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Viertes Kapitel. Jeder vor seiner Thür.

Der milde Abend nach heißem Tage erlabte die Menschen, die Familien saßen beisammen auf der Bank vor dem Hause, die meisten aber auf dem steinernen Geländer am Brückle; denn wo eine Brücke in einem Orte oder ihm nahe ist, da bildet sich auf ihr der Sammelpunkt für Abendruhe und Abendgespräche. Hier muß nicht nur alles vorbei, was von diesseits und jenseits kommt, das Gemurmel des Baches drunten hilft auch zu fortgesetztem Gespräch. Drunten im Bach lagen verschiedene Hölzer zum Auslaugen, damit die Pflanzensäfte zwischen den Holzfasern herauskommen und dann das Holz beim Verarbeiten zu Uhrengestellen nicht schwinde oder sich werfe; die Menschen oben auf dem Brückle verstanden aber auch das Auslaugen, und zwar in mannigfachster Weise. Man sprach – und das ist viel – noch am Abend von der verstorbenen Lenzin, aber noch mehr davon, daß der Lenz bald heiraten müsse. Die Frauen lobten den Lenz gar sehr, und manches Lob galt auch den Männern zur Mahnung, daß sie sich auch so rühmenswert benehmen sollten; denn wo man das Rechte finde, verstehe man recht wohl, es zu erkennen. Die Männer aber sagten: jawohl, er ist ein braver Mensch, aber – zu weichmütig ist er doch. Die Mädchen – diejenigen ausgenommen, die bereits erklärte Geliebte hatten – schwiegen, zumal da allgemein die Vermutung aufgestellt wurde, Lenz werde eine von des Doktors Töchtern heiraten; ja, einige behaupteten sogar, die Sache sei schon abgemacht und werde alsbald nach der Trauer öffentlich verkündet werden. Plötzlich, man wußte nicht, woher es kam, verbreitete sich von Thür zu Thür und besonders auf dem Brückle das Gerücht, Lenz habe heut, am Begräbnistag seiner Mutter, unausgesetzt gearbeitet. Die Frauen jammerten über den Geiz, der in einem so guten Menschen sein könne; die Männer dagegen suchten ihn zu verteidigen. Bald aber ging das Gespräch auf Wetter und Welthändel über, und das ist ergiebig, denn man weiß weder vom einen noch vom andern, was daraus wird. Es plaudert sich indes behaglich, bis man einander eine ruhsame Nacht wünscht und die Sterne am Himmel und die Händel auf der Welt laufen läßt, wie es ihnen eben gesetzt ist.

Am besten ruht sich's doch thalabwärts vor dem schönen, im oberdeutschen Bahnhäuschenstil gebauten Hause, in dem schönen Garten, wo es jetzt in der Nacht wunderbar duftet. Es ist aber kein Wunder dabei, denn hier blühen und wachsen allerlei Apothekerpflanzen. Wir sind im Garten des Doktors, der zugleich auch eine Notapotheke hat. Der Doktor ist ein Kind des Dorfes, Sohn eines Uhrmachers; seine Frau ist aus der Residenz, aber sie ist mit ihrem Manne, der wieder ganz eingewurzelt ist im heimischen Thale, auch hier in vollster Weise daheim geworden, und die alte Mutter des Doktors – man nennt sie die alte Schultheißin – die noch im Hause lebt, sagt oft, sie meine, ihre Schwiegertochter müsse schon einmal auf der Welt gewesen sein, und zwar als Schwarzwälder Kind, so gut und genau wisse sie alles und sei mit allem daheim, und es sei besonders gut von ihr, daß sie lieber Frau Schultheißin heiße als Frau Doktorin. Denn der Doktor ist auch zugleich Schultheiß. Er hat vier Kinder. Der einzige Sohn hat durchaus nicht, wie man sonst meint, wiederum studieren müssen; er hat vielmehr die Uhrmacherei erlernt und ist in der Fremde in der französischen Schweiz. Die drei Töchter sind wohl die vornehmsten im Orte, stehen aber an Fleiß niemand nach. Amanda, die älteste, ist eigentlich Apothekergehilfe des Vaters, und ihr Amt ist es zugleich, den Garten, in dem man viele Heilkräuter zieht, in Ordnung zu halten. Bertha und Minna sind thätig in der Wirtschaft, aber auch emsig, die feinsten Strohgeflechte zu fertigen, die nach Italien wandern und von dort wieder als Florentiner Hüte zurückkommen.

Heute abend ist noch ein Fremder bei der Familie, die im Garten sitzt, es ist ein junger Maschinenbauer, im Dorfe nur kurzweg der Techniker genannt – ein Bruder von den beiden Schwiegersöhnen des Löwenwirts, von denen der eine ein reicher Holzhändler in der nahen Amtsstadt, der andre, im untern Schwarzwald, Besitzer einer aus der Nachbarschaft viel besuchten Badeanstalt und eines ansehnlichen Landgutes ist. Man sagt, daß der Techniker die noch einzig übrige Tochter des Löwenwirts, Annele, heiraten werde.

»Das ist brav, das gefällt mir, Herr Storr,« sagte der Doktor zu dem Techniker – man hört an der Stimme des Doktors, daß er ein wohlbeleibter Mann sein muß. – »Man muß sich nicht an Berg und Thal erfreuen, unbekümmert um Leben und Treiben der Menschen, die darin wohnen. Die heutige Welt hat viel zu viel von der oberflächlichen unruhigen Reisestimmung. Ich meinesteils spüre gar keine Lust, mich draußen herumzutreiben; ich fühle mich wohl und vollauf begnügt in meinem engen Kreise. Ich habe sogar meine alte Liebhaberei, das Pflanzensammeln, aufgeben müssen oder eigentlich gern aufgegeben, ich bin seitdem den Menschen viel näher. Jeder muß sich in seiner Art in die Teilung der Arbeit fügen; meine Landsleute wollen sich noch nicht drein finden, und das ist der Punkt, woran unsre heimische Industrie krankt.«

»Darf ich bitten, daß Sie mir das näher erklären.«

»Die Sache ist einfach. Unsre Uhrmacherei ist wie alle Hausindustrie ein natürliches Ergebnis von der geringen Ertragsfähigkeit unsres Landstriches und der Unteilbarkeit der geschlossenen Bauerngüter; die jüngeren Söhne und überhaupt alles, was nur sein Arbeitskapital besitzt, muß einen neuen Wert schaffen, um dafür Brot zu gewinnen. Dazu kommt eine natürliche Begabung, eine genaue und stetige Achtsamkeit, die sich unter uns findet. Unsre Wälder liefern das beste Holz zu Gehäus und Getrieb, und solange noch die alten sogenannten Jockelesuhren guten Absatz fanden, machte ein Uhrmacher – in Gemeinschaft mit der Frau und den Kindern, die das Zifferblatt anmalten – eine Uhr in seinem Hause ganz fertig. Je mehr sich nun aber die Metalluhren einbürgerten und den alten Meister Jockele verdrängten, um so mehr bereitete sich eine Teilung der Arbeit vor. Auch macht man uns in Frankreich, in Amerika und besonders in Sachsen bereits starke Konkurrenz. Wir müssen mehr zu den Stockuhren übergehen, die, wie Sie wissen, nicht durch Gewichte, sondern durch Federkraft bewegt werden. Zu allem dem wäre ein fester Zusammenhalt vonnöten. Die alten Hauensteiner da drüben hatten vorzeiten einen Einungsmeister, und solch eine Art Einungsmeister thut wiederum not; was da zerstreut auf den Bergen lebt, muß sich in eine feste Genossenschaft zusammenfinden, einander in die Hände arbeiten. Das dringt aber bei uns schwer durch. In der Schweiz geht eine Taschenuhr, bis sie fertig ist, durch hundertundzwanzig Hände. Eben die Stetigkeit, die gewiß eine Tugend ist, läßt meine lieben Landsleute schwer zu etwas anderm kommen. Nur durch Genügsamkeit und eine Arbeitslust ohnegleichen ist unsre Industrie bis jetzt möglich gewesen. Es läßt sich da schwer eingreifen; das Stubenhockerische hat bei manchem eine eigene Art feinfühliger Empfindlichkeit erzeugt; sie müssen vorsichtig behandelt werden, ein ungeschickter Griff kann ihr Inneres verletzen, wie ein Uhrwerk verletzt wird, und schlimm ist's, wenn die Kette reißt.«

»Ich meine,« entgegnete der junge Mann, »man müßte zunächst auch darauf bedacht sein, den hieländischen Uhren eine gefälligere Form zu geben, so daß sie zugleich auch mehr Zimmerschmuck würden.«

»Das wäre gut,« sagte Bertha, die zweite Tochter. »Ich war ein Jahr lang bei der Tante in der Hauptstadt, und wo ich hinkam, traf ich meine Landsmännin, eine Schwarzwälder Uhr, als Aschenbrödel in der Küche. In der guten Stube prangten immer die französischen Pendulen mit allerlei Gold und Alabaster, und sie waren meist unaufgezogen, oder man sagte, sie gingen schlecht; meine Landsmännin aber in der Küche war fleißig und ordentlich.«

»Und das Aschenbrödel müßte erlöst werden,« sagte der junge Mann, »aber sie müßte im Prunkgemach ihre Tugend behalten und richtig gehen.«

Der Doktor schien auf das Manöver der beiden jungen Leute nicht eingehen zu wollen, denn er begann nun dem Techniker immer mehr von den Sonderheiten der hieländischen Einwohnerschaft zu erzählen; er war lange genug in der Fremde gewesen, um freien Blick dafür zu haben, und war doch wieder eingelebt genug in die Heimat, um die verborgenen Eigenschaften seiner Landsleute zu kennen und zu würdigen; er sprach Hochdeutsch, aber ganz in der Dialektbetonung des Landes.

»Guten Abend beisammen,« wurde die Gesellschaft von einem Vorübergehenden angesprochen.

»Ah, du bist's, Pilgrim? Wart ein bißchen,« rief der Doktor. Der Grüßende blieb am Zaune stehen, und der Doktor fragte: »Wie geht's dem Lenz?«

»Ich weiß nicht. Hab' ihn heute seit dem Begräbnis nicht gesehen. Ich komme aus dem Löwen, wo ich mich dummerweise wegen seiner erzürnt habe.«

»So? was gibt's denn?«

»Da erzählen sie, der Lenz habe heute den ganzen Mittag gearbeitet, und schimpfen auf ihn und schelten ihn geizig. Der Lenz geizig? Es ist zum Närrischwerden!«

»Laß dich's nicht verdrießen, du und ich und noch viele wissen, daß der Lenz ein rechtschaffener, untadeliger Mensch ist. War der Petrowitsch nicht heute beim Lenz?«

»Nein. Ich hab's auch geglaubt und bin deswegen nicht zu ihm gegangen. Herr Doktor, ich wollte Sie bitten, wenn Sie morgen Zeit haben, kommen Sie auf einen Sprung zu mir. Ich möchte Ihnen was zeigen, was ich gemacht habe.«

»Gut, ich komme.«

»Gut' Nacht beisammen.«

»Gut' Nacht, Pilgrim. Schlaf wohl.«

Der Wanderer ging davon.

»Schick mir morgen meine Lieder zurück!« rief ihm Bertha nach.

»Ich bringe sie,« antwortete Pilgrim, und bald hörte man ihn in der Ferne schön und kunstreich pfeifen.

»Da haben Sie gleich einen besonderen Menschen,« sagte der Doktor zu dem Techniker. »Das ist ein Schildermaler, und ist der beste Freund des Lenz, dessen Mutter man heute begraben hat. Dieser Pilgrim ist ein steckengebliebenes Talent und hat eine merkwürdige Lebensgeschichte.«

»Bitte, erzählen Sie.«

»Ein andermal, wenn wir allein sind.«

»Nein, wir hören's nochmal gern,« riefen Frau und Kinder, und der Doktor begann:


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