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Zweites Kapitel

»Wer ist Argobast? Kennen Sie Michael Argobast?« Mit diesen Worten trat Schierenberg etwas atemlos in das Zimmer des Kollegen Doktor Bretting, der ihn aus einer blauen Rauchwolke, die sein schneeweißes Haupt wie der Nebel einen Gebirgsgipfel umschwebte, willkommen hieß.

»Michael Argobast? Den Mann kennen Sie nicht?« gab der Gefragte etwas erstaunt, fast vorwurfsvoll zurück.

Der Jüngere setzte den Sachverhalt kurz auseinander und las einige Sätze aus dem Briefe vor. »Ist der Mann ernst zu nehmen?« fragte er dann.

Der Ältere sah ihn mit seinen klaren Augen an. »Ernst zu nehmen? Wenn einer ernst zu nehmen ist, Herr Kollege, dann sicher Michael Argobast.«

»Wahrhaftig?« fragte Schierenberg, sichtlich enttäuscht.

»Haben Sie wirklich noch nichts von ihm gehört? Er ist unser Vertreter im Abgeordnetenhause! Sie sind doch ein volles Jahr bei uns. Er hat draußen in Ellerau den ersten Hochofen gebaut und soll als armer Schlosser angefangen haben. Heute ist er ein reicher Mann. Sind Sie noch nicht an seiner Villa vorübergekommen?«

»Wo liegt sie?«

»Wenn Sie vom Stuttgarter Platz kommen, an der Endsdorfer Straße rechter Hand. Der Baustil muß Ihnen sofort aufgefallen sein.«

»Der düstere Turmbau mit der hohen Umfassungsmauer?«

»Dahinter dehnt sich ein weiter Park.«

»Wie kommt der Mann zu solchen Briefen?«

»Wir hatten ihn früher als Schöffen« erzählte Doktor Bretting, indem er mit der Kunst eines Virtuosen eine lückenlose Kette blauer Rauchringe aus seinem Munde hervorzauberte. »Ich bin oft erstaunt gewesen über die Fragen, die er an Angeklagte und Zeugen stellte. Er brachte Licht in die dunkelsten Verhältnisse. Seine Menschen- und Seelenkenntnis hatte zuweilen etwas Verblüffendes. Dabei hat er einen großen Blick für das Leben.«

Der kleine, allzu kleine und dazu beleibte Bretting mit seinem weißen Haar und den blauen blitzenden Augen hatte seine Amtslaufbahn seit zwanzig Jahren auf die Abteilungen des Amtsgerichts beschränkt. Nun saß er seit einem Jahrzehnt als Amtsgerichtsrat in der Grundbuchabteilung mit den Riesenfolianten und den verstaubten Akten, zwar vergessen, aber doch mit seinem Schicksal zufrieden.

»Menschen«, pflegte er zu sagen, »habe ich in den anderen Abteilungen viele an mir vorübergehen sehen. Jetzt bin ich mit Soliderem befaßt. Mutter Erde hat dauernden Bestand.«

Er liebte es, seine Erinnerungen aufzufrischen, und ließ sich nicht gern eine Gelegenheit entgehen.

»Seit einigen Jahren ist er Geschworener«, plauderte er über Argobast weiter, »fast regelmäßig Obmann. Die Staatsanwälte fürchten ihn bei schwachen Anklagen. Das Gericht kann für seine Mitarbeit gar nicht dankbar genug sein.«

»Und erfreut sich dieser Wundermann allgemeiner Beliebtheit?« fragte der Jüngere ungläubig.

»Eigentlich ja. Das ist das Merkwürdige, das Erfreuliche. Im stillen hegt vielleicht mancher eine kleine Gegnerschaft, aber wirklich nur ganz im stillen. Wem bliebe das erspart! Im übrigen hat aber selten einer die unbestochene Meinung so für sich gehabt. Das soll ihm jemand nachmachen! Aufrecht und selbstlos, grundehrlich und ohne Anmaßung.«

»Er mischt sich aber, wie es scheint, auch in Strafsachen, wenn er nicht als Laienrichter berufen ist.«

»Das hängt mit seiner Fürsorgetätigkeit zusammen. Er spielt eine große, spielt die wichtigste Rolle im Verein für entlassene Strafgefangene. Er ist in der Stadt, ist im Bezirke und darüber hinaus als sozialpolitischer Wohltäter bekannt – wer in Verlegenheit gerät, wendet sich an ihn – so kommt er zu Ihrem Falle Blessinger.«

Amtsrichter Schierenberg wurde etwas nachdenklich.

»Man kann nicht sobald aufhören, wenn man von Argobast zu sprechen anfängt« fuhr Doktor Bretting, seine Redseligkeit gewissermaßen entschuldigend, fort. »Daß wir hier am Orte ein Zuchthaus haben, hat natürlich seine Bestrebungen begünstigt. Direktor Muskalla wird stark von ihm beeinflußt; aber zweifellos günstig. Sie müssen nicht glauben, Herr Kollege, daß Argobast sozusagen von Humanität trieft. Das ist gerade das Merkwürdige an diesem Manne, das sich mit Worten kaum beschreiben läßt, daß er in seinem Innersten einen schier untrüglichen Wertmesser für Schuld und Sühne zu tragen scheint.«

Schierenberg sah dem alten Herrn etwas zweifelhaft ins Gesicht, erwiderte aber nichts.

»Mit Hilfe des Direktors hat Argobast manche erfreuliche Neuerung im Zuchthaus durchgesetzt. Vor allem will er die Freude auch im Strafhause zur Miterzieherin machen. So hat sich unter den Züchtlingen neuerdings eine Art Gesangverein, ja eine Art Orchesterverein gebildet.«

»Entlehnt aus Amerika!« rief der kluge Richter.

»Mag sein. Im Ministerium wollen sie, glaube ich, auch nicht viel davon wissen, drücken aber ein Auge zu, weil die guten Wirkungen nicht abzuleugnen sind.«

»Aber Ihr Mann bringt damit einen Zwiespalt zwischen Oberbehörde und Unterbehörde.«

»Sicherlich vollständig unbewußt. Ich wiederhole Ihnen, der Mann ist ohne jede Anmaßung. Sprechen Sie mit ihm, und Sie werden sagen, er ist bescheiden, ist zu bescheiden. Jede Kritik liegt ihm fern. Man hat ihn gegen unsere Strafjustiz und unseren Strafvollzug noch keinen Tadel aussprechen hören. Er handelt nur, er ist verbessernd tätig, unermüdlich, mit einer rührenden Aufopferung. Lesen Sie den Brief, den er Ihnen heute geschrieben hat, prüfen Sie Wort für Wort. Können Sie eine Schärfe, einen Tadel, auch nur einen Vorwurf heraushören? Das fiel mir sofort auf. Setzen Sie sich einmal hin, Herr Kollege, und drücken Sie einen solchen doch gewiß nicht alltäglichen Wunsch so verbindlich aus – wir beide vermöchten's nicht.«

Der Schöffenrichter sah überrascht in den Brief, las einzelne Stellen nochmals ganz langsam und sagte dann: »Da haben Sie tatsächlich recht!«

»Schließlich müssen Sie auch von seinen persönlichen Opfern wissen, um ihn ganz zu beurteilen!« erklärte der warmgewordene Bretting. »Hunderte und Tausende gibt er jährlich dem Fürsorgeverband. Der Jugendlichen nimmt er sich besonders an. Auch persönliche Besserungsversuche sind ihm mehr oder weniger geglückt. In seinem großen Betriebe kann er manchen schon verlorengegebenen Mann unauffällig unterbringen. Das tut er alles ganz im stillen, ohne ein Aufhebens davon zu machen. Nie läßt er sich öffentlich nennen – ich weiß zufällig von einem Falle Döll, einem schwer vorbestraften Einbrecher, der dieses eine Mal – wohl mit Recht – freigesprochen worden war –«

Der kleine Grundbuchrichter, der in seiner Lebhaftigkeit aufgestanden war, ging mit tänzelnden Schritten, an denen man ihn im Freien schon aus der Ferne erkennen konnte, im Zimmer auf und ab.

Es war rührend, zu sehen, wie er, der auf die Dauerhaftigkeit der Mutter Erde schwur, sich doch aus seiner früheren Tätigkeit her für den flüchtigen Menschen ein so warmes Herz bewahrt hatte.

»Ich hatte später Gelegenheit«, plauderte der Ältere, ohne Schierenberg zu Worte kommen zu lassen, weiter, »durch Eingeweihte den genauen Hergang zu erfahren und einen Einblick in Argobasts Gedankenkreis zu gewinnen. Er wollte diesem Döll das Bewußtsein geben, daß Menschen an seine Besserung und guten Vorsätze, die er äußerte, glaubten. Er sollte etwas erfahren, was er noch nicht erlebt und vielleicht auch nicht für möglich gehalten hätte.«

»Wirklich?«

»Sein Innerstes sollte in eine solche Stimmung versetzt werden«, erzählte Bretting wie ein schwärmender Jüngling, »daß der Wunsch zur Besserung für alle Zeiten gefestigt und unauslöschlich eingeschrieben würde. An solche Wirkungen glaubt Argobast. Seine Handlungsweise war gewissermaßen ein kriminalpsychologisches Experiment, wie es noch kein Professor im kriminalistischen Seminar vorgeführt hat.«

Amtsrichter Schierenberg wußte nicht, was er dazu sagen sollte, hier in der verstaubten Hypothekenstube, wo seiner Meinung nach alle Gefühle aufhörten, eine so stimmungsvolle Seelenschilderung zu hören.

»Daß ich kurz bin«, fuhr Bretting, seinen schönen weißen Kopf etwas zurückwerfend, fort, »Weihnachten war vor der Tür, und Argobast bescherte in seiner Villa dem Freigesprochenen mit seiner eigenen Familie unter demselben Christbaum.«

»Ist das möglich?« erstarrte der Richter mit dem Philologengesicht.

»Frau und Fräulein Argobast – sehr hübsche liebenswürdige Damen! – mit einigen Verwandten sowie die Dienstboten waren eingeweiht. Von Anfang an, vom gemeinsamen Gesange ›Stille Nacht, heilige Nacht‹ an hat Döll der Bescherung beigewohnt. Er wurde mit nützlichen Sachen, mit Geld und einigen Genußmitteln reichlich beschenkt. Er benahm sich sehr nett, so daß die Anwesenden gar nicht glauben wollten, einen gefährlichen Einbrecher vor sich zu haben. Nur die Dienstboten blickten manchmal verstohlen nach ihrem aufgezählten Silbergelde.«

»Ist das auch alles verbürgt, Herr Amtsgerichtsrat?« nörgelte der Zweifler, der sich von seiner Überraschung etwas erholt hatte.

»Sie können sich darauf verlassen, ich erzähle Ihnen keine Märchen. Ich habe alles aus bester Quelle. Unsere Frauen treffen sich gelegentlich im Cäcilienverein. Beim Heringssalat und Bier, womit er zum Schluß beköstigt wurde, gestand Döll unter Tränen, daß er noch nie ein wahres Weihnachtsfest gehabt habe. Er erzählte von seiner freudlosen, harten Jugend und seiner armen alten Mutter in Schlesien. Alle gaben ihm zum Abschied die Hände – er schien tatsächlich den Eindruck zu haben, daß ihm eine größere, rein menschliche Teilnahme nicht bezeigt werden konnte.«

»Und hat dieser Eindruck dauernde Früchte getragen?«

»Eigentlich nicht, wenigstens nicht in dem erwarteten Umfange« erklärte Bretting, selber etwas enttäuscht. »Nach einigen Monaten gab Döll unvermittelt und ohne ersichtlichen Anlaß die gutbezahlte Arbeitsstelle, die ihm Argobast gleichzeitig in seinem Betriebe gegeben hatte, heimlich auf, verschwand eine Zeitlang nach Berlin –«

»Sehen Sie! Sehen Sie!«

»Und kam dann wieder hierher zurück. Wegen Diebstahls soll er nicht wieder zur Anzeige gekommen sein, aber wegen Bettelns ist er wiederholt bestraft worden.«

»Die ganze Bescherung war also umsonst?« fragte der Schöffenrichter, als wolle er durchaus jede Illusion zerstören.

»Was aber Argobasts Glauben an seine Sache nicht erschüttert hat! Wir wollen froh sein, daß ein solcher Mann in unsern Mauern wohnt. Ich verhehle Ihnen nicht, Herr Kollege, daß ich eine heimliche Verehrung für ihn habe, und bedauere nur, daß er sich nicht in einer hohen amtlichen Stellung befindet, um alles, was er sonst über diese Dinge bei sich empfinden und denken mag, in allgemeingültige Taten umzusetzen.«

»Nun muß ich aber gestehen, daß Sie mich auf Ihren Propheten Argobast neugierig machen!« erklärte Schierenberg mit etwas gesuchter Lebhaftigkeit. »Wo kann man den Mann kennenlernen? Wie sieht er aus? Ich stelle ihn mir nach Ihrer Beschreibung schon äußerlich merkwürdig vor.«

»Wo Sie ihn kennenlernen können? Er läuft niemandem nach, er drängt sich nicht auf, er bleibt gern im Hintergrunde. Deshalb schrieb er an Sie und kam nicht selber. Verstehen Sie?«

Schierenberg zuckte die Achseln.

»Wie er aussieht? Sie können recht haben! Keine große Erscheinung – aber übermittel – nicht besonders kräftig – ein braunes Gesicht mit schönem dunklen Vollbart – noch schwarzes Haar – geistige Stirn – dunkle Augen, aber voller Glanz – können Sie sich ein Bild machen?«

»Eigentlich noch nicht –«

»Ich will Ihnen etwas vorschlagen, Herr Kollege, verlieben Sie sich in seine Tochter – Ottilie Argobast – ein entzückendes Mädel – etwas wild – schwarzer Lockenkopf, ist noch zu haben.«

Der Amtsrichter lachte, indem er sich eiligst verabschiedete. »Er würde sich, glaube ich, für solchen Schwiegersohn bedanken!«

»Aber den Registerauszug verlesen Sie mir nicht!« rief ihm der kleine Rat zwischen Türe und Angel in den hallenden gewölbten Gang nach. »Das bitte ich mir aus!«

Einen Augenblick blieb er in seinem Zimmer stehen und überlegte. Dann öffnete er die Seitentüre und rief in die Hypothekenstube hinein: »Grundbuchakten Blatt 123 für Wittersheim!«

*


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