Peter Altenberg
Prosaskizzen
Peter Altenberg

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Kabarett »Fledermaus«

4. Februar 1908

(in "Das Altenberg-Buch", Wien/Leipzig 1924)

Das Kabarett Fledermaus macht wirklich alle besonderen Bemühungen. Nach den allgemein anerkannten und bejubelten Schwestern Wiesenthal nun eine junge marokkanische Tänzerin. Und das alles zu einer Zeit, 5 Uhr nachmittags, in der »die Welt, die sich langweilt« sich besonders langweilt. Nun kann man die Zeit hinbringen mit Exzeptionellem. Eine ganz neue Sache ist mehr als ein noch so gediegenes Gewohntes. Es ist ein energisches Anregungsmittel wie Tee, Kaffee, Zigarette. Mag man auch skeptisch bleiben und zurückhaltend, irgend etwas vom trägen Althergebrachten wird in Verwirrung gebracht und aufgestört. Man beginnt ein wenig sein wohlgehütetes Kapital von Gewesenem nachzuzählen, auf Werte zu kontrollieren; ein Beginn, sich zu verändern, zu verbessern. Der Markensammler, der plötzlich sähe, daß auch Münzen schön sind, ein Beginn, eventuell beides für verfehlt zu erachten und als keine Lebensaufgabe! Aber vorgehen muß etwas in uns, vorgehen, vor, vor! Marokko bringt einen neuen Rhythmus in unsere Gliedmaßen. Es lebe Marokko! Wir sehen eine besondere hellbraune Haut, besonders entwickelte Muskeln. Merkwürdig befremdlich ist der Schwerttanz, merkwürdig aufregend der Bauchtanz. Wie wunderbar ist der Frauenleib ohne die Verlogenheit der Gewandung! Es ist so natürlich, daß man dieses Verbrechen »Trikot« nicht mehr begreifen kann. Goethe bewunderte einst stundenlang eine junge Person in ihrer vom Schicksal ihr verliehenen Vollkommenheit. Er war glücklich, nicht einmal ihre Fingerspitzen berührt zu haben. Er hielt sich für belohnt genug durch den Anblick. Er ging beglückt hinweg wie nie jemals zuvor. Unser Schamgefühl konzentriere sich auf das Unvollkommene. Es bleibe in Verborgenheiten, es schäme sich mit Recht, weil es den Plänen des Schöpfers nicht entspricht. Aber die orangefarbene Haut der Sulamit Rahu besteht vor dem Künstlerauge die Probe auf Vollkommenheit. In ebenso exzeptionelle Welten bringt uns der edelgroteske Tanz der Gertrude Barrison, in einem grünen Kostüm von Kolo Moser, in dem sie aussieht wie eine neue unbekannte Vogelart. In einem von der Tänzerin unbeschreiblich lieblich und eindringlich gesprochenen Texte teilt sie vor dem Tanzen mit, daß alle, alle Damen sich nur feig richteten nach demjenigen, von dem sie seelisch oder ökonomisch abhängig seien. Sie aber sei ihre eigene Laune, wolle niemanden einfangen, nicht einmal das Publikum. Und dann kommt ein grotesker Tanz, mit Ausgelassenheiten von Kindern und Clownerien. Dazu das liebliche Gesichterl mit einer Frisur, die populär werden sollte bei allen, die ein ebenso liebliches Antlitz haben! Aber nur bei solchen! Die dritte Exzeptionalität ist Lina Loos. Eine ungewöhnliche Persönlichkeit, die ungewöhnliche Sachen vorträgt zu den Tönen einer Oboe und in blauem Mondenschein. Eine junge Dame drückt ihren Schmerz, ihre Verzweiflung darüber aus, daß der Mann nicht romantisch reagiere. Sie träumt von den Minnesängern und erlebt Herrn So und So. Ein echter Altenberg in besonderer Umrahmung. Man erblickt wirklich eine wunderbar anziehende und enttäuschte Frau, vernimmt direkt ihre Klage, nicht mehr nur auf dem Umwege des mitfühlenden Dichterherzens! Und diese Oboemelodie ist so poetisch. Kapellmeister Scherber hat sie erfunden. Das ganze ist gerichtet gegen die armselige Realität des täglichen Daseins. Deshalb sind alle eigentlich dagegen und fast beleidigt. Sogar für sorgenlose Kinder ist nur einmal im Jahr Weihnachten, einmal Geburtstag, einmal Namenstag. Und gar erst bei Erwachsenen? Die Feste der Seele und der Sinne sind eben selten. Die Dichter verkünden sie unentwegt, aber sie kommen nicht! Deshalb wird man resigniert und begnügt sich mit dem Pofel. Was soll man machen? Jedenfalls die träumenden Dichter nicht anfeinden, die andeuten, wessen man eigentlich bedürfte!

P.A

 


 


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