Peter Altenberg
Prosaskizzen
Peter Altenberg

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Locale Chronik

(in "Was der Tag mir zuträgt", Berlin 1906)

Er las im Café diese Notiz aus dem »Extrablatt« vom 21. November.

 

Ein verschwundenes Mädchen.

Das junge Mädchen, welches das vorstehende Bild zeigt, ist die fünfzehnjährige Bahnbeamtenstochter Johanna H. Dieselbe sollte am verflossenen Sonntag Mittag sich in die Clavierstunde begeben, traf aber dort nicht ein und ist seitdem verschollen. Dieselbe hat rotblonde Haare, braune Augen, eine zarte Gestalt. Die unglücklichen Eltern etc. etc.

 

Dieses junge Mädchen begann er zu lieben, von ganzer Seele... Sie verwandelte sich in das »gehetzte Reh«, er sah die »brechenden Augen«. Überhaupt, sie entsprach seinem Ideale. Denn erstens hatte sie rotgoldene Haare (er erlaubte sich aus rotblonden rotgoldene zu machen), braune Augen (die beließ er natürlich), eine zarte Gestalt...

Und zweitens wußte man nicht mehr von ihr als dieses, nichts, nichts, als daß sie rotgoldene Haare hatte, braune Augen, und verschollen war, weg, verschwunden...!

Deshalb konnte seine Phantasie...

Aber sie war ja wirklich wunderschön, nicht, nach dem Bilde...?! Und so jung und verschwunden...

Er begann sie zu lieben, von ganzer Seele...

Er konnte der Dame, die sich für ihn opferte im »realen Leben«, sagen: »Ah... Du mit deinen...«, oder: »Ich bitte Dich, Herrgott, mach' mich nicht nervös...«, oder: »Genug, still, ganz still... na!«

Aber dieser Verschwundenen wäre er zu Füßen gesunken, hätte ihr die nassen Schuhe, Strümpfe ausgezogen, hätte die Zitternde in sein Bett getragen, das Plumeau bis an den Hals gelegt, hätte ein gutes Holzfeuer angemacht, Tee gekocht und gewacht, gewacht...

Oder er hätte wie ein junger Priester gesagt: »Johanna...!« Oder er hätte... nein, das hätte er nicht!

Im Café sagte jemand: »Eine Strabanzerin, voilà tout...«

Er fühlte, daß er sich ziemlich lächerlich machen würde, wenn er eintreten würde für...

Aber angenehm war es ihm nicht, dieses Wort, und er hätte gerne gesagt: »Herr...! Mit rotgoldenen Haaren...?!«

Ja, solche Argumente hat die Liebe...

Immer dachte er an dieses erste Wort »Fräulein«, das der Verführer zu ihr gesprochen hatte. Ja, das mußte er gesprochen haben. »Fräulein...!« Und ein ganzes Leben war bereits zerpatscht wie die Fliege unter der Pracke. Ich brauche nicht zu sagen, wie er es sich weiter vorstellte, man kennt das. Aber so stellte er es sich vor: Sie geht langsam mit ihren langen zarten Beinen, ihrer goldenen Flut, in Zöpfe gedeicht, hat den »Mechanismus des Lebens« in der kindischen Seele. Punkt zwölf Clavierstunde, Punkt eins etwas anderes, Punkt zwei, Punkt sieben, Punkt neun! Plötzlich bewirkt Einer eine ungeheure Umwälzung und sagt »Fräulein«. Alle Punkte stürzen untereinander und die Seele wird ein Organismus. Damit ist Alles gesagt. Sie beginnt zu atmen, ein Leben für sich!

Aber was weiß dieser gemeine Zauberer?! Er denkt: »Schöne Beine hat sie... ich nehme sie mir.«

»Ich kann nicht, mein Herr... Punkt zwölf ist Clavierstunde...!«

»Nun, Punkt eins...«. »Punkt...« sagt der Verführer, »kommen Sie bestimmt!«

Eine neue Stundeneinteilung ganz einfach, ein Studienplan des Lebens...!

Punkt neun träumt sie in ihrem Bettchen: »Jemand hat gesagt ›Fräulein‹. Und andere Sachen...«

Jemand?! Der Mann ist es, das männliche Geschlecht, das ganze Männertum! Die Welt »Mann« hat sich verbeugt, Reverenz gemacht, den Hut tief abgezogen vor dieser Welt »Weib«.... Der Minotaurus »Mann« hat eine Jungfrau verschlungen!

Jedenfalls träumte sie: »Punkt eins...!«

Ah, dieser gemeine Zauberer! Wer war es?! Ein Roué natürlich. Der junge Mann im Café liebte sie bereits von ganzer Seele, deshalb dachte er: »Ein Roué...« Dieses Wort tat ihm wohl, nicht nur, weil es französisch war und so Vieles besagte. Aber da fühlte er sich schon wie der »Retter aus den Tiefen menschlicher Verworfenheit,« als der, vor dessen reiner Stirne... Wie hätte er denn sonst strenge und wehmütig zugleich sagen können: »Johanna...!«, wenn nämlich, in einem gewissen Falle, aber das sind nur Träume... Aber warum soll man nicht träumen?! Ja, dieses eine Wort »Johanna!« mußte eine zweite ungeheure Umwälzung hervorbringen, die Stundeneinteilung regulieren, die Seele auf ein Neues richten, ein Reineres, wenn sie schon, ach allzu früh, aus dem »kindlichen Schlafe« gerüttelt war...

Nun, so kindisch war er nicht, solche Phantasmagorieen sich auszudenken, höchstens unter der Schwelle des Bewußtseins, wie sich die Modernen ausdrücken. Aber oberhalb der Schwelle liebte er sie schwärmerisch und in die Welt hinein, wie einst als Knabe die kleine Camille aus »Les petites filles modèles«, Bibliothèque rose. Denn als Camille dort, in Tränen aufgelöst, sagte: »Oh maman..« und Madame des Renaud sich zum gehen wandte, rief Madelaine: »Je l'ai fait, moi, maman, oh oui, certainement...«. Und obzwar es Madelaine gar nicht getan hatte, sondern sich opferte, hatte er nur ein seliges, unbeschreiblich seliges Gefühl in seinem kleinen Herzen: »Camilla wird nicht gestraft werden...! Oh, Madelaine, bringe Dich zum Opfer!«

Aber wer war denn Camilla?! Eine Erfindung der Madame de Ségur, née Rostopschine, Bibliothèque rose.

So liebte er jetzt die Verschollene vom »Extrablatt«, beklagte tief ihr Schicksal. »Fünfzehn Jahre...« fühlte er, »und diese schönen Farben, goldblond und braun, von den schneeweißen gar nicht zu reden...«

Aber an die schneeweißen dachte er: »Glieder wie frisch gefallener Schnee...«

In ihm sang es: »Eine geknickte Blume Gottes, ein zertretenes Frühlingsglöckchen!«

Er kaufte das »Extrablatt,« obzwar es im Café siebenmal auflag.

»Wie zart sie ist, oh Gott...« dachte er. »Das kleine Kreuz am Halse, die geschreckten Augen!« Alles betrachtete er.

»Wollen Sie sich Finderlohn verdienen...?!« sagte der Marqueur, welcher ziemlich naseweis war.

»Aber unbeschädigt muß das Objekt sein...« sagte ein Anderer.

Und Alle lachten.

Er aber träumte: »Am Weiher, am grauen Weiher steht sie vielleicht, stützt das Kinn in die Hand, hält mit der anderen den Ellbogen und das Wort »Fräulein« fliegt wie eine Wildente vor ihr auf und in den kalten Nebel hinein... Die Sonne glotzt blutigrot oder es ist schon schwarz und sie erfriert mir...

Ich gehe Nachts, da, dort, wo die Großstadt in »ländliche Ebene« abfließt, abtropft, sehe ein Kind...

Ich sage: »Johanna...!«

Ganz gewöhnlich sage ich das. Wie wenn man sagte: »Reiche mir das Brot über den Tisch« oder »bitte, zünde die Lampe an«.

Sie steht auf, kommt zu mir. Wie schön sie ist! Ich denke an »Ihn«, den All-Erbarmer, lege meine Hand sanft auf ihren Kopf, sage: »Johanna, Johanna...« und »Johanna...!!«

Still ist es. Der Wind weht über's Feld.

Sie sagt: »Wie spät ist es...?!«

»Johanna«, sage ich, »wir werden Alles zusammen bedenken, Du bist ja ein gutes braves Mäderl...?!«

Sie drückt sich an mich an.

»Ja,« sage ich stark, »Du bist gut und brav, brav bist Du...!«

Das war die heilige Beichte.

Ich habe es ihr abgenommen... Der Herr und Magdalena..!

Glaube ist fast schon Sein! Wenn ich an Dich glaube, bist Du!

Wie sie sich an mich andrückt...

«Ich glaube, daß Du gut und brav bist, Johanna...!«

Der Wind weht über's Feld und ich führe sie gen Morgen!«

So träumte der Träumer..

*

Mein lieber Leser, Du denkst gewiß, den nächsten Tag käme in die Zeitung so eine desavouierende Notiz, eine, die Dich umstimmte, aus allen Himmeln risse, so ein feiner Schriftsteller-Tric, das Heraustreiben von Gegensätzen, um paff zu machen, wie: »Die Affaire hat sich ziemlich unpoetisch gelöst, das ungeratene Kind...« Oder: »Die Betreffende wurde einer Zwangscorrections-Anstalt..« Oder. »Jung verdorben...«

Nein, das Leben ist taktlos, übersieht die feinen Pointen...

Johanna H. blieb verschollen.

Der Wirbel des Großstadtmeeres hat sie verschluckt...

Immerhin wurde sie in ihrem kurzen Leben geliebt wie Wenige! Denn nur von Wenigen erfahren wir nichts Störenderes für unsere »holde Phantasie«, als daß sie fünfzehn Jahre waren, goldblonde Haare, braune Augen hatten und verschollen sind, weg, verschwunden...!!

 


 


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