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Viertes Kapitel

Die Sonntagsglocken läuteten den Ausgang des Gottesdienstes; Argobasts kamen aus der Katharinenkirche nach Hause.

Ein schöner sonniger Maientag lockte hinaus ins Freie. Die ganze Woche war nasses, kühles Wetter gewesen, Argobast hatte bei seiner vielen Arbeit kaum Zeit zu einem kurzen Spaziergang gefunden.

Heute wollte er mit Frau und Tochter das Versäumte nachholen; da man erst um drei Uhr zu Mittag speiste, hatte man zu einem Ausflug vier Stunden Zeit.

Er schlug als Ziel den stimmungsvollen Kranichsee vor, der in einer grünen, von Fichtenwaldung besetzten Hügellandschaft schöne Uferspaziergänge bot und mit einer Nebenbahn in fünfundzwanzig Minuten zu erreichen war.

Allein Ottilie, die sonst den See so liebte, hatte ihn heute »langweilig« genannt und war nach dem zweiten Frühstück unauffällig in den Garten hinuntergegangen.

Auch Frau Hildegard traf merkwürdigerweise nicht die geringsten Anstalten zur Ausfahrt und schien sich auf der von blaßblauen Glyzinen umrankten Veranda in ihren neuen Roman, den sie gestern begonnen hatte, vertiefen zu wollen.

Argobast, die Friedfertigkeit selbst und ein Gegner aller häuslichen Auseinandersetzungen, war zwar etwas enttäuscht, daß sein Wunsch keinen Beifall fand. Er war aber, wie immer, im Innersten zu sehr mit seinen Gedanken und Plänen beschäftigt, als daß er ernstlich den Grund zu wissen begehrt hätte, der seinen Ausflug verhinderte.

Da er Sonntags immer mit seiner Familie, die ihn in der Woche zuweilen entbehren mußte, zusammen zu sein wünschte, dachte er auch gar nicht daran, etwa allein den See aufzusuchen, sondern begab sich schließlich ebenfalls in den Garten.

Villa »Hildburg« – so hatte Argobast als aufmerksamer Gatte seinen schönen Grundbesitz nach seiner Frau genannt – lag, von der Straße etwas zurückgerückt, in einem prächtigen großen Parke, der sich nach Osten zu bis an den breiten Bach erstreckte, der dort die Stadtgrenze bildete.

Das Haus berührte in seiner Bauart manchen vielleicht etwas zu abgeschlossen und ernst. In deutschem Renaissancestil nach des Besitzers eigenen Plänen vor etwa fünf Jahren errichtet, suchte es den Charakter einer häuslichen Burg in allen Einzelheiten zu wahren. Die schwere Eingangspforte befand sich in einem schon von Efeu umrankten Turme, darin auch die äußeren Treppen nach den oberen Stockwerken liefen, die Fenster waren klein und gewölbt, die Austritte söllerartig.

Auch die zahlreichen Innenräume, wiewohl geschmackvoll und behaglich, ahmten das Burgähnliche nach und zerfielen in größere Säle und kleine Kemenaten. Der Schmuck war gediegen, aber nicht prunkvoll.

Wer die Ritterlichkeit des Besitzers gegen seine hübsche Frau und, seit sie herangewachsen war, auch gegen seine Tochter kannte, fand in der ernsten Architektur aus der Ritterzeit doch eine freundliche Symbolik.

Um das ganze große Grundstück lief eine hohe, solide Umfassungsmauer von Sandstein, die viele Tausende gekostet hatte.

Wer auf der Straße vorüberging, sah vom inneren Grundstücke gar nichts. Selbst die Eingangstüren in der Umfassungsmauer waren massiv und nicht in durchsichtigem Gitter gearbeitet. Von der anderen Straßenseite konnte man die oberen Stockwerke des Wohnhauses sehen.

Vater und Tochter begegneten sich in den Stiefmütterchenbeeten, die hinter dem Hause lagen und alljährlich mit sorgfältiger Gärtnerkunst erneuert wurden.

Er wollte eigentlich doch fragen, weshalb seine Damen heute so häuslich waren. Allein er unterließ es, als Ottilie, ein schlankes, hochgewachsenes Mädchen, ohne ein Wort zu sagen, ihren Arm in den seinigen legte.

Sie gingen Schritt für Schritt und betrachteten die ungezählten Stiefmütterchen in ihren verschiedenen Arten und Färbungen von Weiß, Gelb, Violett, Blaßblau, Braun und Schwarz. Eine Schar von lieblichen und ernsten Blumengesichtern – wie Engelsgesichter auf Gemälden der Gottesmutter – regte allerlei Gedanken in ihnen an.

Als er ihr ein wunderschönes Exemplar einer weißgesäumten Marginata zeigte, fühlte er den Druck ihres Armes besonders warm auf dem seinigen, so daß er ihr unwillkürlich in das rosige Gesicht blickte. Ihre von seidenen, dunklen Wimpern beschatteten schönen blauen Augen unter den tiefschwarzen, dichten Brauen sahen ihn mit seltsamem Ernst an.

Er kannte seine oft so wilde, launenhafte, ja trotzige Ottilie, die gelegentlich mit dem Füßchen stampfen und aus den Himmelsaugen Blitze schleudern konnte, nicht wieder.

Vielleicht hätte er über ihren etwas veränderten Seelenzustand nachdenken sollen. Allein, immer mit seinen besonderen Ideen befaßt, trat in diesem Augenblicke die Gestalt des Erkelenz, wie er sich ihn, den er noch nicht gesehen hatte, nach der Beschreibung des Ersten Staatsanwalts etwa vorstellte, vor sein inneres Gesicht.

Zur gleichen Zeit zeigte sich auch der Störenfried in dem Stiefmütterchenidyll. Das Stubenmädchen Franziska erschien an der Hausecke zum Zeichen, daß Besuch gekommen war.

Vater Argobast, der seine gesellschaftlichen Pflichten durchaus ernst nahm und ein sehr gastliches Haus führte, seufzte in diesem Augenblicke doch unwillkürlich, daß man an diesem herrlichen Maientag nur darum zu Hause geblieben war, um Besuch zu empfangen.

Ottilie machte sich nach einigen unschlüssigen Schritten, die der Vater mit ihr tat, aus seinem Arme plötzlich frei und eilte, ihr hellgrünfarbenes Kleid festhaltend, geflügelten Schrittes nach dem Hause voraus.

Argobast sah ihrer wie über eine Wasserfläche vor dem Winde herflatternden biegsamen Gestalt – war er in Gedanken am Kranichsee? – versonnen nach und beschleunigte endlich auch seine eigenen Schritte, um den Salon ebenfalls aufzusuchen.

Oben sagte ihm auf Befragen Moritz, der Diener, daß Herr Staatsanwalt Doktor Custodies seine Karte abgegeben habe.

Der Hüttenbesitzer hatte einen Augenblick ein Gefühl der Befremdung, das er aber schnell überwand.

Um etwa den Fall Erkelenz mit ihm zu besprechen, dazu würde der Jurist ihn schwerlich Sonntags in der Wohnung aufsuchen. Er hatte ihn ja auch um seine Ansicht über diesen Charakter oder um sonstige Mitteilungen gar nicht gebeten.

Doktor Custodies hatte vor etwa einem Jahre seinen ersten Besuch gemacht. Im Kasino gehörte er zu den flottesten Tänzern Ottiliens. Letzten Winter hatte man ihn einmal zu Tisch gebeten, auch zu einer musikalischen Veranstaltung, wie sie Frau Hildegard liebte, war er geladen gewesen.

Was führte den jungen Mann heute her? Argobast machte sich ernstlich Gedanken. Ottiliens Wesen war etwas seltsam gewesen. Er schüttelte mehrmals den Kopf und betrat nach einigem Zögern den Salon.

Der junge Staatsanwalt, der schon bei den Damen Platz genommen hatte, erhob sich, kam etwas feierlich dem Hausherrn einige Schritte entgegen und machte, als dieser ihm langsam die Hand zum Willkommen reichte, eine tadellose Verbeugung.

Während die Herren unter Austausch allgemeiner gesellschaftlicher Begrüßungsworte sich setzten, blickte Ottilie bald ihren Vater, bald den Juristen verstohlen an und sagte nichts.

Frau Hildegard, eine stattliche Blondine in geschmackvollster Toilette, bestritt einen Augenblick die Kosten der Unterhaltung und erzählte mit großer Lebhaftigkeit, daß Herr Staatsanwalt Doktor Custodies – hierbei verneigte er sich – die Liebenswürdigkeit habe, Ottilie zu dem in vierzehn Tagen im Kasino stattfindenden Rosenfeste einzuladen, das in großartiger, noch nie dagewesener Weise geplant werde.

Der Hausherr dankte zwar erfreut, aber doch mit einer für den oberflächlichen Beobachter freilich kaum bemerklichen Zurückhaltung im Namen seiner Tochter und nahm die Einladung mit Zustimmung von Mama an.

»Darf man die Einzelheiten der Festlichkeit wissen?« fragte er. »Oder sind sie noch Geheimnisse des Vergnügungsvorstandes?«

»Überraschungen sind vorgesehen, über die ich als zufällig Eingeweihter nicht plaudern möchte« erklärte der Jurist etwas befangen. »Aber andererseits darf ich Ihnen doch eine Überraschung nicht vorenthalten, Herr Argobast –«

Der Hausherr sah ihn mit fragenden Augen an. »Da bin ich selber begierig –« Die Worte klangen etwas konventionell.

Mutter und Tochter wechselten unauffällig einen Blick.

»Ich bin heute gekommen, Herr Argobast, nicht nur, um Ihre Fräulein Tochter zum Sommerfest einzuladen«, sagte der junge sympathische Mann, sich im Lehnstuhle kerzengerade richtend, mit seiner angenehmen freimütigen Stimme, »ich habe Ihnen noch eine andere Bitte vorzutragen.«

Über Argobasts Antlitz flog ein Zug der Überraschung, der einen Augenblick einem Schatten nicht unähnlich war.

Niemand schien ihn zu bemerken, so war jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

Und nun erzählte der junge Staatsanwalt bewegt, wie Ottilie und er im letzten Winter sich im Kasino, im gastlichen Elternhause, auf der Eisbahn und schon im Sommer zuvor und wieder in diesem Frühjahr auf dem Tennisplatz näher kennengelernt hatten, wie ihre Charaktere und Wünsche zu ihrer freudigen Entdeckung so schön zusammenstimmten, daß seine alte Mutter, die Fräulein Ottilie allerdings bisher nur aus seiner Schilderung kenne, seinen Schritt mit ihren herzlichsten Wünschen begleite und sich freuen werde, sie liebevoll in ihre Arme zu schließen.

»Mein verstorbener Vater«, so fuhr er ernst fort, »das darf ich versichern, würde meine Wahl gleichfalls von ganzem Herzen begrüßen.«

Argobast neigte ein wenig seinen Charakterkopf. Der alte Custodies war, wie er wußte, Geheimer Kriegsrat gewesen.

Der junge Mann endete seine einfachen, aber aus dem Herzen kommenden Worte, indem er in aller Form bei den Eltern um die Hand Ottiliens anhielt, die ihn, wie er nicht weiter zu versichern brauche, unendlich glücklich machen werde.

Er hatte sich erhoben und stand in seiner hohen stattlichen Erscheinung vor den Eltern der Erwählten. Sein freies, männliches Gesicht mit treuen Augen flößte lebhaftes Vertrauen ein.

Argobast, der bei den letzten Worten unwillkürlich ebenfalls aufgestanden war, konnte sich diesem Eindrucke nicht verschließen.

Gleichwohl kämpfte in seinem Innersten einen Augenblick eine Unentschiedenheit. Es schien, als wollte er sich seine Entschließung vorbehalten. Er war ernster, als man es bei solchem Anlaß erwarten möchte. Eine tiefgehende Bewegung wurde erkennbar.

Man wußte, daß er für Ottilie eine große Vorliebe hatte. Man konnte sich rührende Züge seiner Vaterliebe erzählen. Sie war noch so jung, vor kurzem achtzehn gewesen, dabei zart und verwöhnt.

Sie war das einzige Kind, einen Sohn hatte ihm das Schicksal versagt. Sein großes Hüttenwerk hinterließ er keinem Leibeserben. Vielleicht hatte er im stillen gehofft, daß sein Schwiegersohn die angesehene, weltbekannte Firma weiterführen werde. Daran war bei Custodies nicht zu denken; er war eine ausgeprägte glückliche Beamtennatur, die man nicht aus ihrem Gleise leiten durfte.

Deshalb war es erklärlich, daß die Wichtigkeit des Augenblickes den Vater ergriff und zögern ließ. Einen Staatsanwalt hatte er als Schwiegersohn vielleicht nicht erwartet. Ein gewisser Gegensatz dieses Amtscharakters mit seinen eigenen sozialen Bestrebungen war nicht zu leugnen. Das Schicksal bringt zuweilen seltsame Fügungen.

Was ihm besonders an der Persönlichkeit von Custodies wohlgefiel, war der warme, natürliche und zugleich feste Ton seiner Sprache. Eine ruhige Kraft lag trotz seiner Jugend – er war zweiunddreißig Jahre alt – in seinem ganzen Wesen. Diesen Eindruck, dessen erinnerte sich jetzt Argobast, hatte er schon früher gelegentlich kurzer Unterhaltungen gewonnen. Gleichwohl fehlte ihm noch der Entschluß, diesem Manne seine Tochter zu geben.

Ottilie hatte sich vom Sofa erhoben und stand, ein liebliches lebendes Bild, neben Custodies. Sie sowohl wie der Freier schienen die innere Hemmung in Argobast, obwohl sie deren Ursache kaum abschätzten, zu bemerken. Ihre eigenen Züge wurden angesichts des ernsten Vaters einen Augenblick unruhig und blaß. Nur Frau Hildegard lehnte sich in ihrer gemessenen Haltung anmutig zurück und erhob ihren schönen Kopf mit freundlich bittenden, siegreichen Augen zu ihrem Manne.

»Nun muß ich gestehen«, antwortete dieser, von ihren Blicken getroffen, zögernd und bewegt, »Sie haben mich tatsächlich überrascht, Herr Doktor! Noch vor einer Stunde, als wir in der Kirche waren, und ich in meinem Gebet das Glück der Meinigen einschloß, ahnte ich nicht, daß ich so schnell vor einer Entscheidung stehen werde –«

Er machte eine Pause; die innere Hemmung kehrte wieder.

»Ihr seliger Herr Vater«, begann er von neuem, »war mir leider nur dem Namen nach als hochverdienter Beamter bekannt. Ihre verehrte Frau Mutter – kennenzulernen – wird uns – zur Ehre gereichen –«

Über Ottiliens Gesicht flog ein Strahl der Freude, der ihre schönen Linien verklärte.

Frau Hildegard sah den Freier verheißend an.

»Ich lese meiner Ottilie in den Augen«, fuhr der Hausherr immer noch sichtlich bewegt fort, »daß sie ihre Wahl längst ohne uns getroffen hat!« Und fast wehmütig lächelnd fügte er mit einem Blicke auf Hildegard hinzu: »Auch die Frau Mama haben Sie schon gewonnen, wie ich überhaupt erkenne, daß alle Ihre Schritte nach der Art eines gewissenhaften Staatsanwalts wohlvorbereitet sind.«

Ottilie kicherte leise; auch Frau Hildegard lachte, als der Brautvater humoristisch wurde.

»Ich sehe nun auch vollkommen ein«, sagte Argobast mit immer noch zögernden Worten, »weshalb ich heute auf den Ausflug nach dem Kranichsee mit Recht verzichten mußte, und bin auch darüber völlig beruhigt, daß der Vergnügungsvorstand des Kasinos mit seinen kühnsten Sommernachtsüberraschungen mein Gleichgewicht nicht mehr erschüttern wird.«

Frau Hildegard liebte es besonders, wenn sie ihren sonst meist ernsten Mann so launig sah.

»So heiße ich Sie, zugleich im Namen meiner Frau«, schloß er, tief Atem holend, »als unsern Schwiegersohn herzlich willkommen – möchten Sie für Ottilie der beglückende und glückliche Begleiter ihres Lebens sein!«

Damit gab der Vater dem Bräutigam langsam – als könnte er immer noch zögern – die Hand, die in herzhaftem männlichen Drucke unter Dankesworten einen Augenblick festgehalten wurde.

Dann küßte Ottokar Custodies der noch jugendlichen Schwiegermama die Hand, um endlich hinter dem großen Konzertflügel die Liebste in seine Arme zu schließen und das Verlöbnis mit innigen Küssen zu besiegeln.

Selbstverständlich wurde der Bräutigam gleich zu Tische gebeten, und es ergab sich, wie Argobast in seinem Trinkspruche bemerkte, daß auch Küche und Keller auf das Ereignis besser vorbereitet waren, als der Hausherr selber. Ja, auch Franziska und Moritz hatten heute morgen, wie ihm nun erst auffiel, etwas geheimnisvolle Gesichter gezeigt, während sie jetzt recht heiter dreinschauten.

Im Verlaufe der reichen Tafel wurde Argobast immer angeregter, feierte in dem Rufnamen der Braut und des Bräutigams die symbolische Bedeutung der »beiden Ottonen« und flocht in den Ausklang seiner Rede willkürlich oder unwillkürlich einige glücklich gereimte Zeilen.

In einem Augenblicke, da er nach dem Essen mit Hildegard allein war, küßte er ihr bewegt die Hand. Die beiden, die in einer glücklichen, zärtlichen Ehe lebten, sahen sich lange in die Augen, als suchten sie einander in der Seele zu lesen.

Sie schien ihn, ohne daß er etwas sagte, zu verstehen und drückte ihm ebenfalls wortlos innig die Hand. Er strich ihr mit seiner nervigen Rechten über ihr schönes helles Haar und fügte ernst hinzu: »Ich will dir offen gestehen, daß ich mir einen Staatsanwalt als Schwiegersohn nicht geträumt und eigentlich auch nie in Gegenwart von Custodies das Gefühl gehabt habe, wir würden uns einmal nähertreten –«

»Ich glaube manchmal gesehen zu haben, daß du ihm im Kasino auswichst. Einmal lasest du kopfschüttelnd sein Plädoyer in der Zeitung –«

»Hast du das so beobachtet?«

»Ja – er hat vielleicht manche andere Ansicht als du.«

»Gewiß – er hat sie.«

»Du mußt bedenken, er ist in der Rolle des Anklägers – das gibt seiner Auffassung, wie du oft selbst gesagt hast, eine andere Richtung.«

»Ob ich das weiß! Es läßt sich nicht das geringste gegen seine Amtsauffassung sagen. Im Gegenteil, er ist kein Draufgänger, er ist besonnen, zwar streng, aber menschlich. Beruhige dich nur. Mich hat das alles nur überrascht, davon habe ich gar nichts kommen sehen. Wir werden sehr gut zusammen auskommen. Diese Verschiedenheit der Meinungen darf Ottiliens Glück nicht hinderlich sein! Um so weniger, als ich glaube, er bietet für ihren zuweilen, wie wir erlebten, unruhigen Geist –«

Hildegard nickte.

»In seinem beruhigenden, natürlichen Wesen ein wohltuendes Gegengewicht – und deshalb müssen wir vielleicht sogar dankbar sein, daß ein Mann wie er in unser Haus tritt.«

Als die Herren nach dem Kaffee Argobasts in dunklem Ebenholz und braunem Leder stimmungsvoll gehaltenes Zimmer aufgesucht hatten und bei einer Havannazigarre – wie unwillkürlich zusammengeführt – einige Minuten allein saßen, fragte der Hausherr flüchtig, ob der Erste Staatsanwalt eine Andeutung wegen des Falles Erkelenz gemacht hatte.

Custodies bejahte, und Argobast fuhr ablenkend fort: »Wir wollen uns ein andermal darüber unterhalten. Ich werde Gelegenheit haben, in dieser Sache Ihre Meinung kennenzulernen. Zu unsern Damen wollen Sie, bitte, über diesen Fall vorläufig nicht sprechen.«

Ottokar nickte sein Einverständnis.

»Ich bin mit Mitteilungen über meine Fürsorgetätigkeit hier zu Hause sehr sparsam geworden. Reifere Frauen denken über solche Dinge ganz unberechenbar, und Ottilie ist erst achtzehn gewesen. Sie werden an den Fall Döll erinnern, der in vieler Munde war. Aber damals war Ottilie noch ein Kind.«

»Ich stimme vollkommen mit Ihnen überein, Herr Argobast«, versicherte der Schwiegersohn treuherzig, »und bin auch der Meinung, daß eine junge Frau nicht in die Abgründe blicken soll, die ein Kriminalist oder ein Arzt in ihrem Berufe sehen – die neuere Auffassung, nichts Menschliches solle uns allen fremd sein, hat sich doch schließlich als eine nervöse oder sensationelle Übertreibung erwiesen.«

Argobast schwieg einen Augenblick und blies blaue Rauchwolken vor sich hin. Dann sagte er etwas zögernd: »Ich glaube Ihre Auffassungen aus einigen gelegentlichen Äußerungen und aus Ihren Plädoyers, die ich selber hörte oder in der Zeitung las, einigermaßen zu kennen.«

»Sie sind wahrhaftig nicht verwickelt und mit drei Worten gesagt.«

Man merkte dem Hüttenbesitzer an, daß er eigentlich auf näheres nicht eingehen wollte.

»Verbrechen ist Schwäche –« fügte Custodies hinzu, vielleicht doch durch einen fragenden Blick seines künftigen Schwiegervaters veranlaßt.

Dieser strich sich mit der Hand mehrere Male den Bart. »Friedrich Schiller«, sagte er dann bedächtig, »bemerkt irgendwo: ›In jedem großen Verbrechen war eine verhältnismäßig große Kraft in Bewegung‹ –«

»Da meinte er Karl Moor, Wallenstein und ähnliche«, erwiderte Custodies, sichtlich überrascht, den Hüttenbesitzer einen Dichter ins Feld führen zu hören. »Aber auf unser bürgerliches Verbrechen kann dieses Wort meiner Ansicht nach nicht angewendet werden –«

»Und unsere Versuche, durch soziale Maßnahmen den Verbrecher auf bessere Wege zu bringen –?«

»Stehen auf einem anderen Blatte, Herr Argobast! Es war immer so, daß private Fürsorge der öffentlichen vorauseilt.«

»Das freut mich! Sehen Sie, das freut mich, von Ihnen zu hören, Herr Doktor –« sagte Argobast sichtlich erleichtert.

»Nur der Übertreibung, der Sensation kann ich nicht folgen. Wir sollen den Verbrecher nicht hätscheln. Schwäche kann nicht zur Kraft, nicht zur Größe gemacht werden. Der bürgerliche Verbrecher ist klein, ist schwach. Gesunde Kraft kann immer das Verbrechen meiden – kann immer anders wollen – nur Schwäche, Krankhaftes kann es nicht, das kann ich verstehen, bedauern –«

Der junge Mann hielt einen Augenblick inne, als wolle er erst um Erlaubnis bitten, sich weiter aussprechen zu dürfen.

Der Hüttenbesitzer lud ihn weder dazu ein, noch wehrte er ab.

»Ich muß wahrhaftig lächeln«, fuhr Custodies mit steigender Wärme fort, »wenn der Psychiater die feine Linie entdeckt haben will, die den freien Willen vom unfreien scheidet. Ich wünsche keinen Krieg, Herr Argobast! Aber lassen Sie ihn einmal, wie er seit Jahren als Weltkrieg droht, über Europa und Deutschland kommen, dann wird er, hoff' ich, all dieses Schwächliche hinwegfegen, das sich bei uns nach und nach angesammelt hat. Da werden wir, so Gott will, erleben, was Kraft und Wille Großes vermag, und uns in unserer heutigen Kleingläubigkeit recht beklagenswert vorkommen –! ›Aber der Krieg läßt die Kraft erscheinen!‹ Das sagt auch Schiller.«

Die Türe des Nebenzimmers hatte sich leise geöffnet, und Ottilie, strahlend in ihrem jungen Glücke, legte den Arm auf Ottokars Schulter, der sich schnell, dem Schwiegervater freundlich zulächelnd, erhob und das schlanke Mädchen umfaßte.

So gingen sie, die Türe hinter sich offen lassend, innig umschlungen langsam durch den langen, anstoßenden Speisesaal.

Argobast, ihnen nachblickend, glaubte zu sehen, wie sein Kind schon an diesem ersten Tage an dem aufrechten Manne zu wachsen und sich zu befestigen schien.

Hierüber vergaß er gern, daß zwischen ihm und dem Jüngeren, der sich so offen ausgesprochen hatte, tatsächlich eine tiefgehende Meinungsverschiedenheit bestand. Sie betraf auch die Bestrebungen, die Argobast als seine andere Lebensarbeit bezeichnete.

Das war nun mit einem Male ganz klargestellt. Custodies hatte schon recht gehabt; er hatte es in merkwürdiger Kürze mit wenigen Worten gesagt. Er selbst hätte diese Aussprache gern hingezögert und konnte sie doch nicht verhindern. Aber vielleicht war es ganz gut so. Man wußte beiderseits, woran man war. Der Jüngere hatte sicher in seiner Offenheit das Bedürfnis empfunden, sofort bei seinem ersten Eintritt in diesen neuen Kreis aus seinen Anschauungen keinen Hehl zu machen.

Ein eigenartiges Gefühl kam in Gegenwart Ottokars auch über Argobast selbst. Es ging von seinem Wesen, dessen Zauber dieselbe schöne Kraft zu sein schien, der er so lebhaft das Wort geredet hatte, eine geheime Wirkung auf seine Umgebung, auf ihn selber über.

Das war ihm überraschend, war ihm wirklich seltsam, so mit einem Male durch Berührung mit einem Fremden in einen ganz neuen Kreis von Gefühlen zu treten. Nun mußte er sich auf sich selbst besinnen und prüfen, was nach seinen eigenen Erfahrungen, die älter waren, hiervon für ihn annehmbar werden konnte.

Am Spätnachmittag kam Ilse Bugger, die vielumschwärmte Tochter des Direktors der Farbwerke, Ottiliens beste Freundin, zufällig auf einen Sprung zu Besuch.

Sie kannte den Staatsanwalt von den Kasinobällen her, wo Leutnant von Raupach und Referendar Barbian ihre aufmerksamsten Verehrer waren.

Die Überraschung schien groß zu sein, als sie Custodies hier anwesend fand und aus Tillis gelegentlichen früheren Andeutungen sofort die heutige Situation erriet.

Ihre Glückwünsche und Umarmungen, mit denen sie die Freundin liebkoste, wollten kein Ende nehmen, so innigen Anteil nahm dieses stattliche und schöne Mädchen am Glücke Ottiliens.

Es war, als zitterte in ihrer Mitfreude, die auch Tilli mit sich fortriß, die Ahnung eigenen kommenden Liebesglückes vor, als drücke sie in der Freundin schon den künftigen Geliebten zärtlich an ihr Herz.

So lieblich war dieser Anblick, daß ihre Glückwünsche, die sie auch Ottokar darbrachte, daß ihr helles Lachen und Jubeln in seiner Gegenwart, als sei er ihr ebenfalls schon lange wohlbekannt, zwar nicht frei von unschuldiger Koketterie erschienen, und doch im Grunde nur den Eindruck einer überraschten, anmutigen Mädchenhaftigkeit machten.

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