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Vierundzwanzigstes Kapitel

Der Zuhörerraum in dem von Künstlerhand ausgestalteten Schwurgerichtssaale war bis auf den letzten Platz besetzt.

Die dem deutschen Rechtsleben entlehnten Motive von Burg und Kirche, die das ganze Gerichtshaus durchdrangen, trugen den Raum, der sich, halb Kirchenschiff, halb Burghalle, kraftvoll zugleich und das Gemüt erhebend, darbot.

Der schon anderswo verwirklichte Gedanke, im Schwurgerichtssaale die Malerei zu verwerten, hatte hier Vollendung gefunden.

Die lange und hohe Seitenwand, längs deren die Geschworenenbänke aufgestellt waren, zeigte, der Anklagebank gegenüber, in gedeckten Farben ein großes Freskogemälde, das die Entgegennahme der zehn Tafeln auf dem Sinai durch Moses darstellte.

Mit flammenden Lettern, als wären sie geistige Ausstrahlungen, waren umher die Worte dieses Urbildes aller Strafgesetze zu lesen: Du sollst nicht stehlen! Du sollst nicht falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten! Du sollst nicht töten!

Über der Anklagebank, also zu Gesicht der Geschworenen, belebten die Wand zwei sprechende Vorgänge aus dem Rechtsleben: Das Geständnis des Schuldigen, die Freisprechung eines Unschuldigen.

Von der Gewölbedecke leuchtete sinnvoll, drohend und tröstend, eins gigantische Darstellung des Jüngsten Gerichts.

Der eigentliche Zuhörerraum war, von der Gerichtsstätte getrennt, durch gesonderte Zugänge zu betreten und stieg, im Hintergrunde durch Gardinen abschließbar, amphitheatralisch zu kühner Höhe empor.

Kopf an Kopf gedrängt, harrte hier hinter einer ersten Reihe von Gerichtsberichterstattern bis zu den höchsten Stufen die lauschende Menge, während uniformierte Gerichtsdiener die Zugänge besetzt hielten und die Aufsicht führten.

Bei dem großen Andrange, den die aufsehenerregende Gerichtsverhandlung hervorgerufen hatte, waren ausnahmsweise unten im Saale hinter den Plätzen der Zeugen und Sachverständigen einige Reihen von Sitzen gegen Kartenausweis an Herren und Damen der Gesellschaft überlassen worden.

Hier sah man heute wohlbekannte Gesichter und Gestalten, die sonst nie das Gerichtsgebäude betraten. Herren und Damen der ersten Kreise fanden sich beisammen; einzelne farbige Hüte und Toiletten belebten das sonst dunkel gehaltene Bild.

Durch die Seitenfenster von hellgelbem Glas flutete ein glänzendes Licht auf die ernstgestimmte Versammlung herab und warf gegen die prächtigen Fresken eine wunderbare Beleuchtung.

Der sinnige Künstler, der dieses Haus baute, hatte sich in den Wirkungen, die er sich wünschte, nicht vergriffen.

Von der häßlichen Sensationslust, die das Gerichtspublikum sonst gelegentlich zeigt, war nichts zu spüren. Rücksichtsvoll und schweigsam, als sei man in seinem eigenen Rechtsgefühle geläutert, nahmen die Zuhörer unten im Saale und oben auf den amphitheatralischen Bänken Platz.

Als der Angeklagte Michael Argobast im schwarzen Rocke und mit schwarzer Halsbinde einige Minuten vor Beginn der Verhandlung durch die kleine Seitenpforte neben der Anklagebank hereingeführt wurde und, rechts und links von einem Gerichtsdiener bewacht, sich niederließ, ging nur ein scheues Flüstern durch die Reihen. Aber es entstand kein Drängen, kein Scharren mit den Füßen beim Aufstehen. Keine Zurufe, sitzenzubleiben, wurden nötig, kein Opernglas wurde in Bewegung gesetzt.

Die ganze große Versammlung stand unter dem bangen Eindrucke der ungeheuren Tragik der Ereignisse, die einen geachteten, verehrten, als Mitglied zahlreicher Vereine bekannten, ja als Wohltäter der Armen und Elenden geliebten Mann, den die halbwüchsige Jugend kannte und auf der Straße grüßte, vor die Schranken des Gerichts forderte.

Der als Vorbild rastloser, von schönsten Erfolgen gekrönter Arbeitsamkeit, als Muster frommen Kirchenbesuchs, reinen Familienlebens und persönlicher Herzensgüte ihnen allen vorangeleuchtet hatte, stand unter der Anklage des schwersten aller Verbrechen, des Urverbrechens der Menschheit. Menschenblut sollte er vergossen, er sollte getötet, absichtlich getötet, sollte gemordet haben, um zu rauben!

Fünfundzwanzig Jahre, ein halbes Menschenalter, hatte niemand von seiner Tat gewußt. Solange hatte er seine Schuld heimlich getragen und vor den Augen der Welt zu verbergen verstanden. Mit dem Gesicht der Tugend hatte er die innere Schuld verdeckt. Im letzten Augenblicke irdischer Belangbarkeit war er dem Ankläger verfallen durch sein eigenes seltsames Verhalten, das in einem eigentümlichen Charakter und Gemütszustande zu wurzeln schien.

Läuternd, reinigend atmete dieses Gefühl der Unbestechlichkeit des höchsten und des irdischen Richters in jeder Brust. Es war wohl niemand im Hause, der gegen diesen Mann einen Groll hegte. Eher regten sich heimliche Stimmen zu seinen Gunsten und bangten, ob er unter dem erdrückenden Schuldbeweise, der angekündigt worden war, auch die bisherige Versicherung seiner Unschuld aufrechterhalten werde.

Mancher machte sich im stillen Gedanken über das seltsame, von einem Teile behauptete, vom anderen bestrittene Recht, seine verborgene Schuld leugnen und den Nachweis durch den Ankläger erwarten zu dürfen. Jeder hatte aber das Gefühl, daß er – sei es mit Recht oder mit Unrecht – in gleicher Lage ähnlich handeln werde. Man dachte sich diesen Mann, diesen Kämpfer und Wohltäter, in einem Stande der Notwehr, deren Voraussetzungen und Wesen freilich etwas im unklaren blieben.

Ernst und schweigsam, kaum miteinander flüsternd, saßen sechsundzwanzig Geschworene – ihrer vier waren erkrankt oder beurlaubt – vor der Auslosung auf ihren Stühlen. Ihre Blicke schweiften hinüber nach Argobast, der die Geschworenenbank, die er oft als Obmann zierte, so schnell mit der Anklagebank vertauscht hatte. So plötzlich und tief konnte der Mensch gestürzt werden. Sie wurden ihrer Geschworenenpflicht nicht froh, eine Bangigkeit lag auf ihrer Seele.

Wenn sie im Beginne dieser ernsten inneren Sammlung noch einen Augenblick an Frau und Kinder daheim gedachten, so fielen ihnen auch die Gattin und Tochter Argobasts ein.

Man wußte nicht, ob man das Schicksal der Frau, die zwanzig Jahre mit einem heimlichen Mörder verheiratet gewesen war, oder dasjenige der Tochter düsterer finden sollte, die von diesem Vater stammte und mit einem Staatsanwalt verlobt war. Unverbürgte Gerüchte über das Verhalten dieser Frauen in der augenblicklichen niederdrückenden Lage waren im Umlaufe. Fräulein Argobast sollte ihrem Bräutigam sein Wort zurückgegeben, er sollte beim Justizminister um seine Versetzung in ein auswärtiges Richteramt nachgesucht haben.

Am Tische vor der Anklagebank, außerhalb von deren Schranken, erschien, die Aktenmappe unter dem Arme, ein Herr mit klugem, aber kühlem Gesicht in noch jüngeren Jahren. Eine goldene Brille gab, seine Blicke gewissermaßen verhüllend, den Zügen mit der spitzen Nase und dem bartlosen Mund etwas Formelles, Berechnendes.

Mit einer kurzen Verbeugung gegen die Geschworenen wendete sich der Herr in weißer Krawatte zum Angeklagten, dem er die Hand reichte. Es war der bekannte Rechtsanwalt Doktor Zscherper, ein gesuchter Jurist, dem Argobast seine Verteidigung übertragen hatte. Den Arm auf die Schranke gelehnt, sprach er einige Worte mit seinem Klienten.

Jetzt verkündeten langes Läuten der elektrischen Klingeln außerhalb des Saales und der eilige Schritt der Gerichtsdiener, daß der Gerichtshof erscheinen werde. Oben aus der unmittelbar über dem Richterpodium befindlichen Juristenloge beugten sich dichtgedrängt die Köpfe einiger Herren, unter ihnen Amtsrichter Schierenberg und Referendar Barbian, herab; zurückgelehnt saßen einzelne Juristendamen und deren Bekannte.

Die Ringe an den Metallstangen hinter dem Richtertische klangen, die dunkelgrünen Gardinen wurden etwas zurückgeschlagen. In der Mitte erschien der Gerichtshof, der Schwurgerichtsvorsitzende und zwei Beisitzer, rechts von ihnen der Staatsanwalt, links der Gerichtsschreiber. Alle Beamte trugen Talare und weiße Halsbinde.

Das ganze Haus erhob sich geräuschlos von den Sitzen und begrüßte in feierlichem Schweigen das Gericht. Der Präsident entblößte sein Haupt vom Barett, das er einen Augenblick, gleichsam in Anerkennung der anwesenden Vertreter der Öffentlichkeit, zum Gegengruß ernst in der Hand hielt.

Er nannte, nachdem er sich wieder bedeckt und mit den Richtern Platz genommen hatte, den Straffall, der zur Verhandlung stand, und ließ von dem zu seiner Rechten sitzenden Gerichtsrat die Gründe verlesen, die einen Geschworenen nach dem Gesetze vom Richteramte ausschließen. Bei keinem lagen solche Umstände vor.

Die Namen der erschienenen Geschworenen wurden verlesen und für jeden ein Los in die Urne geworfen. Ein Gerichtsdiener, hinter dem Präsidenten stehend, schüttelte die metallene, künstlerisch gearbeitete Urne lange und kräftig.

Bei der lautlosen Stille hörte man die Lose in der Urne hin- und herschlagen. Jeder Zuhörer verfolgte diesen Vorgang mit Spannung und hatte das beruhigende Gefühl, daß hier die Lose, welche die Berufung zum Geschworenenamte entschieden, völlig der Fügung des frei waltenden Schicksals überlassen waren.

Ohne in die Urne zu sehen, die ihm der Gerichtsdiener seitwärts hinhielt, zog der Präsident langsam der Reihe nach einzeln die Lose, deren Namen er ausrief. Er legte das Los dem ihm zur Rechten sitzenden Beisitzer hin, der, ein feierliches Echo, den Namen wiederholte und danach in eine Liste eintrug.

Monoton oder mit Schärfe ertönten bei einzelnen der gezogenen Namen einige Male aus dem Munde des Staatsanwalts, öfter vom Verteidigungstische her die Worte: »Wird abgelehnt!«

Auch dieser Vorgang wurde von den Zuhörern mit Aufmerksamkeit verfolgt, wenn der »abgelehnte« Geschworene auf seinem Stuhle im Saale sitzenblieb, während der nicht abgelehnte auf der Bank der Geschworenen Platz nahm.

Mancher Zuhörer machte sich über die unausgesprochen gebliebenen Gründe dieser Ablehnungen Gedanken und ahnte nicht, daß der Anlaß zuweilen ein harmloser, mit dem sachlichen Richteramte gar nicht zusammenhängender war.

Er hatte nicht beobachtet, wie dieser oder jener Geschworene durch die Hand des Gerichtsdieners seine Visitenkarte auf den Verteidigungstisch niederlegen ließ, was dem Rechtsanwalt Doktor Zscherper nach der Gepflogenheit ohne weiteres zu erkennen gab, daß der Geschworene, da er eine Beurlaubung vom Präsidenten nicht hatte erwirken können, aus irgendwelchen Gründen privater Art entlassen zu sein wünschte.

Früher pflegten auch die Staatsanwälte solchen Bitten entgegenzukommen und die unbegründete »Ablehnung« zu erklären. Aber in neuerer Zeit hatte der Oberstaatsanwalt dieses Verfahren untersagt.

Als die Bank mit zwölf Laienrichtern besetzt war, wurde die Losziehung für beendet erklärt. Die übrigen Geschworenen wurden entlassen, die ausgelosten Herren beeidigt. Feierlich wanderten die Worte »Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe!« von Mund zu Mund.

Nach dem Aufrufe der Zeugen und Sachverständigen wurde der Anklagebeschluß verlesen. Aus seinen langatmigen und amtlich stilisierten Sätzen hörte doch jeder das Verbrechen heraus, von dem die Rede sein sollte.

»Bekennen Sie sich der Ihnen zur Last gelegten Tat schuldig?« fragte der Vorsitzende mit ernster Stimme. Lautlose Stille im Hause.

»Nein!« klang es nach kurzem Schweigen deutlich von der Anklagebank zurück.

Erneute Stille im Saale; jeder Zuhörer seinen besonderen Gedanken hingegeben.

Die Verhandlung ging vor sich.

Es war, als ob der künstlerisch ausgestattete Innenraum dem Schwurgerichtsvorsitzenden besonders warm ans Herz legte, daß auch das Recht künstlerisch zu schöpfen ist.

Der junge Landgerichtsdirektor Woltering, nicht nur ein begabter Jurist, sondern vor allem auch ein bedeutender Mensch, ein hervorragendes Mitglied der Internationalen kriminalistischen Vereinigung, schien zu wissen, daß das Nachschaffen des vergangenen wirklichen Lebensereignisses im Gerichtssaale eine psychologische Befähigung, eine Gefühlstiefe und eine Gestaltungskraft erfordert, wie sie ähnlich der echte Dichter besitzt.

Seine Kunst, aus dem Angeklagten und den Zeugen, also aus lebendigen Menschen, herauszuholen, was sie in gegebenen Augenblicken wirklich gedacht und gefühlt hatten, stand, wie der Verlauf der Verhandlung zeigte, an psychologischem Werte kaum hinter der anderen Kunst zurück, nur gedachte Charaktere mit einer Geistes- und Empfindungswelt zu erfüllen, die ihren nur ersonnenen Lebensereignissen auf das feinste entspricht.

Argobast räumte ein, daß die Einträge in seinem beschlagnahmten Wanderbuche stimmen könnten, und daß er also tatsächlich an jenem einundzwanzigsten Juli in hiesiger Stadt geweilt haben werde. Alles übrige stellte er in Abrede.

Er bestritt, je mit dem Ermordeten Thomas Wrobel und dem Zeugen Kurstosch zusammen gewandert zu sein; er wollte sie nie gekannt haben.

Die vorliegenden Schriftstücke sowie die Photographie aus Goslar seien nie in seinem Besitze gewesen; die Schriftzüge stammten nicht von seiner Hand, das Bild stelle ihn nicht dar. Die Urteile der Sachverständigen müsse er als wissenschaftlich nicht beweiskräftig bezeichnen. Er habe auf seiner Brust nie eine tätowierte Flamme getragen.

Die Verteidigung Argobasts war ruhig und sachlich. Er vermied es, sich in allgemeinen Redewendungen, Beteuerungen und Klagen zu ergehen.

Weder herausfordernd noch gedrückt stand er da. Eine leichte Schwermut lag über seinem ganzen Wesen, aus der ein verhaltenes Weh über das ihm auf der Höhe seines Lebens widerfahrene Unglück zu sprechen schien.

Die verschiedenen Einwendungen und Vorhalte des Vorsitzenden wies er mit Bezugnahme auf seine gegebene Sachdarstellung, unter Vermeidung von Wiederholungen und Widersprüchen, zurück. Er fand einen besonnenen Ton und zeigte ein gemessenes Gebärdenspiel.

Der Eindruck seiner Verteidigung war günstig. An der Bewegung im Zuhörerkreise und auf der Geschworenenbank war das zu erkennen. Die Stimme des Präsidenten schien bei jedem Vorhalte milder zu klingen.

Wen in der ganzen Art der Verteidigung die Kürze, die Einfachheit, das Anspruchslose überraschen wollte, brauchte nur an den in der Öffentlichkeit bekannten Lebensgang und Charakter dieses Mannes zu denken. In diesen Eigenschaften allein lag wohl auch der Grund, daß Argobast noch nicht den Kommerzienratstitel erhalten hatte, eben weil er sich um ihn tatsächlich niemals bemühte.

Sein Wesen mit den Vorzügen und, wenn man wollte, auch mit den Schattenseiten der Selbsterziehung und der Entwicklung aus eigner Kraft spiegelte sich auch in seiner eigenartigen Verteidigung wider. Wer konnte erwarten, daß dieser Mann sich verteidigte etwa wie ein anderer Angeklagter?

Der auf Antrag des Verteidigers geladene Zeuge Wachtmeister Krusebaum eröffnete die vom Vorsitzenden streng chronologisch, gewissermaßen historisch gestaltete Beweisaufnahme.

Der Eindruck, den sein Bericht über das erste Verhör Kurstoschs hervorrief, war ein unbestimmter. Es war bewundernswürdig, wie der Präsident den Zeugen seine eigene eingehende Niederschrift bis in Kleinigkeiten getreu wiedergeben ließ.

Als nun Krusebaum im Eifer seines Berichtes alle jene menschlichen Fehler seines ersten Angriffs eigentlich ganz wider seinen Willen erzählte, schüttelte man hier die Köpfe, dort flüsterte man. Unter einer leichten Bewegung, die durch den Saal lief, trat er ab.

Der Zeuge Nikolaus Kurstosch wurde aufgerufen. Unter allgemeiner Spannung betrat er den Saal. Das gegen ihn geführte Strafverfahren mit dem freisprechenden Urteil war vorher in seinen Einzelheiten bekanntgegeben worden.

Der Messerschmied zeigte zwar nichts von der Aufregung bei seiner ersten Zeugenvernehmung, er besaß aber auch nicht die Ruhe, die er vor Staatsanwalt Custodies bewahrt hatte.

Schon bei seiner dritten, im Verlaufe der kurzen Voruntersuchung erfolgten Befragung hatte er an Sicherheit eingebüßt. So gab jede seiner vom Gesetze vorgeschriebenen Vernehmungen eigentlich ein anderes Bild, anstatt daß es, wie wohl der Gesetzgeber erwartete, einheitlicher wurde.

Den Sachverhalt über die Bekanntschaft der drei Walzbrüder, über ihr gemeinsames Wandern und Verweilen, über den Akt der Tätowierung erzählte er nicht fließend, sondern unzusammenhängend, mit Wiederholungen, mit kleinen Widersprüchen, die aufgeklärt werden mußten.

Die Vorgänge am Abend der Ermordung und nach der Tat, bei denen er angetrunken gewesen sein wollte, brachte er abgerissen, unklar, unruhig und ängstlich, mit bewegter Stimme vor.

Seine wiederholte Beteuerung, daß er die Untat nicht verübt und keine Mitwissenschaft an ihr habe, riß ihn in der Erinnerung an das erlittene Schicksal zu starkem Pathos, zur Anrufung Gottes, zu Schluchzen hin.

Er mußte die Goslarer Photographie und den Angeklagten, den er heute im Verlaufe der Untersuchung zum erstenmal persönlich sah, genau betrachten. Das tat er lange, ohne eine Antwort zu finden, nachdem er der Aufforderung des Vorsitzenden, dicht an die Anklagebank zu treten, scheinbar nur mit Widerstreben Folge geleistet hatte. Er zuckte die Achseln und machte Bewegungen mit den Armen.

Auf Befragen erklärte er, in sichtlicher Unzufriedenheit mit sich selbst, mit unsicherer Stimme, daß er heute beim besten Willen nicht sagen könne, ob der Angeklagte und der Photographierte der angebliche Schlosser Wolf aus Goslar sei.

Als ihm der Staatsanwalt Nigger, ein gesetzter, nüchterner Herr in mittleren Jahren, der die Anklage in der mündlichen Verhandlung vertrat, unter Hinweis auf seine Erklärungen vor Doktor Custodies arg zusetzte, geriet der Messerschmied in starke Erregung, legte gegen solch scharfes Verhör entschieden Verwahrung ein und erklärte schließlich, daß für ihn die Hauptsache seine heilige Versicherung sei und bleibe, daß er selber der Tat in jeder Beziehung vollständig fernstehe. Das wisse er, das könne er aussagen und beschwören. Das andere gehe ihn nichts an.

Er werde sich hüten, gegen seine Wissenschaft auch nur den Schein einer Behauptung aufzustellen, die einen unschuldigen Mann in Verdacht bringen könnte. Was nütze es, daß er erkläre, er habe ein Gefühl, als ob er den Angeklagten schon gesehen habe. Im Augenblicke, da er dies sage, habe er bereits das Gefühl, daß er sich irre. Je länger man ihn frage, desto unsicherer würde er in seinem Gedächtnisse. Man solle nicht Unmögliches von ihm verlangen und sich gefälligst selber hierherstellen, um eine solche Wiedererkennung nach fünfundzwanzig Jahren zu bekunden.

Die Stimmung im Hause, äußerlich kaum faßbar und nur dem tiefsten Kenner des Menschengeistes und der Menschenseele fühlbar, war entschieden auf der Seite des Zeugen. Jeder meinte im stillen, er würde sich in solchem Falle ganz ähnlich verhalten. Diese praktische Stellungnahme des Messerschmieds zu den beiden wichtigen Fragen hatte etwas für sich, seine einfache gesunde Logik überzeugte.

Befriedigend in gewissem Sinne war das Ergebnis, daß der Zeuge, der früher von den Geschworenen freigesprochen worden war, bei der Beteuerung seiner Unschuld blieb, aber auch den heutigen Angeklagten nicht belastete.

Und an eine Blutschuld Argobasts zu glauben, wurde dieser Laienversammlung noch schwerer; sie wehrte sich gegen eine solche Meinung nach besten Kräften. Sie lehnte sich nach bekannter Erfahrung auch mit einem geheimnisvollen Instinkt gegen den staatlichen Ankläger auf, der gegebenenfalls, wie der Vorgang zeigte, sich auch gegen die Unschuld drohend erhob und dem, um Fehlsprüche zu vermeiden, die Arbeit nicht zu leicht gemacht werden durfte.

Zum Mystischen geneigte Naturen dagegen fühlten sich gern in das Geheimnisvolle und Dunkle, das über den Ereignissen lag, ein und verglichen es, wie es heute diesen Saal beherrschte, mit den großen Geheimnissen draußen im Leben und Weltall.

Vielleicht war auch im Verborgenen ein vereinzeltes Gemüt vertreten, das im anreizenden Zwiespalt der Meinungen eine geheime Lust an der Qual des unglücklichen Opfers empfand und, mochte es schuldig oder nicht schuldig sein, dem immerhin gefürchteten Ankläger den Sieg wünschte, damit zur Beruhigung der kleinen Geister eine große Existenz vernichtet würde.

Noch einmal wurde der Zeuge Kurstosch in seinen Grundfesten erschüttert, als ihm der Vorsitzende die gedruckten und geschriebenen Beweisstücke vorhielt, die namenlos, ohne Unterschrift an die Staatsanwaltschaft gelangt waren.

»Sind Sie nicht selber der Meinung«, fragte er ihn, »daß nur ein Eingeweihter, sei es nun Ihr Goslarer Wandergenosse oder sonst ein Dritter, der der Täter gewesen wäre, an den Zeitungsbericht diejenigen Tatsachen berichtigend geschrieben haben kann, die, wie Sie zum Teil selber bekunden, den wirklichen Vorgängen so genau entsprechen? Und glauben Sie nicht auch, daß der wirkliche Mörder damals diese dringenden Gesuche an das Gericht und die Geschworenen geschrieben hat in einer Anwandlung von Reue, damit Sie selbst nicht als Unschuldiger verurteilt würden?«

Kurstosch zögerte mit der Antwort. Oben im Zuhörerraum entstand aus unersichtlichem Anlaß eine Unruhe; es wurden unverständliche Worte vernehmbar. Die nach oben gerichteten Blicke der Richter und Geschworenen genügten aber, um die Störung zu unterdrücken.

Der Zeuge erklärte, daß er die Fragen nicht recht verstanden habe, die der Vorsitzende deshalb wiederholte und hinzufügte: »Oder soll man annehmen, daß Sie damals, wie es zuweilen zu geschehen pflegt, im Untersuchungsgefängnis Gelegenheit hatten, mit einer Person in der Außenwelt in Verbindung zu treten, die dann durch ihr Schreiben Ihre Entlastung, eben weil Sie wirklich unschuldig waren, unternahm?«

Diesen Vorhalt verstand Kurstosch sofort und wies ihn mit Entschiedenheit zurück. Darüber, ob nur ein Eingeweihter, zumal lediglich der Täter, die Schriftstücke geschrieben haben könne, müsse sich das Gericht selber das Urteil bilden; er sei nicht imstande, so weit zu folgen.

Die alte Auffassung, daß das Tribunal gewisse Einzelheiten mit der Schaubühne gemeinsam hat, bewährte sich auch hier. Die Möglichkeit, Empfindungen und Gedanken aller vorgeführten Personen mit ihren eigentümlichen Abtönungen und Feinheiten zur Geltung zu bringen, kann an der Unzulänglichkeit einzelner Darsteller scheitern.

So war es bei Kurstoschs Persönlichkeit, wie er sich heute gab, nicht möglich, ihn zur Wiederholung seiner früheren Bemerkung zu bringen, daß er am Abende nach der Tat vor deren Bekanntwerden aus eigenen bösen Gedanken heraus in der Trunkenheit verdächtige Reden geführt hatte. Der Zeuge wich geflissentlich aus; in der Trunkenheit, erklärte er nur, rede man Torheiten wie im Traume.

Die schriftlichen Beweisstücke sowie die Photographie aus Goslar und Argobasts Bild mit den zugehörigen Vergrößerungen wurden den Geschworenen zur Besichtigung ausgehändigt, nachdem der Zeuge Rüggeberg, aus dem Zuchthaus vorgeführt, mit großer Bestimmtheit versichert hatte, daß er bei seinem Einbruche in Villa Hildburg diese Beweisstücke nicht in die Hände bekommen und sie deshalb auch nicht an die Staatsanwaltschaft abgeschickt habe.

Dieses ganze Ereignis, das weniger bekanntgeworden war, kam manchen überraschend und stimmte nachdenklich. Aus der Stille, die Rüggebergs Vernehmung begleitete, fühlte man heraus, wie die Gemüter hier zweifelnd zwischen Trug und Wahrheit schwebten.

Die Sachverständigen blieben mit großer Bestimmtheit bei ihren früheren Behauptungen. Vielleicht ließ unter ihren ausführlichen, nüchternen, zum Teil trockenen Darlegungen technischer Art die Spannung im Hause vorübergehend etwas nach. Ihre den Angeklagten stark belastenden Schlußergebnisse, deren Zerpflückung der Verteidiger freilich schon in Aussicht stellte, machten zwar einen Eindruck. Allein es wiederholte sich auch hier die allgemeine Erfahrung, daß der Laienverstand sich gegen solche leicht mit der Behauptung der Unfehlbarkeit vorgebrachte Meinungen wissenschaftlicher Männer im stillen gern auflehnt.

Der Gerichtsarzt, der zuletzt gehört wurde, erklärte, daß Argobast heute keinerlei Spuren einer ehemaligen Tätowierung auf der Brust mehr aufweise. Aber solche farbige Einstechungen seien nach bekannten Rezepten unschwer entfernbar. Am Tage der Verhaftung habe der Angeklagte deutliche Hautabschürfungen auf der Brust gehabt, die auf eine solche Selbstentfernung sehr wohl schließen ließen und insbesondere Linien wie auf den Zeichnungen der Flammenbilder durch Kurstosch gezeigt hätten.

Polizeiinspektor Skrandies hatte dem Verteidiger gegenüber einen schweren Stand, der auf sein Verhalten in der Badeanstalt, das er als übereifrig bezeichnete, aufmerksam machte. Wenn man wollte, konnte man als Ergebnis dieses Kreuzverhörs annehmen, daß der Polizeibeamte sich tatsächlich, wenn auch gutgläubig, in seiner Wahrnehmung, wenigstens im tätowierten Bilde, getäuscht hatte.

Der Vorsitzende fragte Argobast, ob er etwa seine Frau als Zeugin dafür benennen wolle, daß er die tätowierte Flamme niemals auf seiner Brust getragen habe, und fügte hinzu, daß unabhängig hiervon der Gerichtshof sich selbst und den Geschworenen die Entschließung vorbehalte, ob Frau Argobast etwa von Amts wegen als Zeugin vorgeladen werden solle.

Diese eine Frage nämlich hatte der Polizeibeamte nicht über seine Lippen gebracht, als er der überraschten Frau Argobast in einem günstigen Augenblicke die Goslarer Photographie vorlegte, und sie kopfschüttelnd verneinte, sie als Jugendbildnis ihres Mannes zu kennen.

Argobast erklärte mit Ruhe, ja mit Dank, daß er von dem Vorschlag des Herrn Präsidenten keinen Gebrauch machen wolle, da die Tätowierung nach dem Gange der Verhandlung nicht erwiesen sei, und er seiner an sich durch das Unglück hart getroffenen, nach ärztlicher Mitteilung schwer leidenden Frau das peinliche Erscheinen im Gerichtssaale ersparen wolle.

»Wir sind der Meinung«, erklärte den Geschworenen in seiner kühlen, aber sehr klaren Weise der Verteidiger, »daß wir in einer Sache, die vielleicht schon einen Mißgriff vor fünfundzwanzig Jahren aufzuweisen hat, zu keinem allzugroßen Beweisaufwand verpflichtet sind. In solcher Auffassung hat wohl auch Frau Argobast, vom Untersuchungsrichter vorgeladen, an ihn geschrieben, daß sie von ihrem Rechte der Zeugnisverweigerung Gebrauch mache –«

»Auch die Justiz darf sich der Rücksichtnahme auf das Nervensystem einer beklagenswerten Frau befleißigen«, fiel der Staatsanwalt im Tone leichter Schärfe ein, »und bei der Sachlage vielleicht Schlüsse ziehen, wenn sie in solchem folgenschweren Falle weder freiwillig spricht, noch vom Angeklagten benannt wird.«

»Wir für unsere Person«, antwortete der Verteidiger, »dürfen nach der Strafprozeßordnung, an die wir uns wohl halten wollen, den lückenlosen und tatsächlichen, nicht nur durch zweifelhafte wissenschaftliche Theorien und Schlußfolgerungen versuchten Nachweis erwarten, daß die vorliegenden Beweisstücke wirklich aus dem Besitze des Herrn Argobast stammen. Wir sehen auch hierüber der Ansicht der Herren Geschworenen entgegen. Dann erst könnten, dürften wir uns veranlaßt fühlen, weitere Erklärungen zur Entkräftung abzugeben. Wie denken Sie über solchen Nachweis, Herr Staatsanwalt? Wie wollen Sie ihn führen? Wo ist Ihr Kronzeuge?«

Der Staatsanwalt hatte sich eben erneut zu einer Antwort erhoben, als von den höchsten Stufen des Amphitheaters ein vernehmliches, von schriller Stimme gerufenes »Hier, Herr Gerichtshof!« ertönte.

Ein Blitzschlag hätte nicht wirksamer in das Haus treffen können. Nun hatte die Versammlung doch die Sensation, die sie bisher vermieden hatte. Aller Blicke waren hinaufgerichtet, wo unter den Zuhörern eine starke Bewegung, begleitet von Stimmengewirr, entstand.

»Wer stört die Verhandlung durch Zwischenrufe? Was bedeutet der Zuruf ›Hier, Herr Gerichtshof‹?« rief der Präsident hinauf.

Lautlose Stille. Niemand meldete sich. Erneute Unruhe oben auf den Sitzen. Aller Augen schienen sich auf eine Stelle zu richten.

»Er ist es gewesen! Er hat gerufen! ›Hier, Herr Gerichtshof!‹ hat er gesagt!« so schwirrte es oben durcheinander. Sie zeigen auf einen Mann, der sich zunächst zu dem Zurufe nicht bekennen zu wollen scheint, aber schließlich halb ärgerlich, halb lachend sich meldet.

Der Gerichtsdiener, der oben die Aufsicht führt, spricht lebhaft mit ihm. Eine kurze Auseinandersetzung ist unten nicht verständlich. »Dieser Mann«, ruft der Diener endlich herab, »behauptet, in der Sache als Zeuge Auskunft geben zu können.«

»Worüber? Wie kommt er dazu?«

Eine neue kurze Unterhaltung. Man kann den Mann gestikulieren sehen.

»Er will über die Herkunft der Beweisstücke Mitteilung machen können.«

»Wie heißt er?«

Man hört einige Worte.

»Das will er dem Gericht nur selber sagen. Der Angeklagte, behauptet er, kenne ihn gut.«

Unter den drei Richtern am Gerichtstische entsteht eine Bewegung.

»Der Mann soll herab in den Saal kommen!« ruft der Präsident hinauf.

Wieder Unruhe auf den oberen Sitzen, als der Mann seinen Platz verläßt und mit dem Gerichtsdiener verschwindet.

Eine Pause der beklommenen Erwartung entsteht. Es scheint eine Ewigkeit zu dauern, ehe der Mann über Treppen und Gänge herabkommt.

Endlich betritt er, von allen Augen betrachtet, den Verhandlungsraum. Er macht einen scheuen Eindruck, als habe er seine Handlungsweise bereits bereut. Sein Äußeres ist vernachlässigt; wirr hängt ihm sein schwarzes Haar in die Stirn.

»Wie heißen Sie?« fragte ihn der Vorsitzende.

»Herr Argobast kennt mich« klang es unschlüssig aus seinem Munde.

»Sie müssen dem Gericht über Ihre Person Auskunft geben, ehe Sie zur Sache gehört werden können.«

»Robert Erkelenz« antwortete er, vor dem Zeugentische stehend.

Michael Argobast richtete sich auf.

»Sie wollen in der Sache gegen den Angeklagten als Zeuge auftreten?«

»Jawohl – ich wollte –«

»Worüber? Wie kommen Sie dazu? Woher kennen Sie ihn?«

»Ich muß gegen diese unvorbereitete Einführung eines unbekannten Zeugen in die Beweisaufnahme Verwahrung einlegen« rief Doktor Zscherper dazwischen.

»Das Gericht ist gleichwohl in der Lage, der Vernehmung näherzutreten« antwortete Woltering.

»Herr Argobast kennt mich – fragen Sie ihn« erklärte der Zeuge.

Der Präsident sah den Angeklagten an, der zustimmend nickte.

»Worüber können Sie aussagen?«

»Über die Beweisstücke – über die alten Zeitungen mit den Verhandlungsberichten.« Er stotterte.

»Worüber weiter?«

»Über die unvollendet gebliebenen Eingaben an Gericht und Geschworene – über die Photographie aus Goslar.«

Der Zeuge, der die einzelnen Sätze fast unwillig herausstieß, hielt inne.

»Nun?« fragte Doktor Woltering mit merkwürdigem Gesicht unter allgemeiner Spannung des Hauses.

»Ich – ich habe sie alle auf dem Umwege über Leipzig an die Staatsanwaltschaft geschickt.«

Vielleicht blieb der Eindruck dieser Erklärung hinter den Erwartungen des Zeugen zurück. Man konnte im Augenblick ihre Tragweite nicht fassen.

»Und wie – wie kommen gerade Sie zu diesen Beweisstücken?« fragte der Präsident mit gelinder Herabstimmung seiner Erwartungen.

Einzelne im Zuhörerkreise wollten bereits lächeln.

»Ich habe sie dem Schreibsekretär des Herrn Argobast entnommen.«

»Aus Villa Hildburg?«

»Jawohl.«

»Wann geschah das?«

»Gegen Mitte August vorigen Jahres.«

»Wie kamen Sie in das Haus? In die Zimmer? In den Sekretär?«

Er zögerte mit der Antwort. »Ich bin gewaltsam mit Sperrhaken eingedrungen.«

»Um zu stehlen? Sind Sie vorbestraft?«

»Nicht um zu stehlen.«

Argobast meldete sich zum Wort. »Dieser Mann, meine Herren, wurde von mir im Juni vorigen Jahres«, erklärte er mit bewegter Stimme, »unmittelbar aus dem hiesigen Zuchthause, wo er fünf Jahre verbüßt hatte, in die Freiheit übernommen.«

Der Angeklagte hielt inne, Erkelenz senkte den Blick.

»Ich gab ihm lohnende Arbeit in meinem Werke, verschaffte ihm eine geordnete Häuslichkeit, setzte ihm ein Aufrücken in eine gute Stelle in baldige Aussicht –«

Weiter konnte er zunächst nichts sagen. Der Eindruck war unbeschreiblich. Dieser furchtbare Undank, der vorzuliegen schien, ließ die Zuhörer erbeben; Hände zitterten, Fäuste ballten sich unwillkürlich.

Und nun erzählte Argobast ohne Pathos, ohne Sentimentalität, einfach nach seiner Art weitere Einzelheiten – insbesondere das Geigenspiel – aus der Rettungsarbeit an Robert Erkelenz, und nahm auf Direktor Muskalla, auf Frau Schubnell und andere Bezug.

»Sind die Angaben des Angeklagten richtig, Herr Erkelenz?« fragte Doktor Woltering.

Er nickte mit finsteren Blicken.

»Und trotz dieser Wohltaten, mit denen er Sie überhäuft hatte, wollten Sie ihn bestehlen, haben Sie ihn bestohlen – brachen Sie in seine Häuslichkeit ein –?«

»Ich habe ihm nichts gestohlen – Wein habe ich aus seinem Keller getrunken – seine Zigarren habe ich geraucht.«

»Sonst nichts?«

»Einen Reichskassenschein, den ich zufällig fand, habe ich liegengelassen – nichts habe ich genommen außer den Beweisstücken – ich wollte ihn auch nicht bestehlen.«

»Vielleicht wird man Ihnen diese Versicherung glauben – denn eine solche Verruchtheit, soviel Güte und Wohltat mit schnödestem Undank zu lohnen, wird man bei einem Menschen kaum für möglich halten.«

Erkelenz schwieg einen Augenblick in starker Befangenheit und fand nicht die richtigen Worte. »In der Villa bin ich gewesen«, sagte er schließlich, »die Beweisstücke stammen von mir – ich habe sie gefunden – das kann ich beschwören.«

»Meine Herren«, so wandte sich der Landgerichtsdirektor mit innerer Bewegung an die Geschworenen, »es scheint dieser Strafsache anzuhaften, daß heute ähnlich wie vor fünfundzwanzig Jahren eine unbefugte Hand von außen in die Fäden der Beweisaufnahme eingreifen will. Daß solche Beispiele ansteckend wirken, ist als Folge der Öffentlichkeit unseres Strafverfahrens leicht zu begreifen. Ich möchte die Frage anregen, ob nicht ein eigentümlicher Charakter, der der heutigen Verhandlung beigewohnt und von dem rätselhaften Eintreffen der neuen Beweisstücke gehört hat, den Anreiz verspüren kann, das große Geheimnis, um dessen Enthüllung wir ringen, äußerst einfach dadurch zu lösen, daß er sich selbst als wichtige ausschlaggebende Mittelperson einschiebt.«

Man atmete auf.

»Auch ich bitte die Herren Geschworenen, diese Erwägung anzustellen«, fügte der Verteidiger hinzu, »und sich dabei gegenwärtig zu halten, was eine verdorbene, eine verbrecherische, vielleicht auch krankhafte Phantasie nach der Gerichtserfahrung der letzten Jahre sich auszusinnen, aufzubauen vermag.«

Erkelenz, dem bei solcher, wohl nicht erwarteten Behandlung die Röte ins Gesicht stieg, wurde vom Staatsanwalt in ein Verhör genommen. Er wurde gefragt, wie er die Beweisstücke über Leipzig an die hiesige Staatsanwaltschaft aufgegeben habe. Er nannte trotzig Namen und Wohnung einer Näherin in Leipzig, mit der er von früher befreundet sei; diese habe ihm den Gefallen der Vermittlung erwiesen.

Die Näherin Werner wurde sofort vom Gericht durch Fernruf an die Leipziger Polizei als Zeugin geladen.

Der Staatsanwalt redete dem unerwarteten Zeugen ins Gewissen. Er solle sich nicht schlechter machen als er vielleicht sei und den vernünftigen Beweggrund angeben, der ihn, ohne die Absicht, zu stehlen, veranlaßt habe, in die Häuslichkeit seines Wohltäters gewaltsam einzudringen – in seinen Papieren zu stöbern.

Erkelenz warf einen finsteren Blick nach Argobast hinüber. »Ich wollte den Mann kennenlernen« murmelte er.

»Weshalb? Sie kannten ihn ja – er hatte Ihnen Gutes getan!« rief ihm der Verteidiger zu.

»Ich kannte ihn doch nicht – nicht richtig – in seinem Innersten kannte ich ihn nicht – vielleicht hatte ich, ohne es zu wissen, eine Ahnung, daß wir zusammengehörten.«

»Wieso?« fragte der Staatsanwalt.

»Daß er war wie ich – schuldbeladener als ich.«

»Wollen die Herren Geschworenen diese Erklärung festhalten!« rief der Verteidiger. »Wir Kriminalisten wissen, daß die Verbrecher sich zuweilen als Märtyrer fühlen und gern Schicksal spielen – es wäre nicht der erste Fall.«

Erkelenz sah den Verteidiger hohnlächelnd an.

»Können Sie den unmittelbaren Nachweis erbringen, daß Sie diese Beweisstücke, von denen Sie sprechen, im Schreibsekretär des Angeklagten gefunden haben?« fragte der Staatsanwalt schnell.

»Ja –« schrie Erkelenz in den Saal und stampfte mit dem Fuße.

Ein kurzer Tumult entstand, den der Staatsanwalt beschwichtigte.

»Welche Beweise – reden Sie!«

»Stellen Sie mich auf die Probe. Führen Sie mich nach der Villa. Kommen Sie mit, Herr Advokat, ich lade Sie ein! Ich will Sie durch alle Räumlichkeiten führen, ich werde die Schubfächer bezeichnen, in denen ich die Schriftstücke fand – ich werde Ihnen sagen, welche sonstigen Schriftstücke, Briefe, Photographien und Erinnerungen noch vorhanden sind.«

»Nennen Sie dieselben!« sagte Doktor Woltering, die Verhandlung wieder an sich ziehend.

»Nein, Herr Präsident! Sie könnten, bis wir dort sind, verschwunden sein – Sie sagten etwas von Ansteckungsgefahr.«

»Ich beantrage die Aufnahme dieses angebotenen Beweises,« erklärte der Staatsanwalt entschlossen.

Der Verteidiger zuckte die Achseln; er war nach dem Gesetz nicht in der Lage, dem Antrag entgegenzutreten.

Der Präsident verkündete den Beschluß, daß dem Antrag des Staatsanwalts stattgegeben werden sollte.

Ein Beisitzer des Schwurgerichts, ein älterer Landgerichtsrat, der Berichterstatter, wurde mit der Beweisaufnahme betraut. Staatsanwalt und Verteidiger erklärten, beiwohnen zu wollen. Auch einige Geschworene schlossen sich an. Argobast verzichtete auf seine Anwesenheit. Polizeiinspektor Skrandies sollte das Gericht begleiten, um zur Vermeidung einer umständlichen Protokollaufnahme als amtlicher Zeuge über die Vorgänge berichten zu können.

Das Publikum räumte, enttäuscht, daß die Entscheidung hinausgeschoben wurde, zögernd das Haus. Nicht alle hatten ganz genau begriffen, worum es sich handelte. Aber nun sprach es sich weiter von Mund zu Mund. Einer setzte es dem anderen auseinander. Eine müßige Schar stellte sich am Portal auf und folgte den beiden Wagen, in welchen die maßgebenden Personen nach Villa Hildburg fuhren.

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