Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Elftes Kapitel

Der Bräutigam suchte in Gegenwart Ottiliens zu verbergen, daß er seit Empfang des seltsamen Briefes innerlich nicht mehr so unbefangen war. Allein wenn sie selbst nicht von ihrem jungen Glücke so erfüllt gewesen wäre, hätte sie seine Veränderung, da ihm die Neigung zur Verstellung sehr fern lag, doch bemerken müssen.

Mit tiefem Schmerze stellte er als ehrlicher Selbstbeobachter fest, wie leicht der Mensch unter dem Drucke äußeren Zwanges von offener Wahrhaftigkeit abzuweichen lernt, wenn es sich zunächst auch nur um ein Verschweigen, ein Verbergen handelte.

Bald aber machte er an sich noch andere Wahrnehmungen. Er erschrak tief im Innersten, als er eines Abends, da ganz zufällig die Rede auf die Schulzeit kam, scherzhaft den Wunsch äußerte, einmal die Schulzeugnisse seiner Braut einzusehen, um zu wissen, was sie als kleines herziges Mädel geleistet habe.

Fast sichtbar atmete er auf, als Frau Hilde ihren Gatten fragte, ob er Tillis Schulpapiere aufgehoben habe, und dieser antwortete, daß er das im Augenblicke nicht sagen könne. Er wolle aber gern Nachsehen, wenn es auch bei der Fülle verwahrter Schriftstücke eine geraume Zeit in Anspruch nehmen werde und in der nächsten Zeit kaum geschehen könne.

Tatsächlich vergingen die nächsten Wochen, ohne daß von den Schulzeugnissen je wieder ein Wort gesprochen wurde.

Die ihm ausgezwungene Unaufrichtigkeit war Ottokar so sehr gegen die Natur, daß sie ihn gelegentlich, selbst in Ottiliens Beisein, verstimmen, ja nervös machen konnte.

Dann verlor er zugleich mit seiner Heiterkeit an Liebenswürdigkeit. Es kamen die ersten, wenn auch ganz unbedeutenden Verdrießlichkeiten, die in keinem Brautstande zu fehlen pflegen. Auch Ottilie büßte etwas von ihrer Unbefangenheit ein.

Eines Sonntags, da anhaltender Regen das Brautpaar keinen Schritt aus dem Hause gehen ließ, öffnete das junge Mädchen zufällig ihren kleinen, schön geschnitzten Rokokobücherschrank mit den blauseidenen Vorhängen, um ihren Bücherschatz zu mustern.

Sie kniete anmutig vor dem Schränkchen, nahm hier und da einen Band aus den Fächern heraus, und zeigte ihn dem hinter ihr stehenden Geliebten aufgeschlagen vor, gewissermaßen mit ihren geistigen Interessen harmlos kokettierend.

Ottilie war, wie ihre Mutter, eine große Bücherfreundin, eine Sammlerin. Außer Schiller, Körner und Hauff kamen einige Bände von Goethe, Lessing, Kleist, Hebbel und Grillparzer zum Vorschein; die Gedichte von Chamisso und Lenau, von Rückert und Geibel fühlten nicht. Ottokar war hocherfreut über diesen Grundstock einer klassischen Bibliothek.

Eben hatte sie nach der üblichen Backfischliteratur Wolfs »Wilden Jäger« präsentiert, als sie schon wieder einen schönen, nicht großen Band in Braun und Gold herausnahm, einen Augenblick, ohne ihn aufzuschlagen, wie unschlüssig in der Hand hielt und dann schweigend wieder ins Fach zurückstellen wollte.

»Was hattest du da für ein Buch, Liebling?« fragte Ottokar zufällig.

»Baumbachs Zlatorog« antwortete sie.

Er erbebte im innersten Herzen. »Darf ich sehen?« fragte er hastig. »Ich liebe ihn sehr« setzte er langsamer mit merkwürdiger Stimme hinzu.

Sie schien seine Bitte überhört zu haben und langte Walter Scotts Ivanhoe heraus.

Er übersah dieses Buch, griff selber, ohne etwas zu sagen, in den Schrank und zog das Büchlein in Braun und Gold wieder hervor.

Einen Augenblick machte Ottilie wie scherzhaft den Versuch, ihm den »Zlatorog« aus der Hand zu nehmen. »Du sollst doch nicht!« sagte sie schmollend.

Ottokar hielt aber den Band fast eigensinnig fest und schlug ihn auf. Es war eine Prachtausgabe mit Illustrationen von Künstlerhand. »Eine herrliche Ausgabe«, bemerkte er, »die ich noch nie zu Gesicht bekommen habe.«

»Ich mag ihn nicht!« erklärte sie kurz, indem sie sich von ihren Knien erhob. Dabei hatte sie sich wohl etwas angestrengt, ihr Gesicht war leicht gerötet.

Er blätterte und las, als wollte er sich erinnern.

Sie sah ihn überrascht an, als er so ernst war. Ihr Gesicht und ihre Augen begannen zu zittern, ihr Busen hob und senkte sich lebhaft. Die Tränen kamen gestürzt, sie schluchzte, sie riß ihm das Buch mit einem einzigen Griffe aus der Hand und schleuderte es auf den Tisch.

Er konnte vor Erstaunen nichts sagen.

»Ich liebe das Buch nicht – wie kannst du mir noch daraus vorlesen – solche todunglückliche Verse!«

»Ottilie!« rief er sie beruhigend.

Ein Weinkrampf erleichterte ihr das schwere Herz. Frau Hilde kam hinzu und brachte ihre Tochter mit gütigen und verständigen Worten zur Vernunft.

»Sie ist heute leicht reizbar!« flüsterte sie dem niedergeschlagenen Bräutigam zu.

Ottilie trocknete sich bald die Augen, lächelte wieder und bat wegen ihrer Heftigkeit um Verzeihung. Er schloß sie in seine Arme. »Das Gedicht ist so traurig«, flüsterte sie, »es bringt mich immer zu Tränen.«

Ottokar machte sich im stillen Vorwürfe und begriff nicht, daß er so eigensinnig gewesen war. Er hatte wohl davon gehört, daß junge Mädchen gegen gewisse Bücher eine empfindsame, übertriebene Abneigung fassen können. Nun glaubte er den »Zlatorog« auf einmal auch nicht mehr zu lieben. Als er das sagte, lächelte Tilli.

Vater Argobast bemerkte beim Abendessen die geröteten Augen seiner Tochter nicht; man hielt den Vorgang, den alle gern vergessen wollten, vor ihm verborgen.

Zwar völlig ausgesöhnt, aber doch mit eigentümlichen Gefühlen nahm das Paar an diesem Abend voneinander Abschied.

Das junge Mädchen hatte eine schlaflose Nacht. Die Mutter hörte sie wiederholt weinen.

Die kritischen Tage gingen vorüber. Ottilie bekam ihre Heiterkeit wieder. Auch Ottokar war beim nächsten Male ganz der alte. Einige fröhliche ungetrübte Wochen flogen dahin. Die jungen Leute klammerten sich innig aneinander, um das zwischen ihnen aufgeblühte Glück festzuhalten.

Aber, wie es zu geschehen pflegt, der Dämon der dunklen Stunde kam wieder. Die Vorgänge blieben unvergessen und wurden nach einiger Zeit von neuem lebendig. Unruhe und Reizbarkeit stellten sich gelegentlich ein.

Ottilie stand mit Ottokar neben dem Sofa in ihrem Rokokozimmer. Die Türe war angelehnt; im Nebenzimmer saß die Mama am Fenster, mit einer feinen Stickerei beschäftigt.

Er war im Begriff, sich von ihr zu verabschieden. Er hatte ihr schon einmal Lebewohl gesagt.

Ottilie lehnte ihr dunkles Köpfchen am Herzen des Geliebten. Plötzlich fuhr sie zurück.

»Seit wann nimmst du Parfüm?« fragte sie. »Ich habe nie solches bei dir gerochen – du sagst, du liebtest keines.«

»Das ist auch richtig« versicherte er, jetzt selber erblassend.

»Ich rieche aber ganz deutlich – ein starkes, aufdringliches – sehr eigentümliches Parfüm.«

»Du irrst dich – Tilli –, es ist nichts.« Sein eigenes Gesicht strafte den offenen Mann aber Lügen. Er fühlte das. Sie klammerte sich an ihn fest und wollte ihn nicht loslassen.

Mama hatte soeben für einige Minuten ihr Zimmer verlassen; man hatte sie die Türe schließen hören.

»Ich schwöre dir, du hast nicht den leisesten Grund« flüsterte er.

»Weshalb zeigst du nicht deine Tasche? Ein Tuch –«

»Kein Tuch ist darin.«

»Ein Brief – zeige mir den Brief« sagte sie fast herrisch.

»Du kennst mich, ich bin keiner Unbesonnenheit fähig!«

Ehe sie noch seine Worte gehört hatte, machte er sich sanft aus ihren Armen frei und eilte mit einem letzten »Lebewohl für heute!« zur Türe hinaus.

Sie ließ ihn gehen. Sie machte merkwürdigerweise keinen Versuch, ihm zu folgen. Wie gelähmt blieb sie an derselben Stelle, wo er sie verlassen hatte, stehen.

Im Vorübergehen verabschiedete er sich flüchtig von seiner Schwiegermutter und drückte ihr in starker Erregung die Hand.

»Gehen Sie zu Tilli und stehen Sie ihr bei – sie mag Ihnen sagen – was sie zu sagen hat.«

Schuldbewußt eilte er die Treppe hinab. Das untilgbare Parfüm hatte verraten, daß er noch immer zuweilen an der Gemütsart Ottiliens im stillen zweifelte. So seltsam rächte der äußere Zufall eine geheime Schuld. Es war, als ob dieser Mann in der Berührung mit solchen Dingen in seiner reinen glücklichen Kraft versagte.

Frau Hilde war zu ihrer Tochter geeilt, fand sie aber zu ihrer Überraschung, beinahe zu ihrem Bedauern, ganz gefaßt. Sie hatte eine erregte Szene, etwa wie auf der Bühne, hatte einen starken Gefühlsausbruch erwartet und sich im Augenblicke schon mit Worten des Trostes, der Vernunft, wenn es sein mußte, mit Worten der Energie gewappnet. Nun erfuhr sie auch mit keiner Andeutung, was geschehen war.

Ottilie schüttelte den Kopf. »Ottokar ist manchmal zu empfindlich« sagte sie. »Es war nicht der Rede wert. Aber es ist vielleicht gut, daß er gegangen ist. Die Trennung hat eine reinigende Kraft. Ich erzähle es dir ein anderes Mal, Mama. Du brauchst kein so versteinertes Gesicht zu machen. Du siehst wahrhaftig aus, wie eine Theatermama! Komm, ziehe dich an, wir wollen ausgehen. Wir wollen endlich die Muster bei Ehlers besehen. Sie haben schon zweimal angerufen. Wir müssen wirklich an die Ausstattung denken. Und weißt du, Muttel, die damastenen Bettbezüge – –«

Damit zog sie ihre erstaunte Mama zur Türe hinaus.

*


 << zurück weiter >>