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Neunundzwanzigstes Kapitel. Eine andere Welt.

»Guten Abend, Herr Lenz!« wurde der dumpf dahin Wandernde auf dem Wege angerufen. Lenz erschrak ins Herz hinein. Wer nennt ihn »Herr« Lenz?

Ein Schwanenschlitten hielt still, der Techniker schlug den Pelz vom Gesicht zurück und sagte: »Es ist noch Platz, wollen Sie nicht mit mir fahren?«

Er stieg ab, zog den Pelz aus und sagte: »Ziehen Sie den über, Sie haben sich warm gegangen; ich nehme die Pferdedecke, die ist für mich vollkommen genügend.«

Es half keine Widerrede. Lenz saß, in den Pelz gehüllt, neben dem Techniker, die Pferde griffen tapfer aus; es war ein behagliches, lustig klingendes Fahren, fast wie ein Fliegen durch die seltsam milde Nacht, und jetzt in seiner Armut und Verlassenheit dachte Lenz: Annele hat doch wohl recht gehabt. Man sollte es dahin bringen, daß man Kutschen fährt. – Der Gedanke machte ihm heiß: es war, als ob heute ein tückischer Geist alle Veranstaltungen getroffen hätte, um Lenz vor die Augen zu führen, daß sein Leben ein verfehltes sei, und böse Gelüste in ihm zu wecken.

Der Techniker war gesprächsam, und besonders gern erzählte er, wie sehr es ihn freue, daß Pilgrim sich mit ihm befreunde. Pilgrim habe einen feinen Farbensinn, aber es fehle ihm an strenger Zeichnung; er selber habe ein Jahr die Akademie besucht, aber zeitig genug eingesehen, daß er zu wenig Talent habe und ein praktischer Beruf für ihn passender sei. Jetzt nehme er in Freistunden das Malen wieder auf; Pilgrim helfe ihm in der Farbengebung und er dagegen jenem in der Zeichnung: sie hofften miteinander weiter zu kommen, besonders aber machten sie neue Muster für Tischler, Drechsler und Holzbildhauer, und auch für Uhrenschilder hätten sie schon allerlei Entwürfe; das werde hoffentlich der Uhrmacherei sehr zu statten kommen. Pilgrim habe sehr viel Erfindungsgabe und sei ganz glücklich, daß sein alter Lieblingsplan nun doch noch zur Ausführung komme.

Lenz hörte das alles wie im Traum. Was ist denn das? Gibt es denn noch Menschen, die sich mit solchen Sachen abgeben und sich damit freuen, einander weiter zu bringen? Lenz sprach sehr wenig, aber das Fahren that ihm gar wohl. So fortgezogen werden, ist doch besser, als mühsam über Berg und Thal wandern.

Zum erstenmal in seinem Leben empfand Lenz etwas wie Neid.

Am Hause des Doktors mußte er absteigen, und die freundlichen Menschen ließen nicht ab, er mußte eintreten.

O, wie wohl! Gibt's denn noch so schöne ruhige Häuser auf der Welt, wo es so gut warm ist und blühende Hyacinthen aus dem Doppelfenster duften? Und die Menschen sind so freundlich und still, und man merkt es an allem, hier gibt es kein lautes, gehässiges Wort, und wie sie so beisammen sitzen, lauter getreue, warme Herzen, das macht wärmer als der beste Ofen.

Lenz mußte Thee trinken. Amanda reichte ihm die Tasse und sagte: »Das freut mich, daß Sie auch einmal bei uns sind. Wie geht's dem Annele? Wenn ich wüßte, daß es Ihrer Frau recht wäre, möchte ich sie einmal besuchen.«

»Ich bin seit heute früh um Viere – ich meine, es wären schon acht Tage – nicht daheim gewesen; ich glaube, es geht ihr gut; ich werde es Ihnen sagen lassen, wenn Sie uns einmal besuchen sollen.« So sagte Lenz laut und schaute dabei um und um, als suche er etwas. Und wer weiß, welcherlei Gedanken ihm durch die Seele zogen!

Wie ganz anders wäre es, wenn er um das Mädchen hier geworben hätte! Pilgrim hatte ja fest gesagt, sie hätte ihn nicht abgewiesen. Da säße er jetzt hier als Haussohn und hätte einen Anhalt in der Welt, und was für einen! und seine Frau würde ihn ehren und hochhalten, und alle die guten Menschen hier wären seine Angehörigen.

Lenz erstickte fast an dem ersten Schluck Thee, den er nahm.

Die alte Schultheißin – die Mutter des Doktors – die am Theetisch ihre gebrannte Mehlsuppe aß, hatte ihre besondere Freude an Lenz. Er mußte sich zu ihr setzen und, da sie harthörig war, laut sprechen. Sie war die Gespielin seiner Mutter gewesen und erzählte viel von ihr, wie lustig sie in der Jugend miteinander gewesen seien, besonders auf den Schlittenfahrten zu Fastnacht, die jetzt auch abgekommen sind; da habe die Marie die schönsten Späße angegeben. Die alte Schultheißin fragte auch nach Franzl, und Lenz erzählte, wie er sie getroffen – von der Geldanerbietung schwieg er natürlich – und auch von den Wohlthaten, die des Vogtsbauern Kathrine übe, und wie sie ein Kind annehmen wolle; alles das erzählte er gut.

Die ganze Gesellschaft hörte ihm still und aufmerksam zu, und Lenz sah ganz erstaunt drein, daß er so ohne Widerrede, ohne »Ach, was gehen mich die Sachen an!« erzählen durfte.

Die alte Schultheißin bat ihn, er solle doch öfter kommen und seine Frau mitbringen. »Und deine Frau soll ja so gescheit und gut sein; grüß mir sie und auch deine Kinder.« Lenz war es gar sonderbar zu Mute, als er das alles so an sich hinreden lassen und dankbar annehmen mußte. Die Alte sprach so herzlich, sie spottete seiner gewiß nicht. In diesem Hause wird gewiß nur Gutes von den Menschen geredet, und daher kommt's, daß die Alte nur das Gute hört.

»Gerade, wie du gekommen bist,« sagte die alte Schultheißin, »haben wir von deinem Vater gesprochen und auch von meinem Mann selig. Es war ein Uhrenhändler da aus dem Preußischen, und der sagt, die Uhren werden nicht mehr so ordentlich gemacht wie damals, wo dein Vater und mein Mann noch gelebt haben; sie gehen nicht mehr so genau. Im Gegenteil, sage ich, die Verstorbenen in allen Ehren, die Uhren sind jetzt gewiß noch so genau wie in alten Zeiten, aber die Menschen waren damals noch nicht so genau wie jetzt. Das ist's. Habe ich recht oder nicht, Lenz? Du bist ein ehrlicher Mensch, habe ich recht oder nicht?«

Lenz gab ihr vollkommen recht, und wie besonders gut es von ihr sei, daß sie nicht die alte Zeit auf Kosten der neuen herausstreichen lasse.

Der Techniker erklärte die strengere Genauigkeit der neueren Zeit aus Eisenbahnen und Telegraphen.

Da nun das Gespräch allgemeiner wurde, nahm der Doktor den Lenz beiseite und sagte: »Lenz, du wirst mir's nicht übel nehmen, wenn ich dir was sage.« Lenz erschrak ins Herz hinein. So will also der Doktor über den Verfall in seinem Hause reden.

»Was meint Ihr?« konnte er kaum hervorbringen.

»Ich wollte dir's nur sagen, wenn dir's vielleicht nicht unangenehm wäre, und ich meine, du solltest es thun – ach, was brauch' ich so lange Einleitungen! Ich meine, du solltest als Werkführer in die Stockuhrenfabrik meines Sohnes und meines Schwiegersohnes eintreten. Sie wollen jetzt weiter gehen zur Stockuhrenfabrikation und können dich brauchen und werden dir auch mit der Zeit einen gewissen Anteil außer deinem Lohne geben.«

Das war wie eine Hand vom Himmel, die herunterreichte und ihn faßte. Lenz erwiderte, und es wurde ihm fieberheiß dabei: »Jawohl, jawohl, das kann ich. Aber, Herr Doktor, Sie wissen, ich habe daran zu arbeiten versucht, um alle Uhrmacher unserer Gegend zu einer Einung zu bringen. Die Sache ist mir bei anderem, was mich bedrängt hat, aus der Hand gefallen. Nun möchte ich nur so in die Fabrik eintreten, wenn Ihre beiden Söhne mit mir einverstanden sind, daß auch die Fabrik zur Einung gehöre, vielleicht später ganz Eigentum der Einung werde.«

»Das ist ganz unser Vorhaben, und es freut mich rechtschaffen von dir, daß du in allem noch immer auch an die anderen denkst.«

»Gut denn; und nun bitte ich noch um eins: redet nichts davon, bis ich« – – – Lenz stockte.

»Nun, bis wann?«

»Bis ich mit meiner Frau darüber gesprochen habe, sie hat ihre Eigenheiten.«

»Kenne sie wohl; sie ist auch gut, wenn es ihr Stolz zugibt. Den Stolz muß man vor allem bei ihr in Ehren halten.«

Lenz schaute nieder; der Doktor gab ihm eine Lehre, und er gab sie ihm in guter Meinung und in guter Manier. So ist's recht, so kann man alles annehmen.

Seine Gedanken gingen aber schnell wieder auf die Fabrik, und er sagte: »Herr Doktor, ich möchte mir noch eine Frage erlauben.«

»Immer zu, sei nur nicht so zaghaft.«

»Wer tritt vorerst sonst noch ein von hiesigen Meistern?«

»Wir haben noch mit niemand geredet. Doch, ja, der Pröbler soll auch eintreten, natürlich in untergeordneter Stellung, nicht so, wie du; aber er ist doch ein erfinderischer Kopf und hat manches ausfindig gemacht, was sich praktisch ausführen läßt. Es ist dem armen Teufel zu gönnen, daß er noch auf seine alten Tage zu etwas kommt, er ist ohnedies fast ganz närrisch, seitdem da bei der Versteigerung sein Geheimnis verkauft worden ist.«

Lenz schwieg geraume Zeit, dann erzählte er, wie er den Pröbler gefunden, und schloß: »Ich habe aber noch eine Bitte, Herr Doktor. Ich kann mit meinem Ohm nicht reden. Ihr seid der erste in der Gegend, und wer Euch was abschlagen kann, der hat kein Herz im Leib. Herr Doktor, redet mit meinem Ohm, daß er mir hilft. – Ich glaube nicht – je mehr ich mir's überlege –, daß meine Frau das mit der Fabrik zugibt, und Ihr habt ja selbst gesagt: man muß ihren Stolz in Ehren halten.«

»Gut, ich gehe sogleich; willst du noch hier bleiben oder mich bis ins Dorf begleiten?«

»Nein, ich gehe mit.«

Man wünschte ihm von allen Seiten herzlich gute Nacht. Jedes gab ihm die Hand, und die alte Schultheißin legte noch die Linke wie segnend auf seine Hand, als sie ihm die Rechte reichte.

Lenz ging mit dem Doktor; sie kamen am Hause des Pilgrim vorüber, man hörte ihn pfeifen und auf seiner Guitarre klimpern. Der treue Kamerad trug doch das Schicksal des Lenz teilnehmend in der Seele, aber teilnehmen ist doch noch anders, als selber und ganz darin sein; das eigene Leben macht seine Rechte geltend.

Da, wo der Weg bergan geht, trennte sich Lenz vom Doktor, der nur noch sagte: »Warte daheim, ich komme noch zu dir. Es ist heut abend wunderbar warm! Wir bekommen starkes Tauwetter.« – –

Ich habe die Hilfe draußen gesucht und soll sie doch nur daheim finden. Es gibt noch gute Menschen auf der Welt, und sie sind weit besser als du – so sagte sich Lenz, als er bergauf heimwärts ging.


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