Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtundzwanzigstes Kapitel

Über die hohen, fast senkrechten Granitfelsen, die eine lange Felsenschlucht bildeten, hatte die Märzsonne gelacht. Jetzt stiegen Nebel über ihnen auf und hüllten die zackigen Kanten in ihren Schleier.

In der Tiefe, kaum sichtbar, toste ein stürzendes Wasser; fernher wurde ein dumpfes Rollen vernehmbar, von dem schrillen Pfeifen der Lokomotive unterbrochen.

Ein Mann im Lodenanzug, einen Rucksack am Rücken, auf kräftigen Stecken gestützt, stieg langsam, aber nie rastend aufwärts. In zahlreichen Kehren wandte sich die Felsenstraße; auf Fußwegen und einem alten Saumpfade konnte man sie abschneiden.

An verfallenen und neueren Stegen vorüber, von rieselnden Felsenwassern umgeben, überschritt er eine aus Granitquadern in einem einzigen Bogen gespannte Brücke, unter der sich der Fluß in, die Schlucht stürzte.

Hier blieb er lange stehen, während der schäumende und spritzende Wasserstaub sein Gesicht netzte. Trotz der kalten Luft schien ihm die Kühlung angenehm zu sein, er nahm die Reisemühe ab und ließ sich die Stirn feuchten.

Endlich sah er nach der Uhr und rüstete zum Aufbruch. Einen Blick warf er zurück, einen anderen nach vorwärts. Dann horchte er hinaus in die Ferne. Dumpfes Donnern war vernehmbar, ein leichtes Heulen erhob sich, die Sonne warf keinen Strahl mehr an die Felsenspitzen, es dämmerte.

Im Gasthaus hatte ihn der behäbige Wirt, der ihn aus Neugierde vergeblich in ein Gespräch zu verwickeln suchte, mit bedenklichen Mienen gewarnt, in dieser Jahreszeit die Fußwanderung zu machen. Man begriff nicht – auch die Frau Wirtin mischte sich mit teilnehmenden Blicken ein –, weshalb er die bequeme Eisenbahnfahrt nicht vorzog. Aber Michael Argobast ließ sich auf keine Auseinandersetzungen ein, verzehrte sein einfaches Essen und behielt seinen Plan bei.

In dieser Höhe von vierzehnhundert Metern lag der Schnee in den Schöllenen ziemlich hoch. Ganze verwehte Strecken mußte er durchwaten. Oft blieb er mit seinem Stecken im Schnee stecken und mußte sich förmlich herausgraben.

Aber die Anstrengung tat ihm wohl. Kaum suchte er sich die gangbarsten Stellen heraus. Von den Felsen stürzten Schneemassen, die der Sonnenstrahl gelockert hatte. Mehr als einmal wurde er getroffen. Unerschrocken schritt er vorwärts.

Dabei sprach er halblaute Worte vor sich hin, zuweilen stieß er Rufe aus, die von den Felsen seltsam widerklangen. Er schien Zwiesprache zu führen mit der Natur oder mit der Gottheit, die sie erschuf, oder mit sich selbst.

Wer ihn beobachtet hätte – aber kein einziger Mensch begegnete ihm –, konnte wahrnehmen, wie in der Anstrengung seine Brust sich hob, wie seine Züge sich belebten, seine Augen aufleuchteten.

Hier in der gewaltigsten Gottesnatur warf er ab, was seine Seele noch bedrückte.

Fern und klein erschien ihm die Stadt, wo er zwanzig Jahre gelebt und gewirkt und die er nun auf immer verlassen hatte.

Klein und fern erschien ihm sein Hüttenwerk, die Schlote, selbst die Erzöfen sanken in sich zusammen.

Er hatte sich von dem Schauplatze seiner Arbeit getrennt. Das Unternehmen wurde in eine Aktiengesellschaft umgestaltet, eine große Bank hatte die Umwandlung in die Hand genommen. Die Käufer drängten sich an ihn, er hätte alle Aktien an den Mann bringen können.

Über die Felsenschlucht begann ein Wehen und Heulen, eine warme Luft drückte, obwohl die Sonne nicht schien, mit einem Male herab, es wurde fast dunkel.

Schnee und Eismassen stürzten hernieder, Lawinen donnerten, er näherte sich der gefährlichsten Gegend der ganzen diesseitigen Gebirgsstraße.

Sie hatten recht gehabt, die ihn gewarnt und nach den Wolken am Himmel gezeigt hatten. Der Föhn war los.

Mehr als einmal glitt er aus, stürzte er zu Boden. Unmittelbar vor ihm und über ihm wälzte es sich her. Schneemassen umwirbelten ihn, er konnte nicht aus den Augen sehen, er stürzte und versank.

»Nimm mich auf!« hallte es jählings von dem Gestein zurück. Dann blieb er lautlos liegen.

Die Schneewolke stürmte vorüber. Es wurde lichter vor ihm, über ihm, von oben leuchtete es wie klarer Tag.

Aus dem Schneehaufen gruben sich Hände und Arme, ein Kopf, ein Oberkörper wurde sichtbar. Mit aller Anstrengung richtete er sich auf, stand er, schritt er mit zitternden Beinen vorwärts. Eine lange Schutzgalerie, in die Felsen gehauen, nahm ihn auf.

Hier stand er eine Weile still, um Atem zu schöpfen, um Kräfte zu sammeln.

Er empfand doch ein Wohlbehagen, daß er gerettet und nicht im Schneesturm erstickt war, wenn er auf sein Leben auch keinen besonderen Wert gelegt hatte.

Als er aus einem letzten Felsendurchbruch wie aus einem Loche herausschritt, trat er in ein stilles, von hohen, kahlen Schneebergen eingefaßtes Tal, das der Fluß durchströmte. Eine freundliche, klare Winterlandschaft lag vor ihm; hier hatten sich Menschen angesiedelt, aber es gab wohl nur wenige Sommermonate, Getreide konnte nur kärglich gedeihen.

Weiter, rastlos weiter führte ihn sein Weg.

Seine zwanzigjährige Ehe zog an seinem Geiste vorüber. Er mußte dankbar anerkennen, daß sie für ihn zum Segen geworden war. Hatte Hilde auch nicht so, wie er es vielleicht in jugendlichen Träumen erwartete, an seinem Schaffen, an seinem Aufstiege teilgenommen, so hatte doch ihr Gemüt milde über ihm geleuchtet.

Er ging langsamer den immer noch ansteigenden Talweg am Wasser dahin, er blieb plötzlich in Gedanken stehen, als er sich selbst – nicht zum ersten Male – bekannte, daß er Hilde in jener Unterredung am Tage seiner Entlassung Unrecht getan hatte.

Das lag schon lange klar vor ihm. Er konnte sich selber nicht begreifen. Was war da über ihn gekommen? Wie hatte er von ihr einen Kuß, eine stürmische Begrüßung, eine leidenschaftliche Umarmung erwarten können! Wie konnte er sich gerade in dieser zwischen ihr und ihm entscheidenden Stunde so hinreißen lassen!

Nun war es geschehen, unwiderruflich. Sein Herz war so übervoll gewesen. Diese Gerichtsverhandlung, die ihn traf, die ihn stürzte, unter so eigentümlichen Umständen stürzte und nach dem Gesetze eigentlich nicht hätte treffen dürfen, aber doch mit Gerechtigkeit traf, hatte ihn in diese ungeheure seelische Verwirrung versetzt. Darüber war er sich klar.

Sie hatte die ganze menschliche Grausamkeit, die, ihm selber kaum bewußt, in dem Grundlosen seiner Seele schlief, geweckt und mit einem Male an die Oberfläche geschleudert. Wie töricht, wie klein war sein Beginnen gewesen, sich mit Erkelenz moralisch zu messen! Nicht geläutert, nicht innerlich gereinigt hatte sie ihn, sondern hinabgestoßen in den tiefsten seelischen Verrat, diese Verhandlung vor dem Gericht!

Blitzartig durchzuckte ihn der Gedanke, daß der kluge, nüchterne Verteidiger seine Sache nicht gut gemacht hatte. Wenn er einmal die Verjährungsfrage zunächst übersehen hatte, mußte er die Geschworenen zum Spruche kommen lassen und alles versuchen, daß sie statt Mordes nur Totschlag annahmen. Mißlang es, kam der Verjährungseinwand immer noch zeitig genug. Und der Totschlag war ja in jedem Falle verjährt. Aber als Totschläger in jugendlicher Übereilung – im Affekt – stand er ungleich günstiger da – auch Hildegard gegenüber – ihr gegenüber vor allem – ob sie auch dann –? Er wagte nicht auszudenken, was er verloren hatte – was geschehen wäre – aber er war damals, als er heimkehrte, nicht imstande, ihr das von sich selber aus auseinanderzusetzen – in Ruhe – er war so verwirrt.

Das war nicht er selber gewesen, der da gesprochen hatte; das durfte er sich ruhig zurufen. So hatte er nie wieder in seinem Leben gefühlt und gedacht, nur damals, als er den Unglücklichen, der sich verzweifelt wehrte und durchaus nicht sterben wollte, in jähem Grimme siebenmal traf. Etwas Ungekanntes, Fremdes war wie damals mit einem Male in seine Seele getreten und hatte ihn vorübergehend jeder Hoffnung beraubt. Ohne Fährlichkeit war er durch die rauhesten Stunden seines Lebens gegangen; jetzt, da es die engsten Bande zu retten galt, hatte er versagt.

War das so überraschend, daß sie den heimgekehrten Mörder nicht küssen, nicht umarmen wollte? Daß sie schauderte, Jahrzehnte es ahnungslos getan zu haben? War das nicht eine natürliche, menschliche, weibliche Regung? Hätte man nicht Hoffnung hegen können, sie zu überwinden – allmählich – langsam – durch Güte – durch Liebe? Ach, er hätte es an nichts fehlen lassen wollen – er hatte die Fähigkeit, zu überreden, zu überzeugen – aber den Übergang, den Anfang fand er nicht –!

Weshalb mußte der Dämon der Stunde ihn zum zweiten Male treffen – unerbittlich – wie er den trunkenen Gesellen? War das aufgerührt worden in ihm – mit der wiedererstandenen Untat – an der Stätte des Gerichtes?

Nun hatte sie die Trennung von ihm vollzogen. Nach jenem Abende hatten sie sich nicht wieder zusammengefunden. Die Versuche – wohl beiderseits unternommen – verliefen lau, ergebnislos, unglücklich. Dann wurde es in beiden ganz still. Eine Scheidewand richtete sich zwischen ihnen auf. Das Vergangene erschien tot. Sie hatte sein Haus verlassen und war nach Wiesbaden übergesiedelt. Er hatte ihr keine Hindernisse mehr bereitet, hatte ihr Mittel in reichem Maße zur Verfügung gestellt. Es war alles auch für seinen Todesfall geordnet.

Was die Zukunft bringen werde? Er glaubte es vorauszusehen. Zu ihrem Verhalten hatte sie ein Recht, weil sie sich in seiner wertvollsten Eigenschaft – seiner Unbescholtenheit – geirrt hatte.

Nun war keine Zeit, sich das mit Hilde durchlebte Liebesglück schwärmerisch zurückzurufen. Es schien ihm im Augenblicke, als könnte er selbst nicht sagen, ob er sie wahrhaft geliebt hatte. Der Beurteilung seiner eigenen Gefühle schien er in diesen Tagen verlustig gegangen zu sein, es war still und leer in seinem Herzen.

Ob sie selbst ihn wahrhaft geliebt hatte? Er konnte es noch weniger sagen. Was war Liebe? Was hieß man Liebe? Einen Hauch in der Seele, der verwehen konnte? Sie hatten zwanzig Jahre zusammen im Frieden gelebt. Und doch erschien sie ihm nun wie ein Rätsel. Das war ihm das Merkwürdigste von allem.

In diesem einen Falle hatte er sich geirrt. Mit den Jahren suchte er sich einzureden, Hilde würde sein Weib bleiben, selbst wenn sie das Schlimmste erführe. Es ihr freiwillig zu gestehen, diesen Gedanken hatte er freilich nie gehabt. Auch auf dem Totenbette hätte er das Geheimnis ungequält in das andere Leben hinübergenommen und wäre doch ruhig eingeschlafen. Vorher hätte er alle Spuren vernichtet. So hatte er es beschlossen.

So hatte er sie doch nicht gekannt, wie er sie zu kennen glaubte. Da verspürte er nun an sich selbst, was man den Fluch der menschlichen Individualität nannte, die, so reich sie sich auftun konnte, im letzten Ende an der Fähigkeit der Unenthüllbarkeit litt.

Auch Ottilie hatte er verloren. Sie war nicht sein Kind, das wußte er nun. Die Natur hatte nicht gewollt, daß er sich fortpflanzte. Auch diese Erkenntnis nahm er hin. Der andere hatte die Menschheit mehren helfen dürfen.

Die Wahrheit über ihre Herkunft, das hatte er mit Hildegard vereinbart, sollte ihr für immer verborgen bleiben. An Ottilie hatte er sein schönstes, stilles Werk getan, von dem vielleicht gar niemand etwas wußte. Er hatte von Kindheit an ängstlich ihre Neigungen beobachtet, ob etwa eine ungünstige Vererbung sich verriet. Ein süßeres, wonnigeres Geschöpf konnte nicht sein, als Klein-Otti.

Dann kam die Enttäuschung. Mit zehn Jahren stellten sich die ungünstigen Phantasien ein. Daran hatte er selber gelitten; er wußte es von seinem Vater. Ihm waren sie mit Härte auszutreiben versucht worden; bei Ottilie unternahm er es mit Schonung, mit Liebe, mit aller erzieherischen Kunst. Indem er alles Unfreundliche aus ihrer Nähe verbannte und in gewissem Sinne sie grenzenlos verwöhnte, lockte er doch schließlich durch Zärtlichkeit das Gute aus der spröden Hülle hervor.

Wenn Hilde als Mutter verzweifelte, baute er auf seine stille Saat. In anderer Hinsicht blieb Ottilie rein; das war ihm eine Bürgschaft, die auch nicht trog.

Seine kühnsten Träume wurden erfüllt. Ihm bebte das Herz, daß es gerade ein Staatsanwalt war. Als Custodies als Freier zuerst erschien, wollte ihn sein Inneres vor dem Späher der Schuld warnen.

Aber nur kurze Zeit stand er ihm innerlich ablehnend gegenüber. Er erblickte ein Schicksal darin, daß gerade er seinem Kinde – dafür hielt er es damals noch – den inneren Frieden gab – dem Kind eines Verbrechers – eine Fügung des Himmels ersah er darin.

Nun war es doch anders gekommen. Er begriff schon, was in Ottokars Innerem vor sich gegangen war. Seinem Naturgesetze war er treu geblieben. Die Stärke, die Kraft hatte sich an die Schwäche – wie er es genannt hatte – dauernd nicht fesseln lassen.

Es gab in solchen Dingen Ahnungen, seelische Witterungen, die keine Wissenschaft beweisen konnte. Schwäche und Kraft stießen sich ab, wie Elemente, die zu keiner Verbindung gelangen können. Oder etwas anderes war zu befürchten gewesen. In seine Kraft wäre von ihr ein auflösendes Element herübergetreten und hätte an ihm gezehrt. Es wäre nicht das erstemal im Leben gewesen.

Es würde Menschen geben, die Custodies verurteilten und schwach nannten, weil er Ottilie fahren ließ. Diese Kritiker hatten von den geheimsten Zusammenhängen keine Ahnung. Vor ihm lag jetzt alles erschlossen; eine Naturnotwendigkeit war geschehen. Eine Erlösernatur hatte Ottokar nicht. Ganz wahrhafte Charaktere waren leicht spröde.

Ehe er abreiste, hatte er zufällig etwas erfahren. Custodies sollte mit Helga Helligen Bekanntschaft gemacht haben. Nicht in der Gesellschaft, wo es früher so leicht hätte geschehen können und doch nicht geschehen war; nein zufällig, ganz zufällig – auf einer Eisenbahnfahrt – auf welcher? Als Custodies nach Schlesien reiste, um Kurstosch zu verhören? Argobast zitterte. War das auch Schicksal?

Argobast hatte sie selbst wiederholt gesehen und kennengelernt. Er kannte auch ihre vorzüglichen Eltern. Er hatte von ihr immer selber den Eindruck einer schönen und starken Weiblichkeit gehabt. Und die Ungleichheit mit Ottilie machte ihn erst recht sehend.

Nun konnte er den Gedanken nicht bannen, daß diese beiden zusammengehörigen Charaktere einander auch anziehen und festhalten würden.

Wenn das geschah, und er hatte immer tief in den Ereignissen und Menschenschicksalen gelesen, dann erfüllte sich auch nur ein waltendes Naturgesetz. So sehr es ihn schmerzte, daß Ottilie ihn durch seine persönliche Schuld – ihre Entschuldigung ließ er nicht gelten – verloren hatte, so lebhaft hatte er vor seinem inneren Gesicht, wie das Paar, das sich gefunden hatte, gemeinsam durchs Leben wanderte. Was war das nur? Wie geschah das? Er sah sie wandeln, sonnig, ruhig, stark, immer dahinwandeln – so deutlich, als hätte er eine Vision. Das waren, dachte er bei sich, zwei Menschen, seltene Menschen, die aus der Wahrheit und nur aus der Wahrheit – sonst kannten sie keine Gemeinschaft – die große Kraft ihres Lebens sogen.

Obwohl ein Luftkurort in geschützter Lage mit seinen zahlreichen Gasthäusern winkte, gönnte sich Michael Argobast keine Rast.

Neben der Dorfkirche kam er an einem Weinhause vorüber, besten Sims in eigentümlicher Weise mit beschriebenen Schädeln besetzt war. Langsam, betrachtend, ruhig ging er an dem seltsamen, sonst nie gesehenen Anblick vorbei.

Er stieg immer aufwärts, an einem anderen Dorfe vorüber, über dem auf einem Hügel ein alter Turm ragte. Dann klomm die Straße in zahlreichen Windungen in einem öden Tale den Gotthard hinan, den schneebedeckten Gebirgsstock mit seinen zahlreichen Gipfeln, Gletschern und Seen. Er erreichte ein kahles, aussichtloses Hochtal, von jäh abstürzenden, mächtigen Wänden eingeschlossen.

Eine wüste Felsenlandschaft umgab ihn; das Gestein war weithin sichtbar, weil der Wind den Schnee hinweggeweht hatte.

Kein Obdach war weit und breit erkennbar, kein Mensch zeigte sich in dieser Einöde.

Und doch fühlte sich Michael Argobast nicht allein. Er reckte, streckte die Arme, er hob sie, zweitausend Meter den Wolken näher, zum Himmel, seine Brust dehnte, weitete sich.

Sie hatte ihn nicht verstanden, als er ihr geantwortet hatte, daß er seine schwere Blutschuld im Sinne des gewöhnlichen Wortes nicht bereut hatte. Sie war darüber entsetzt gewesen. Vielleicht hatte gerade diese Erklärung sie von ihm völlig geschieden.

Wer fühlte Reue? Wer konnte bereuen? Wer durfte sagen, daß er dieses höchsten seelischen Ereignisses, das vielleicht nur in der Phantasie von Schwärmern wurzelte, fähig war? Mit Worten ließen sich allerlei Begriffe verknüpfen. Gegen sich selbst wollte er ganz ehrlich sein. Er kannte seine Veranlagung, er hatte sie von Jugend an selbst beobachtet. Er wußte, wovor ihn seine rastlose, endlose Arbeit vielleicht bewahrt hatte.

Mit seinem Gefühle stand er nicht allein. Hunderte – Tausende – Hunderttausende in seinem Vaterlande – Millionen auf Erden empfanden wie er. Eine unsichtbare Armee marschierte mit ihm – er in ihr – vielleicht ein herausgehobener Mann.

Das waren die unzähligen Schaffenden – sie schufen aus ihrer unbereuten Schuld, dieser Erzeugerin großer Kräfte, die Werte der Erde – sie bauten das Leben – bauten die Welt.

Es gab noch andere große Kräfte, die am Leben bauten, wie er sie in Helga Helligen und Ottokar Custodies sah. Es gab verschiedene Kräfte in der Menschenseele und im All. Aber keine kam an Allgewalt derjenigen gleich, die aus menschlicher Schuld herausgeboren wurde. Sie schien bestimmungsgemäß die Urkraft der Menschheit zu sein. Das lehrten Kultur- und Weltgeschichte, darin immer das Größte auf diese Weise geschah. Sie war eine Bahn – ein Umweg – des Guten! Aus der blutüberströmten Völkergeschichte wehte der ewig schaffende Geist des Verbrechens ihn an.

Schmerz war Erkenntnis, aber Verbrechen war es auch – Verbrechen war auch Erkenntnis – die tiefste – sie nahm die Binde von den Augen – machte sie, wenn man der richtige Mann war, sonnenhaft, um in alles Dunkel zu leuchten – sie machte wissend.

Hier aber, der Schöpfung und dem Schöpfer näher, von allen Menschen, die ihm im Leben begegneten, verlassen, in der gewaltigen Einsamkeit der Natur, in der Urschöpfung – unbeschreiblich – unfaßbar –, löste sich Michael Argobast – er fühlte es überzeugend, er täuschte sich nicht selbst – löste er sich – nicht aus eigener Kraft allein, nur mit Hilfe des Unerforschlichen – löste er sich von dem letzten, was seine Tat in ihm noch zurückgelassen hatte.

Nie war sein Herz so unaussprechlich voll des Lobes des Ewigen gewesen. Nie hatten seine zuckenden Lippen so lautlos gestammelt wie heute!

Die Sonne war untergegangen; es dämmerte. Morgen wollte er den Abstieg nach Süden wagen. Er wußte, er war ungleich gefährlicher als der Anstieg.

Er wendete das Gesicht nach Südosten.

Von dorther kam der leuchtende Sonnenball; von dort war alle Kultur der Menschheit erschienen. Es war ihm, als grüßte er sie beide.

Ein leiser Wind umspielte sein Gesicht. Er horchte hinaus.

Aus einiger Entfernung kam ein Läuten vernehmlich zu ihm herüber. Er war in der Nähe der Herberge und des ehemaligen Hospizes.

Dort lag auch die verlassene Totenkapelle – das Glöckchen läutete fort.

Dazwischen donnerte fernab vom Südabhange wie ein großes verhaltenes Geheimnis eine stürzende Lawine.

 

Ende.

 


 << zurück