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Vierhundertundfünfundneunzigste Nacht.

Geschichte des guten, ungerechterweise eingekerkerten Wesirs.

Ein Wesir von anerkannter Treue und Rechtschaffenheit war von seinen Feinden verleumdet und ohne weitere Untersuchung in einen finstern Kerker gebracht worden, in welchem er zu seiner täglichen Nahrung nichts als Brot und Wasser erhielt. In diesem elenden Zustande blieb er sieben Jahre, nach deren Verlaufe der Sultan, sein Herr, der seiner Gewohnheit nach verkleidet in der Stadt umherging, zufällig eines Tages in der Tracht eines Derwisches bei dem Hause seines unglücklichen Ministers vorbeiging. Zu seinem Erstaunen sah er es offen und eine Menge von Dienern damit beschäftigt, die Zimmer zu reinigen und zum Empfange des Eigentümers zuzubereiten, der ihnen, wie sie erzählten, aus seinem Gefängnisse durch einen Boten hatte sagen lassen, sie möchten alles in Ordnung bringen, denn er würde an diesem Tage die Gunst des Sultans wiedergewinnen und heimkehren. Der Sultan, weit entfernt, an die Freilassung des Wesirs zu denken, hatte ihn fast aus dem Gedächtnisse verloren und war nicht wenig über die Äußerung der Diener erstaunt. Er meinte jedoch, die lange Einkerkerung könnte dem Gefangenen wohl das Gehirn verrückt haben, und er hätte in seinem Wahnsinne von seiner Befreiung geträumt. Er beschloß daher, in seiner Verkleidung das Gefängnis zu besuchen, und bat, nachdem er, mit Brot und Kuchen reichlich versehen, dort angelangt war, den Kerkermeister um die Erlaubnis zur Erfüllung eines Gelübdes, den mitgebrachten Vorrat unter die Gefangenen verteilen zu dürfen. Sie wurde ihm gewährt, und er durfte die verschiedenen Kerker besuchen. Endlich kam er auch in den des Wesirs, welcher eben seine Andacht verrichtete und, von dem vermeintlichen Derwisch darin unterbrochen, diesen befragte, was er wollte. »Ich komme,« sagte dieser, »um Euch zu dem, was ich vernommen habe, Glück zu wünschen; denn ob Ihr mich gleich nicht kennt, so habe ich doch den Himmel oft um Eure Befreiung angefleht, und Eure Diener haben mir gesagt, daß Ihr heute frei zu werden erwartet. Ich glaube jedoch nicht, daß der Sultan deshalb einen Befehl erteilt hat.« – »Das mag wahr sein, mitleidiger Derwisch,« versetzte der Wesir; »aber glaube mir, bevor es Nacht wird, werde ich befreit sein und mein Amt wieder antreten.« – »Ich wünsche, daß es so kommen möge: aber auf welchen Grund baut Ihr eine Erwartung, deren Erfüllung mir so unwahrscheinlich vorkommt?« – »Setzt Euch, guter Derwisch, und ich will Euch die Sache erklären. Wisset, daß die Erfahrung mich belehrt hat, wie man auf dem Gipfel des Glücks immer einen Unfall und auf der untersten Stufe des Unglücks immer eine Rettung zu erwarten hat. Zu der Zeit, als ich noch Wesir war, das Volk mich wegen meiner Milde liebte und der Sultan, dessen Ehre und Vorteil immer der Gegenstand meiner Sorge waren, und für den ich selbst in diesem finstern Kerker nicht zu beten aufhörte, mich auszeichnete, genoß ich eines Abends, mit einigen Freunden auf einer Barke umherfahrend, der frischen Luft. Wir tranken dabei Kaffee, und die Tasse, welche ich in meiner Hand hielt, und welche aus einem einzigen Smaragd von unermeßlichem Werte gemacht und mir sehr lieb war, entschlüpfte mir und fiel ins Wasser, worauf ich die Barke halten ließ und nach einem Taucher sandte, dem ich eine große Belohnung versprach, wenn er mir die Tasse wiederbrächte. Er entkleidete sich, bat mich, ihm die Stelle zu zeigen, wo sie ins Wasser gefallen war, und ich, der ich gerade einen prächtigen Demantring in der Hand hielt, warf ihn in der Zerstreuung in den Fluß. Als ich mich über meine Gedankenlosigkeit laut ausschalt, fuhr der Taucher schnell in das Wasser hinab und kam in zwei Minuten wieder mit der Tasse, in welcher auch der Ring lag, zum Vorscheine. Ich belohnte ihn reichlich und freute mich über die Wiedererlangung meiner Juwelen, als mich plötzlich die Besorgnis überfiel, einem solchen Glücke müsse notwendig ein Unglück folgen. Diese Betrachtung machte mich schwermütig, und ich kehrte mit ahnungsvoller Traurigkeit nach Hause zurück, und nicht ohne Grund: denn noch an demselben Abend klagten mich meine Feinde bei dem Sultan fälschlich an, der ihnen glaubte und mich am folgenden Morgen in diesen Kerker sperren ließ, in welchem ich nun sieben Jahre bei Brot und Wasser gesessen habe. Gott hat mir jedoch Ergebung in seinen Willen verliehen, und es hat sich heute etwas ereignet, was mir die Überzeugung einflößt, daß ich noch vor Abend in Freiheit kommen und die Gunst des Sultans wiedererlangen werde. Ihr sollt wissen, ehrwürdiger Derwisch, daß ich heute morgen ein unwiderstehliches Gelüste fühlte, etwas Fleisch zu essen, und den Kerkermeister bat, mein Gelüst zu befriedigen. Der Mann, durch mein Geschenk bewogen, brachte mir das Gewünschte, sagte mir aber, es wäre das erste und das letzte Mal, daß er den erhaltenen Befehlen zuwiderhandelte. Ich freute mich auf ein köstliches Gericht, als ich jedoch vor dem Essen meine gewohnte Abwaschung verrichtete, kam eine gewaltige Ratte aus ihrem Loche und bemächtigte sich der auf dem Boden stehenden Speise. Ich wurde beinahe ohnmächtig vor Schrecken und konnte mich der Tränen nicht enthalten; als ich mich aber wieder faßte und zu trösten suchte, kehrte die Hoffnung in mein Gemüt zurück, und ich stellte die Betrachtung an, daß, gleichwie die Ungnade und die Einkerkerung unmittelbar auf die Wiedererlangung meines Bechers und Ringes gefolgt wären, nun aus diesen Unfall, den größten, der mir im Kerker begegnen konnte, ein Glücksfall für mich zu hoffen wäre. In dieser Überzeugung beredete ich den Kerkermeister zu der Erlaubnis, meine Leute wissen zu lassen, daß sie mein Haus zu meiner Rückkehr in dasselbe bereithalten sollten.«

Der verkleidete Sultan fühlte bei jedem Worte, das der Wesir sprach, mehr und mehr, wie ungerecht er gegen ihn gehandelt, und hatte alle Mühe, seine Derwischrolle fortzuspielen; da er aber seinen Besuch im Gefängnisse nicht wollte bekannt werden lassen, so hielt er an sich und nahm von dem Minister Abschied, indem er sagte, er hoffte, seine Weissagung würde erfüllt werden.

Als er in seinen Palast gekommen war, kleidete er sich um und schickte sogleich dem Wesir durch ein ansehnliches Geleite, das ihn an den Hof bringen sollte, ein Ehrenkleid. Seine Ankläger wurden durch Einziehung ihrer Güter und Einkerkerung bestraft. Der Wesir wurde von dem Sultan mit der größten Auszeichnung empfangen und in Gegenwart der Hauptleute mit neuen Würden und Ehren bekleidet. Er nahm ihn hierauf in sein Kabinett, umarmte ihn, bat ihn, die Ungerechtigkeit, deren Opfer er gewesen, zu vergessen, erzählte ihm, daß er ihn verkleidet in seinem Kerker besucht hätte, und ließ ihm hierauf die Freiheit, glücklich und zufrieden in seinen Palast zurückzukehren.

 


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