von meinem Weg abgegangen?«

Lenz brachte indes dem Ohm etwas Branntwein. Der schien ihn zu erfrischen, und den Hund hätschelnd, der sich an ihn schmiegte, sagte Petrowitsch: »Laß mich jetzt schlafen. Was ist das? Schreit nicht ein Rabe?«

»Ja, es ist einer vom Schnee durch den Schornstein in die Küche gewirbelt.«

»So? Laß mich schlafen.«


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