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Achtes Kapitel. Die Selige zeigt sich, und eine neue Mutter spricht.

»Er ist nicht daheim,« rief die Frau des Don Bastian dem Lenz zu, als er die Bergwiese heraufkam. »Er ist wahrscheinlich zu dir. Bist du ihm nicht begegnet?«

»Nein. Ist sein Zimmer offen?«

»Ja wohl.«

»Ich geh' ein bißchen hinauf.«

Lenz ging nach der wohlbekannten Stube; als er die Thür öffnete, sank er fast zu Boden. Seine Mutter stand da und lächelte ihn an. Schnell aber besann er sich und dankte im Herzen dem Freunde, der, noch ehe die Erinnerung verwischt, die lieben, guten, innigen Züge festhielt. Ja, ja, so hat sie drein gesehen. Er ist und bleibt meine gute Seele. Weil er nicht hat bei mir sein können, hat er mir derweil etwas Gutes gethan. Ja, und das Beste, das Beste, was du mir hättest thun können.

Lange und unverrückt schaute Lenz in das geliebte Antlitz. Die Augen gingen ihm über, aber er schaute immer wieder hin. So lang' mir ein Aug' offen steht, werde ich dich nun sehen, aber hören – wenn ich dich nur hören könnte! O, wenn man nur auch die Stimme eines Toten sich zurückrufen könnte! . . . Er konnte sich nur schwer von dem Zimmer trennen. Es war ihm so wunderbar, seine Mutter so allein zu lassen, und sie sieht immer drein, und niemand sieht sie an . . .

Erst als es Nacht wurde, nichts mehr zu sehen war, ging er fort, und unterwegs sagte er sich: So, jetzt muß das Trübselige aufhören. Still in mir behalt' ich's, was ich habe, aber die Welt soll nicht sagen, daß ich nicht feststehe. – Am Hause des Doktors hörte er Musik; die Fenster waren offen, und eine Männerstimme sang in kräftigem Bariton fremde Lieder. Die Stimme ist nicht aus dem Thal. Wer mag das sein? Wer' s auch sei, schön ist's.

Jetzt sagte der Fremde: »Nun, Fräulein Berthe, nun singen Sie mir aber auch.«

»Nein, Herr Storr, ich kann jetzt nicht. Wir müssen jetzt zum Abendessen. Später singen wir noch zusammen. Sehen Sie derweil das durch.«

Die Erinnerung an das Abendessen und der Vorsatz, frisch zu leben, schien auf einmal Hunger und Durst in Lenz geweckt zu haben, und er faßte sogleich einen mutigen Gedanken. Du gehst in den Löwen, sagte er sich und schritt sicher und hoch aufgerichtet in das Dorf hinein.

»Ei, guten Abend, Lenz, das ist schön, daß du in deiner Trauer an die guten Freunde denkst! Es ist noch keine Minute, daß ich deinen Namen ausgesprochen hab', und wenn du heute dagewesen wärst, den ganzen Tag ist von dir gesprochen worden, von allen Menschen, die aus und ein gegangen sind. Hast nichts gespürt im rechten Ohr? Ja, guter Lenz, dir wird sich's im Leben bezahlen, was du an deiner Mutter selig gethan hast. Und deine Mutter, du weißt's ja, wir sind die besten Freundinnen gewesen, leider Gottes haben wir uns nur wenig gesehen, sie ist nicht gern fort vom Haus und ich auch nicht – – – Willst ein Schöpple Neuen oder Alten trinken? Trink du Neuen, er ist gar gut und geht nicht so ins Geblüt. Du siehst so erhitzt aus, so rot. Ja, natürlich, wenn man so eine Mutter verloren hat. Ich will nichts sagen, aber . . .« Die Löwenwirtin, die so auf Lenz hineinsprach, winkte mit der Hand, anzeigend, sie könne vor Rührung nicht weiterreden.

Endlich fuhr sie fort, indem sie Glas und Flasche auf den Tisch stellte: »Was wollen wir machen? Wir sind sterbliche Menschen; deine Mutter ist einundsiebzig Jahre alt geworden, das ist ein volles Jahr als Zuwage, und morgen kann ich fort müssen, wie deine Mutter. Mit Gottes Hilfe werde ich meinen Kindern auch einen guten Namen hinterlassen. Freilich, mit deiner Mutter kann sich keins vergleichen. Aber darf ich dir jetzt etwas raten? Ich mein's gewiß gut mit dir.«

»Ja, ja, ich höre gern einen guten Rat.«

»Ich hab' dir nur sagen wollen, du hast so ein weiches Gemüt, laß dich nicht von der Trauer übermannen. Gelt, du nimmst mir's nicht übel?«

»Nein, nein, was kann ich denn da übelnehmen? Im Gegenteil, ich sehe jetzt erst, wie viel gute Freunde meine Mutter gehabt hat, und wie ich sie von ihr erbe.«

»O, du verdienst's schon allein; du bist ja –«

»Ei, Grüß' Gott, Lenz!« wurde die Löwenwirtin plötzlich von einer hellen, jugendlichen Stimme unterbrochen, und eine volle runde Hand bot sich Lenz dar, und das Gesicht, zu dem die Hand gehörte, war ebenso voll. Es war das Löwen-Annele, das mit Licht in die Stube kam, es wurde auf einmal hell, und zur Wirtin gewendet sagte sie: »Mutter, warum habt Ihr mir's nicht sagen lassen, daß der Lenz da ist?«

»Ich darf auch noch mit einem jungen Mann in der Dämmerung reden, du bist's nicht allein . . .« erwiderte die Mutter, eigentümlich lachend. Der Spaß schien Lenz gar nicht zu gefallen, und Annele fuhr fort: »O, guter Lenz, du mußt mir's ansehen, wie ich heute und gestern geweint hab' um deine Mutter. Es liegt mir noch in den Knieen. Solche Menschen sollten gar nicht sterben, und wenn man denkt, daß so viel Gutes, wie sie geschafft, auf einmal nicht mehr da – man könnte sich hintersinnen. Ich kann mir's denken, wie's dir in deiner Stube ist. Du schaust in alle Ecken, du meinst, die Thür müsse aufgehen; es kann gar nicht sein, daß sie dir das anthun kann, daß sie nicht mehr da ist: sie muß hereinkommen. O, lieber Gott! Lenz, den ganzen Tag habe ich mir denken müssen: Der gute Lenz, wenn ich's ihm nur abnehmen könnte! Ich möchte ihm gern ein Stück abnehmen können davon. Du bist heute mittag ganz sicher hier erwartet worden zum Mittagessen. Dein Ohm hat dich erwartet. Und wenn man ihm sonst auf den Glockenschlag anrichten muß, hat er heute gesagt: Annele, wart nur, stell's noch ein wenig hin; mein Lenz wird kommen, er wird doch nicht allein da oben sitzen bleiben. Und der Pilgrim hat wieder gesagt, du kämst zu ihm, du würdest mit ihm essen; du weißt, der Pilgrim ißt mit uns, er ist mir wie ein Bruder. Und an dem hast du einen Freund, o, einen ganz echten. Deinem Ohm, dem muß man allein decken an seinem Tischchen, ich muß mich zu ihm setzen und mit ihm plaudern. Er ist ein gespaßiger Mann, aber gescheit, gescheit wie der helle Satan. Jetzt, morgen mußt du zum Essen kommen. Sag, was ißt du denn gern?«

»Ich hab' zu gar nichts rechten Appetit. Mir wär's am liebsten, wenn ich jetzt acht Tage immer schlafen könnte, immer nur schlafen und nichts von mir wissen.«

»Das wird sich schon ändern. – Ja, ich komme gleich!« rief Annele nach einem andern Tisch, wo eben Fuhrleute angekommen waren. Sie brachte den Fuhrleuten schnell Essen und Trinken und stellte sich wieder zu Lenz hinter dessen Stuhl. Während sie den andern Gästen Antwort gab, hielt sie die Hand auf die Stuhllehne des Lenz, und diesen durchzuckte es gar wundersam, als ob ein elektrischer Strom durch den ganzen Körper ginge. Jetzt aber brachte ihm das Essen der andern wieder seinen eigenen Hunger ins Gedächtnis, und flink wie der Blitz war Annele in der Küche und wieder da und breitete feines Linnen vor Lenz aus und stellte ihm das Besteck so appetitlich hin und sagte mit so herzlicher Stimme: »Gesegn' dir's Gott!« daß es Lenz gar wohl mundete.

Ja, so flink und nett wie Annele gibt's doch nicht leicht mehr ein Mädchen. Schade, daß sie die ganze Welt am Narrenseil herumführt, sie weiß Schlag auf Schlag zu antworten und versteht Gespräche aufzubringen und in Gang zu halten, das bricht nicht ab.

Lenz hatte den ersten Schoppen ausgetrunken, sie brachte schnell einen neuen und schenkte ihm ein.

»Nicht wahr, du rauchst nicht?«

»Ich muß es grad' nicht, aber ich kann's.«

»Ja, ich hol' dir eine von den Zigarren, die mein Vater raucht. Die Gäste kriegen sonst keine davon.« Sie brachte eine Zigarre, zündete ein Papierchen am Lichte an und hielt es Lenz hin.

Indes trat der Löwenwirt ein; eine große, breite, massige Gestalt, ehrwürdig anzuschauen, denn er hatte schneeweißes, spärliches Haar und drauf ein kleines, schwarzes Samtkäppchen, fast wie ein Geistlicher. Dabei trug er eine silberne Brille mit großen, runden Gläsern; er brauchte die Brille nur zum Lesen und hatte sie meist auf die Stirn geschoben, und es war, als ob sein ruhiger Verstand aus der Stirn schaute, und ruhig war er, bis zum Majestätischen ruhig, und für sehr verständig galt er. Er sprach zwar sehr wenig, aber muß ein Mann nicht sehr verständig sein, der es so weit gebracht hat, wie der Löwenwirt? Das Gesicht war rötlich und, wie gesagt, ehrfurchtgebietend. Nur der Mund, der sich meist so verzog, als wenn er etwas behaglich schlürfte, war nicht ganz mit der Ehrfurcht zu vereinbaren. Er war ein ernster und schweigsamer Mann, als müßte er die Redseligkeit seiner Frau und teilweise auch seiner Tochter durch sein Schweigen ins Gleichgewicht bringen. Wenn die Frau gar viel Worte machte und übermäßig schön that, schüttelte er bisweilen den Kopf, wie wenn er sagen wollte: Ein Ehrenmann mag das nicht. Und ein Ehrenmann war der Löwenwirt, weit und breit bekannt und der erste Geschäftsmann, ein sogenannter Packer, denn er kaufte den Uhrmachern die Uhren ab und versandte sie nach allen Weltgegenden.

»Guten Abend, Lenz,« sagte der Löwenwirt mit breiter Stimme, als ob darin eine ganze lange Rede wäre; und als Lenz ehrerbietig aufstand, gab er ihm die Hand und sagte: »Bleib nur sitzen und mach keine Umständ', du bist im Wirtshaus.« Dann nickte er still, das sollte so viel heißen: Ich habe Respekt vor dir, und das nötige Beileid, weißt du, ist bei mir sicher wie eine dreifache Hypothek. Dann ging er an seinen Tisch und las die Zeitungen. Annele holte sich ihren Strickstrumpf und setzte sich zu Lenz, indem sie dabei höflich sagte: »Mit Erlaubnis.« Sie sprach viel und gewandt; und es ließ sich nicht sagen, ob sie mehr gescheit oder mehr gut ist. Sie ist eigentlich beides zusammen und gewürfelt wie nur eine. Als Lenz endlich bezahlte, sagte sie: »Siehst du, das thut mir leid, daß ich Geld von dir nehmen muß. Es wär' mir viel lieber gewesen, du wärst unser Gast gewesen. Nun gut' Nacht! Und gräm dir dein Herz nicht ab. Ich wollt', ich könnt' dir beistehen. Ei, da hätt' ich fast vergessen: bis wann geht denn dein schönes, großes Orgelwerk, von dem so viel die Rede ist – das soll ja das Schönste sein, was hierzulande gemacht ist – bis wann geht's denn nach Rußland?«

»Es kann jeden Tag Nachricht kommen, daß es abgeholt wird.«

»Darf ich auch noch mit meiner Mutter hinaufkommen und es sehen und hören?«

»Es wird mir eine Ehre sein. Komm du nur, wann du willst«

»Nun gut' Nacht! Und schlaf recht wohl und grüß' mir auch die Franzl, und wenn sie was braucht, soll sie nur zu uns kommen.«

»Dank' schön, will's ausrichten.« – –

Es ist doch eine starke Viertelstunde bis zum Hause des Lenz und geht steil bergan; heute war er schnell daheim, er wußte nicht, wie. Als er aber wieder allein war in seiner Stube, ward er traurig. Er schaute noch lange hinaus in die Sommernacht, er wußte nicht, was er dachte. Man sieht und hört nichts von der Menschenwelt, nur weit in der Ferne am jenseitigen Berge steht ein einsames Haus, dort wohnt ein Kettenschmied, jetzt blinkt ein Licht auf, verschwindet aber bald. Die Menschen, die kein Leid im Herzen haben, können schlafen.

Die Sägmühle, die nicht weit vom Hause des Kettenschmiedes ist, hört man jetzt in der Stille der Nacht bei einer Luftströmung hastig arbeiten. Die Sterne über dem dunkeln Waldrande des Berges glänzen hell; dort, wo der Mond hinter dem Bergwalde hinabgegangen, ist noch ein bläulich lichter Kreis, und die kleinen Wolken am Himmel sind sanft durchleuchtet.

Lenz hielt sich die brennende Stirn, und da klopften die Pulse. Die ganze Welt geht mit ihm herum. Das thut gewiß der junge Wein. Du darfst abends keinen Wein trinken. Aber ein gescheites und herzliches Mädchen ist das Annele. – Sei doch kein Narr, was willst du davon? – Gut' Nacht! Schlaf recht wohl! wiederholte er sich, und fand in der That heute einen festen Schlaf.


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