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Einundzwanzigstes Kapitel

Mit recht eigentümlichen Gefühlen trat Ottokar Custodies seine Dienstreise nach der russischen Grenze an. Er hatte sich lange genug gegen sie innerlich gesträubt. Nun hatte sogar der Erste Staatsanwalt nachgefragt, wann er sie angesetzt habe.

Vergeblich suchte er dieser inneren Verstimmung Herr zu werden, deren Ursache ihm eigentlich unverständlich war. Das konnte er nicht gelten lassen, was Ottilie neulich leicht hingeworfen hatte. Es war nur eine vorübergehende Beeinflussung gewesen, daß ihn dieses Gedankens Blässe von einer vermeintlichen Härte des Strafprozesses angekränkelt hatte.

Und doch war er kein gutgestimmter Reisender, der die Eindrücke einer langen Eisenbahnfahrt durch schöne Länderstrecken voll Behagen mit der Einförmigkeit des Amtszimmers vertauscht hätte. Ernst, mißtrauisch, fast trübe blickte er in die Landschaft hinter Frankfurt hinaus, obwohl gerade in diesem Spätherbst die Laubfärbung in prächtigem, sonnebeglänzten Altgold die Wälder längs der Bahnlinie schmückte.

Mit Ottilie hatte er über seine Dienstfahrt absichtlich kaum zwei Worte gewechselt. Das fehlte ihm so in seiner merkwürdigen seelischen Bedrängnis, daß er sich nicht hatte aussprechen können.

Es wollte ihm mit einem Male vorkommen, als fahre er als ein Fremder und Heimatloser in die Welt hinaus, den mit dem Zurückgebliebenen nur leichte Beziehungen verknüpften; als lösten sich, je weiter er sich von zu Hause entfernte, auch um so lockerer die stärksten Bande. Waren es diese seltsamen, unerfreulichen und niederdrückenden Gefühle, vor denen er sich, als habe er sie geahnt, so gefürchtet und deshalb die Reise hinausgezögert hatte? Er wußte es nicht und spürte nur die bangen Zweifel mißmutig in seinem Innern.

Die Verschlossenheit, die Argobast seit einigen Wochen ganz allgemein zeigte, richtete sich unwillkürlich auch gegen den Schwiegersohn. Die Meinungsverschiedenheiten, die vor dem Verlöbnis zwischen ihnen unausgesprochen geherrscht hatten und die im Laufe der Monate so freundlich überbrückt worden waren, taten sich, so schien es, unter den eingetretenen Umständen erneut auf. Argobast nahm wohl in einem übertriebenen Mißtrauen an, daß er seine Grundsätze in den Augen des Schwiegersohnes als gescheitert ansehen sollte.

In Bebra stieg in das Nichtraucherabteil zweiter Klasse, in dem Custodies seit Frankfurt zu seiner Genugtuung allein gesessen hatte, eine Dame. Mit einem leichten Neigen des Kopfes grüßte sie schweigend beim Hereintreten und nahm ihm gegenüber am Wagenfenster Platz, überrascht hatte er sich verbeugt.

Sich gegenübersitzend, nahmen sich beide in der bei solcher Gelegenheit üblichen Weise forschend und prüfend, nachdenklich und kritisch, weder freundlich noch feindlich, in Augenschein. Keiner sprach ein Wort, keiner hatte dazu Gelegenheit, keiner gab dazu Anlaß. Das notwendige Schweigen erhöhte die Spannung.

Wer kennt nicht das eigentümliche Gefühl, das auf Reisen solche ganz fremd hereintretende Personen doch als bekannt erscheinen lassen will, weil sie in engem Raume so nahe sind und unwillkürlich aus einer dem Menschen angeborenen Gewohnheit zum Vergleichen herausfordern? Eine ähnliche Empfindung stieg flüchtig auch in Custodies auf, um sich zunächst in seiner allgemeinen Niedergeschlagenheit wieder zu verlieren.

Die Dame war jung, vielleicht einige zwanzig Jahre, von schlanker und doch voller Erscheinung. Einen großen Reiz verlieh ihr das wundervolle, in starken Flechten unter dem graziösen weißen Federhut geschlungene hellblonde Haar. Unter den feinen seidenen Wimpern schauten zwei blaue Augen mit freundlich-ernsten Blicken drein. Die Hautfarbe des ovalen, in größeren Linien gezeichneten Gesichts war rosig, die ausgeschnittene grüne Seidenbluse verriet einen weißen gemeißelten Hals, die kurzen Ärmel einen schöngeformten Arm.

Beim Ablegen und Nachsehen ihres kleineren Handgepäcks erhob sie sich mehrere Male, so daß sie wiederholt in ihrer stattlichen Erscheinung vor Ottokar stand. Als er seines Mißmutes Herr zu werden versuchte und ihren Eindruck unbefangen zur Geltung kommen ließ, hatte er mit einem Male die seltsame Empfindung, als sei während seiner herbstlichen Fahrt ein Frühlingsgruß hereingeweht. Er konnte nicht sagen, wie er gerade zu diesem Vergleiche kam; aber er fand ihn recht treffend. Draußen lachte der Himmel so blau wie im Lenz, und einen schönen Veilchenstrauß trug sie auch in dem goldenen Gürtel.

Nachdem sie, in das Polster zurückgelehnt, die vorüberfliehenden Landschaftsbilder eine Zeitlang betrachtet hatte, öffnete sie ihre feine, violette Handtasche und entnahm ihr in einer gestickten Lesemappe ein Buch. Sie schlug es auf, blätterte in ihm und las anscheinend mit großem Interesse, in der nächsten halben Stunde kaum einmal aufblickend, eine ganze Reihe Seiten.

Ottokar fühlte sich nicht unglücklich, daß er dazu bestimmt zu sein schien, immer dieses »lesende Mädchen«, wie er das Porträt oder Genrebild vor seinen Augen im stillen nannte, unmittelbar vor sich zu sehen. Die geheime Anziehung, welche schöne Gesichtszüge unwillkürlich auf das Menschenauge auszuüben pflegen, offenbarte sich auch hier. Die lange Fahrt bot ihm rechte Muße, alle Einzelheiten ihrer Erscheinung, sogar, als sei er ein Maler, den Faltenwurf ihres dunkelblauen Rockes und das Farbenspiel ihrer ganzen Erscheinung in der wechselnden Beleuchtung zu studieren.

Ehe der Schnellzug in Gotha einfuhr, ging ein alter Herr im Gange vorüber und blieb, die Dame erblickend, einen Augenblick an der Abteilungstür stehen. Sie sah auf, erkannte ihn und erhob sich.

»Exzellenz –?«

»Gnädiges Fräulein –?«

Sie begrüßten sich.

»Was macht der Herr Papa? Kommen Sie von zu Hause?«

»Ich danke – auf Umwegen – ich war auf drei Tage in Kassel bei meiner Tante.«

»Wie geht es Frau Lobenstein? Habe sie leider seit einem Jahre nicht gesehen – ich fahre nach Gotha.«

»Zum Herzog?«

»Auch mit. Der Koburger ist zu Besuch da. Es sollen hohe Festtage werden – wohin geht Ihre Reise?«

»Nach Breslau – nur wenige Tage – einem Patchen zum Geburtstag zu gratulieren.«

»Auch meine herzlichsten Glückwünsche, wenn ich bitten darf – haben Sie schon solche Repräsentationspflichten? Papa hat, wie immer, viel zu tun?«

Sie lachte. »Jawohl, und Mama liebt das Reisen noch immer nicht.«

»Gotha – drei Minuten Aufenthalt –« rief der Schaffner.

»Ich habe mich sehr gefreut – beste Grüße –«

»Darf ich Exzellenz behilflich sein?«

»Zu gütig, meine Gnädigste.«

Sie verließ ihren Platz und trat mit ihm in das benachbarte Abteil erster Klasse.

Custodies, durch das Gespräch aufmerksam geworden, stand ebenfalls auf und trat in den Gang.

Das junge Mädchen sah sich im Nebenabteil sorgsam um, damit die alte Exzellenz nichts von dem zahlreichen Reisegepäck zurücklasse, und trug eine kleine Tasche bis an die Wagentüre, wie sehr er in ritterlicher Weise dies zu verhindern versuchte. Vor dem Wagen plauderte das Paar in ungezwungener Heiterkeit noch zwei Minuten, bis der Bahnschaffner zum Einsteigen aufforderte.

Weshalb fühlte sich Doktor Custodies von diesem harmlosen, an sich gar nicht ungewöhnlichen Vorgange so eigenartig berührt? War es wirklich die höhere gesellschaftliche Umgebung, in der er die alte Exzellenz und vielleicht auch die Unbekannte im Geiste erblickte, die seiner gut bürgerlichen Gesinnung und Erziehung doch etwas schmeichelte? Machten diese vornehmen und ungezwungenen Umgangsformen, diese sehr höflichen Worte auf ihn Eindruck? War ihm das alles etwas Neues, Ungewohntes, Angenehmes? Stellte er im stillen Vergleiche an? Fehlte ihm in seinem Lebenskreise dergleichen? Hatte er es vermißt?

Weshalb war er im stillen so freudig bewegt, als dieser alte stattliche Herr, nach seiner Haltung ein ehemaliger General, beim Abschiede sein schneeweißes Haar vor der jungen Dame so lange entblößte, als sie ihm so treuherzig die Hand schüttelte? Fiel ihm der herzliche und sichere Ton ihrer schönen Sprache auf?

Es schien ihm im Augenblicke, als senkte sich leise ein Schleier vor seinen Augen herab, als blieben seine heimatlichen Verhältnisse immer weiter hinter ihm zurück.

Es gelüstete ihn, wie er sich gestand, die Unbekannte, mit der er vielleicht bis Breslau zusammen reisen sollte, schnell einzuschätzen, das war so seine eigentümliche Art. Aus ihrer Lektüre wollte er sie erkennen.

Ihr Buch, in dem sie gelesen hatte, lag geöffnet auf dem Polstersitze. Als wollte ihm der Zufall lächeln, hatten sich die Seiten umgeblättert, so daß er mit Leichtigkeit das Titelblatt lesen konnte.

»Die Liebe der Freifrau von Herder« hieß der vielversprechende Roman. Der Name des Schriftstellers war ihm unbekannt.

Einen großen Teil des Buches schien die Leserin schon hinter sich zu haben, sie hatte tatsächlich selten eifrig gelesen. Fast hätte er sich durch die unausgesetzte Lektüre verletzt fühlen können. Der Romanstoff schien also ihrem Interesse zu entsprechen. »Die Liebe der Freifrau von Herder«! Ottokar wurde nachdenklich.

Die Dame kehrte zurück. In Erinnerung des gepflogenen Gesprächs umspielte noch eine Heiterkeit ihre Züge. Sie nahm wieder Platz, sah kurze Zeit still lächelnd in die Landschaft hinaus, um dann aufs neue ihr Buch zur Hand zu nehmen und bis Weimar – also ebenfalls beinahe eine Stunde – fast ohne Aufsehen zu lesen.

Ottokar spürte die bei solchen Gelegenheiten bekannte Unzulänglichkeit, schnell einen gesellschaftlichen Anknüpfungspunkt zu einem Gespräch zu finden, die also selbst einen wortgewandten Staatsanwalt befallen konnte. Am so merkwürdiger wurde im weiteren Verlaufe der Fahrt sein Verlangen, die reizvolle Reisebekanntschaft zu machen. Daß die Reise die gesellschaftlichen Annäherungsformen auch in besten Kreisen erleichtert und auch sonstige Bedenken beseitigt, hatte er unwillkürlich im Gefühl. Er konnte sich mit einigem guten Willen auch einbilden, daß sie selber einer Unterhaltung nicht abgeneigt sei.

Aber sie schien nicht im entferntesten daran zu denken, ihm den beabsichtigten Schritt etwa dadurch erleichtern zu wollen, daß sie ihr Täschchen oder gar ihr Buch wie unabsichtlich hinabgleiten ließ. Im Gegenteil glaubte Custodies zu bemerken, daß ihre Hände Tasche und Buch recht fest hielten. Nein, diese weichen und doch bestimmten Züge, diese hellen Augen schienen ihm zu sagen, daß er die Gefahr des Annäherungsversuches als Mann ganz allein zu tragen habe.

In diesem Augenblicke, angesichts der Türme von Naumburg, sah er einen hellglänzenden länglichen Gegenstand am blauen Himmel hinschweben und ließ sich fast unwillkürlich den Ausruf: »Ein Zeppelin!« entschlüpfen.

Er stand auf, um das Luftschiff, das über der Stadt kreiste, genau zu verfolgen. Auch die junge Dame richtete sich auf und beugte sich vor.

Er mußte mit einem »Bitte« zurücktreten, um ihr die Aussicht freizugeben. Sie dankte, erhob sich ebenfalls und verfolgte, neben ihm am Fenster stehend, das blendende schwebende Bild. Es schien sich zu ergeben, daß beide aus Gegenden kamen, wo Zeppeline, die erst seit kurzem die ersten Fahrten unternahmen, zu den Seltenheiten gehörten.

Er machte auf die majestätische Ruhe aufmerksam, mit der das geflügelte Schiff durch die Lüfte zog. Sie bestätigte. Ein Wort gab das andere, bis Naumburg ihren Blicken entschwand. Die Bekanntschaft war gemacht.

Zunächst trat freilich wieder eine Viertelstunde der Lektüre ein, der bei der Annäherung an Leipzig zu Ottokars Leidwesen das Mittagessen im Speisewagen folgte. Er hatte schon am Morgen einen Platz belegt.

In Leipzig mußten sie umsteigen. Ottokar war ihr hierbei behilflich.

Der kurze Aufenthalt auf den Leipziger Bahnhöfen brachte das Paar wieder näher; man stieg auch wieder zusammen in dasselbe Abteil.

Auf der Fahrt nach Dresden kam man unwillkürlich eifriger in das Gespräch.

»Welche interessante Lektüre hat Sie heute schon so sehr gefesselt, gnädiges Fräulein?« fragte er endlich.

Sie lächelte. »Ein sehr eigenartiger Roman von einem noch wenig bekannten, aber hoffnungsvollen Schriftsteller.«

Sie reichte ihm das aufgeschlagene Titelblatt, das er halblaut las.

»Darf man wissen, welcher Art diese Liebe der Freifrau von Herder wohl ist?« fragte er etwas schalkhaft.

Sie dachte einen Augenblick nach und skizzierte dann oberflächlich und kurz Handlung und Charaktere.

»Der Autor will«, sagte sie, »das Verhältnis zwischen Mann und Frau in der Ehe zeigen. Er behauptet, daß in einer harmonischen Ehe die Frau immer die Spenderin und Hüterin der Liebe sein und bleiben müsse. Hierzu soll sie erzogen werden, dazu soll sie sich selbst erziehen. Hierin liege eine der vornehmsten und schönsten Aufgaben der Menschheit.«

»Wie soll sie erfüllt werden?« fragte er interessiert.

»Durch eine gewisse Umwertung von Werten. Die Stellung der Frau soll gehoben werden. Nicht etwa durch Emanzipation, im Gegenteil durch Zurückführung auf ihr Ewig-Weibliches, wie die Heldin Freifrau von Herder selbst ausspricht.«

»Darf man auch Näheres wissen?« fragte er galant.

Sie schien seine Diskretion anzuerkennen, sie sah ihn einen Augenblick an. »Die große Sicherheit des Weiblichen«, sagte sie mit zögernder Bescheidenheit, »liegt nach dem Autor in der Gefühlssphäre, die durch übertriebene geistige Bildung eher beeinträchtigt als gefördert werden kann, überhaupt müßte dieses Weibliche, meint er, zarter angefaßt werden als es geschieht. Der Hauptanteil liege bei der Männerwelt. Ihr komme die Sicherheit des Weiblichen am meisten zugute, sie vor allem soll sie ihm auch bewahren helfen.«

Nicht bloß was sie sagte – es war nicht ganz neu –, vor allem wie sie es sagte, hielt ihn immer mehr gefangen. Er hätte am liebsten gar nicht gesprochen, wenn er nicht durch Zwischenfragen das Gespräch hätte im Gange halten müssen. Seine eigenen Worte klangen ihm so nüchtern, so nichtssagend. Schon der Klang ihrer Stimme, ihre reine Sprache hatte etwas Besonderes,

»Und wie hätten wir das zu beginnen, meine Gnädigste?« fragte er.

»Die Frau muß, versichert Frau von Herder, in der Lage sein, immer die Spenderin der Liebe zu bleiben, sie muß sich dazu aus sich selber heraus befähigen, aber der Mann muß ihr hierbei helfen.«

Obwohl sie weder zu den emanzipierten noch zu den gelehrten jungen Damen zu gehören schien, sprach sie über die schwierige Frage einem jungen Manne gegenüber mit solcher inneren und äußeren Sicherheit, mit solcher jeden Beigeschmack ausschließenden Feinheit, daß Custodies sich des Eindruckes nicht erwehren konnte, als sei sie selber – bewußt oder unbewußt – eine geborene Vertreterin solcher sicheren Weiblichkeit, der sie das Wort redete.

Er sah sie mit gespannter Miene an und forderte sie damit, wie sie wohl verstand, stillschweigend zur weiteren Entwicklung der Romanidee auf.

»Soll nun alles das geschehen, was unser Schriftsteller für erstrebenswert hält«, fuhr sie nach einigem Überlegen mit schalkhaftem Lächeln, das sie entzückend kleidete, fort, »so muß der Frau – Sie verzeihen, wenn es Sie überrascht – in der Gefühlssphäre der Ehe und in dem, was äußerlich damit zusammenhängt, ein gewisses Übergewicht vom Manne freiwillig wohlwollend, hingebend – eingeräumt werden. Das Unfreiwillige wäre zwecklos.«

Doktor Custodies war in der Tat überrascht. »Das liefe also darauf hinaus –«

»Daß dem Weiblichen«, fuhr sie noch immer lächelnd fort, »eine gewisse höhere Verehrung, wenn Sie wollen, Unterwerfung im besten Sinne des Wortes erwiesen würde. Der Schriftsteller behauptet, daß gerade hierbei dem Männlichen selber am besten gedient werde, weil seine eigenen Strebungen sich in dieser Richtung bewegten.«

Er war zu sehr ein kraftvoller Vertreter männlicher Eigenart, als daß ihre Behauptung nicht unwillkürlich zunächst einen gewissen Widerspruch in ihm geweckt hätte. »Aber wären solche Verhältnisse in allen Gesellschaftskreisen möglich?« bemerkte er mit einem leichten Erröten.

»Der Roman zeigt sie in einer aristokratischen Ehe«, antwortete sie, »auch Frau von Herder selbst ist von adliger Geburt. Sorgenlose, vornehme Verhältnisse können nach dem Autor den Boden für solche Entwicklung geben.«

Vergeblich suchte er aus dem Ton ihrer Stimme herauszuhören, ob sie hierbei, wenn auch unbewußt, etwa in eigener Sache spräche. Er hielt sie für eine Adlige; aber es fehlte in ihren Worten an jedem Anhalt auch nur für die geringste gesellschaftliche Überhebung; gerade hierin lag ein unbeschreiblicher Reiz.

»Und Frau von Herder kommt nie in Versuchung, mit ihrem Einflusse Mißbrauch zu treiben?« fragte er anscheinend mit gelindem Zweifel.

»In leichte Versuchung kommt sie wohl, aber sie überwindet sie spielend, gerade in diesen Schilderungen ergeht sich ein interessanter Teil des Romans. Sie ist immer die Siegerin über sich selbst.«

»In der Tat, eines der interessantesten Unterhaltungsbücher, das ich mir denken kann!« erklärte er lebhaft. »Und ein Ausnahmefall soll nicht gezeigt werden?«

»Im Gegenteil, ein Typus, der Nachahmung würdig, der Ausbreitung fähig. In der Nebenhandlung werden in schöner Schattierung ähnliche Ansätze in bürgerlichen und auch in arbeitenden Kreisen entworfen, die einer Höherzüchtung zu harren scheinen – gerade deshalb gewinne ich das Buch lieb.«

Er hatte sich in seiner Annahme getäuscht und hörte nun aus ihrer Schlußbemerkung, die sie zu betonen schien, heraus, daß sie eine Bürgerliche war. Daran hatte er im stillen eine gewisse Freude.

Er sah sie immer wieder überrascht an und glaubte im Traume zu hören, was sie sagte. Sie selber kam ihm vor wie ein liebliches Traumgebilde, das nicht von Dauer sein konnte.

Verschiedene Fragen lagen ihm auf den Lippen, mit denen er auf das angeschlagene Thema näher eingehen wollte.

Er dachte daran, ob der Autor nicht schließlich die alte Lehre predige, daß die Frau immer die Geliebte ihres Mannes sein und bleiben solle und daß er selber zugleich alles tun müsse, um ihr diese Stellung zu erhalten. Aber nichts von dem kam über seine Lippen. Als er sie aber ansah, lag in seinen Augen das Geständnis, daß er sie selber, die eben gesprochen hatte, dieser Fähigkeit, immer die Geliebte des Gatten zu bleiben, sehr wohl teilhaftig halten würde.

Er wurde nachdenklich und vertiefte sich einige Augenblicke in die männliche Artung, wie er sie zu kennen glaubte.

Endlich kam ihm ein neuer Gedanke des Widerspruches, den er im Innern wider Willen immer noch suchte. »Aber Sie haben noch kein Wort von Herrn von Herder erzählt, meine Gnädigste! Auf ihn kommt natürlich sehr viel an. Was ist er für ein Mann? Ich fürchte –«

»Was fürchten Sie?« lachte sie herzlich.

»Er ist ein Mann – wie sage ich –?« Er kam in eine gewisse Verlegenheit.

»Sie meinen, er ist ein Schwächling?« lachte sie immer noch.

»Nein!« verwahrte sich Ottokar etwas beschämt.

»Oder ein schwacher Mann?«

Er zuckte die Achseln zum Zeichen der Zustimmung.

Sie lachte nicht mehr. »Sie irren, er ist ein starker Mann, eine Willensnatur, ein Held.«

»Was hat er getan?« fragte er betroffen.

»Er war im Kriege ein tapferer Offizier. Er hat die ererbten, etwas heruntergewirtschafteten Güter durch Umsicht und Arbeit äußerst ertragreich gestaltet. Er ist der erste Landwirt im Großherzogtum. Er verbreitet Segen unter denen, die mit ihm arbeiten. Er fördert die Wohlfahrt des ganzen Landes. Er sieht kriegerische Ereignisse voraus und befürchtet von England eine Absperrungspolitik. Er will sein deutsches Land groß und stark machen, damit es sich auch landwirtschaftlich selbst ernähren kann! Er ist eine durch und durch gesunde Natur, eine kraftvolle Persönlichkeit.«

Sie errötete leicht, als sie den Helden so vorteilhaft schilderte.

Er wußte eigentlich nichts mehr zu erwidern. Er gab sich für besiegt, gab sich gern für besiegt. Was sie an der Hand des Romans gesagt hatte, war alles richtig und überzeugend. Sein Herz war voll. Er hätte so vieles hinzufügen können.

»Und der Roman läuft auch glücklich aus?« fragte er schließlich, um den Faden sich noch nicht entgleiten zu lassen.

»Äußerst glücklich!« antwortete sie. »Es ist ein starkes Buch. Das Geschlecht derer von Herder scheint für alle Zeiten gesichert. Kraftvolle Söhne und echt weibliche Töchter wachsen neben den wunderbaren Eltern heran. Darin gipfelt gerade die Lehre des Autors: er zeigt den Weg zu einer Höherzüchtung des Menschengeschlechtes.«

Er wollte etwas erwidern, schwieg aber, weil er merkte, daß sie noch etwas hinzufügen wollte.

»Um sein Menschheitsideal gewissermaßen zu nationalisieren und zu symbolisieren«, schloß sie mit lebhaften Augen, »läßt der Autor den Helden Freiherrn von Herder einen Nachkommen des großen Herder sein, der der deutschen Eigenart, die er zuerst wieder erkannte, so herrlich das Wort geredet hat!«

Der literarischen Aussprache folgte im weiteren Verlaufe der Fahrt noch eine reizvolle Unterhaltung über allerhand gesellschaftliche Harmlosigkeiten.

Ehe der Schnellzug in Breslau einfuhr, nahmen sie Abschied. Er stellte sich vor, ohne seinen Amtscharakter zu verraten, sie dankte und nannte ihren Namen, freilich so undeutlich, daß er ihn nicht verstand.

Sie gab ihm die Hand, die er einen Augenblick in der seinigen hielt. Sie sahen sich an und sagten beide nichts. Ganz zuletzt entschlüpfte ihm ein leises »Auf Wiedersehen!«

Auf dem Bahnhof in Breslau stand ein junges Ehepaar, das die Reisende abholte. Die junge Frau eilte an den Wagen heran und winkte herauf. »Helga!« rief sie der Freundin zu. »Herzlich willkommen!« Der junge Ehemann nannte bei der Begrüßung den Namen Helligen.

Custodies glaubte nicht recht gehört zu haben.

»Helga Helligen!« sagte er betroffen zu sich selbst und wurde ganz still. Soviel hatte er von ihr gehört, und hatte sie doch nicht erkannt! Und sie hatte sich ihm doch durch einen wunderbaren Zufall so deutlich zu erkennen gegeben!

Lange sah er bei der Ausfahrt aus dem Breslauer Bahnhof noch zum Wagenfenster hinaus, als könne er die Augen von der Stätte nicht wenden, wo er sie zuletzt gesehen hatte.

*


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