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Achtes Kapitel

Draußen in Ellerau lag am sogenannten Totenkopf das große Eisenwerk Argobasts mit den beiden Hochöfen. Die Gegend hatte im Volksmunde den eigentümlichen Namen behalten, der von den Morden sich herschrieb, die dort vor Jahrzehnten, als noch ein dichtes Gehölz stand, vorgefallen waren.

Das Hüttenwerk erstreckte sich mit seinen zahlreichen Gebäuden, Maschinenräumen und Kesselhäusern, mit seinen Öfen und Schornsteinen. Anlagen, Schuppen und Lagerplätzen über eine weite, von Eisenbahnschienen durchquerte Strecke und beschäftigte viele Hunderte von Angestellten und Arbeitern.

Die Kuppeln und gewaltigen Gewölbe, die überall aufragten, konnten, wenn man wollte, den Eindruck einer bizarren maurischen Moschee erwecken, wobei die Dampferhitzer ringsherum Vorbauten und Seitenräume darstellten und die schlanken Schornsteine gleich hohen Minaretts emporstiegen.

Der Ruf der Hütte in der Eisenindustrie war ein ausgezeichneter. Mehr als einmal hatten die Banken Argobast in verlockender Weise den Vorschlag unterbreitet, die Firma in ein Aktienunternehmen umzuwandeln.

Er hatte sich hierzu nach reiflicher Erwägung noch nicht entschließen können und war mit Genugtuung erfüllt, weil er die mit bescheidenen Anfängen von ihm selbst gegründete Anlage aus eigener Kraft, wenn auch unter Beistand des verstorbenen Gesellschafters, zu solchem Umfange und zu solcher Bedeutung erhoben hatte und mit Hilfe zweier tüchtiger Direktoren und einer Reihe Techniker im wesentlichen noch selbst leitete.

Mit der Hütte hing seine Lebensarbeit zusammen, fast unlöslich fühlte er sich mit dieser Fläche Erde verbunden. Hier hatte er seine Kraft mit seltenem Erfolge betätigt, in der rastlosen Arbeit war er zu dem geworden, was er war; von hier aus hatte er die Möglichkeit gefunden, sein soziales Wirken zu entfalten und der Menschheit auch auf diese Weise zu dienen.

Da er aber leider keinen Sohn hatte und der Aufschwung der Eisenindustrie immer neue Betriebserweiterungen nötig machte, hatte er sich doch schließlich mit dem Gedanken vertraut gemacht, in den nächsten Jahren dem Aktienunternehmen näherzutreten.

Seit einigen Tagen war in der Materialverwaltung des Betriebes, die dem kränklichen und stark gealterten Inspektor Enatt unterstand, ein neuer Unterbeamter eingestellt worden. Es war Robert Erkelenz.

Bereits wenige Tage nach der Aussprache mit dem Hüttenbesitzer im Direktorialzimmer hatte er sich beim Anstaltspfarrer Koogelbom freiwillig gemeldet und erklärt, daß er bereit sei, bei Herrn Argobast die angebotene Beschäftigung anzunehmen.

Der Geistliche sah ihn etwas ungläubig, ja abweisend an und bemerkte zu seiner Überraschung, daß aus seinen Gesichtszügen die alte lässige, verletzende Teilnahmlosigkeit gewichen zu sein schien. »Dort kannst du für dein ganzes künftiges Leben noch dein Glück machen!« sagte er etwas salbungsvoll, als sei er selber der Vermittler dieser Stelle gewesen.

Der Züchtling bedankte sich bei dieser Gelegenheit für Koogelboms Bemühungen und bat sogar um Entschuldigung, daß er sie früher in unbegreiflichem Leichtsinn abgelehnt hatte.

»Das ist nun erledigt!« bemerkte der besänftigte Geistliche nachdenklich. »Wer weiß, wozu alles gut ist! Wenn du dich schon anderweit gebunden hättest, könntest du wahrscheinlich nicht bei Herrn Argobast eintreten.«

Das leuchtete dem vor der Entlassung stehenden Züchtling, wie man ihm ansehen konnte, ohne weiteres selbst ein.

Auf die Nachricht von der Entschließung kam der Hüttenbesitzer noch einmal persönlich in die Strafanstalt und verhandelte mit Muskalla. Es wurde ihm gestattet, Erkelenz in den letzten Tagen der Strafzeit über seine künftigen Obliegenheiten in großen Zügen zu unterrichten, damit er bei seinem Eintritt in das Werk nicht durch allzu starke Unkenntnisse bei dem Inspektor und seinen Mitarbeitern Verdacht erregte.

Enatt wurde dahin verständigt, daß Erkelenz in einem verwandten Betriebe gearbeitet habe, was ja in gewissem Sinne auch der Wahrheit entsprach.

Argobast war seinem ganzen abgeschlossenen Charakter nach gewohnt, was er zumal persönlich unternahm, nicht halb zu tun. Er ließ sich nicht verdrießen, einen Abdruck der von ihm selbst ausgearbeiteten Hüttenordnung mitzubringen und Erkelenz zum Durchlesen zu überlassen. Ja, er entrollte vor ihm einen übersichtlichen Grundriß des ganzen Hüttenwerkes, in welchem alle Gebäude und Anlagen genau eingezeichnet waren. Dazu gab er ihm in einfacher Weise die nötigen Erklärungen und fand bei dem allen eine Art und einen Ton, mit denen er sich seinem künftigen Arbeiter gegenüber nicht das geringste vergab.

Der Anstaltsdirektor, der dies alles miterlebte, sah mit immer neuem Erstaunen den sichtbaren Erfolg. Nach einem Tage bereits wußte Erkelenz in Gedanken im ganzen Werke nach dem Grundriß recht gut Bescheid. Es bereitete ihm offenbar Lust, sich überall schnell zurechtzufinden.

»Das habe ich zur Anregung seines Organisationssinnes getan!« bemerkte Argobast dem Direktor.

Es war tatsächlich bewundernswürdig, wie erzieherisch er hierbei verfuhr. Auf das gute Vorstellungsvermögen des Erkelenz wirkte das gewissermaßen Geistige in der Hüttenordnung befruchtend, und gar das zeichnerische Bild machte einen belebenden Eindruck auf seine Phantasie. Im stillen schwebte er bereits wie ein Geist über dem Ganzen und übte daran seine Kräfte.

Dann gab es noch eine Viertelstunde der Unterweisung über die fortwährend zu kontrollierenden Rohmaterialien und Erzeugnisse, damit der Neuling auch hiermit etwas vertraut wurde. Er erhielt ein gedrucktes Formular, wie es in den Lagerbüchern verwendet war, vorgelegt, um die Einzelheiten der Einträge zu verstehen. Dem allen unterzog sich Argobast anspruchslos selbst, wobei ihn wohl die Erinnerung an seine eigenen Lehrjahre angenehm begleitete.

Tag und Stunde der Entlassung waren gekommen. Der Direktor sprach in Gegenwart des Abteilungsinspektors Prehm und des Pfarrers im Direktorialzimmer einige kurze, markige Abschiedsworte mit dem Hinweis auf die gütige Fügung, welche die Zukunft des Entlassenen noch in den letzten Wochen sicherstellte. Koogelbom fügte, mit dem verloren gegebenen Manne beinahe ausgesöhnt, einen geistlichen Spruch hinzu.

Erkelenz war etwas aufgeregt, hatte Tränen in den Augen und konnte nicht viel sagen.

Der neue Arbeitgeber hatte es abgelehnt, den Entlassenen am Ausgange des Zuchthauses, wie zuweilen geschah, in Empfang nehmen zu lassen. »Ein Stück Selbstvertrauen muß gleich von Anfang an gepflegt werden«, meinte er zu Muskalla, »darauf kommt alles an. Das Gelingen, das wissen Sie besser als ich, muß mit den Schwachen geübt werden!«

Sogar einen passenden Anzug hatte er Erkelenz vorsorglich mit einem Dienstmann ins Zuchthaus geschickt, weil seine eigenen Kleidungsstücke in den Jahren zu stark gelitten hatten. Auch seinen vollen Arbeitsverdienst erhielt er auf ausdrücklichen Wunsch Argobasts bei der Entlassung selbst in die Hände. »Er soll sofort kämpfen, das ganze Leben ist ein Kampf! Wenn er die Stunde Wegs zu mir hinaus nicht findet, verlohnt sich meine Arbeit an ihm überhaupt nicht!«

Argobast hatte in seiner langjährigen Rettungsarbeit eine außerordentliche Erfahrung gesammelt, deren Schatz er in diesem neuen besonders schwierigen Falle ganz verwerten zu wollen schien. Wer alle einzelnen Umstände kannte, mußte gestehen, daß auf die Einstellung eines unbescholtenen Arbeiters kaum je soviel Nachdenken und Sorgfalt verwendet worden sein konnten, wie bei diesem Robert Erkelenz. Aber nach dem Worte, daß mehr Freude im Himmel ist über einen Sünder, der Buße tut, als über neunundneunzig Gerechte, die ihrer nicht bedürfen, sprach eine tiefe Sittlichkeit für diese Maßnahmen. Diese Seele, die er jetzt zu retten unternahm, schien er nicht wieder verlieren zu wollen; vielleicht hing sein Glaube an die Menschheit und an das Gute mit an dem künftigen Schicksal dieses einen Mannes.

Es war ein sonniger Junimorgen, als die schweren Zuchthauspforten sich vor Robert Erkelenz öffneten und, als er auf der Straße stand, hinter ihm wieder schlossen.

Er ging schnell einige Schritte vom Tore weg, sah nach beiden Seiten der Promenade, ging wieder ein Stück und blieb dann eine Minute wie unschlüssig stehen. Die Rosen in den Vorgärten dufteten bis zu ihm herüber.

Er sog die frische, köstliche Luft ein, es war ihm ganz eigentümlich ums Herz.

Nach fünf langen, hoffnungslosen Jahren war er wieder ein freier Mensch. Freiheit! Wie das Wort klang, als er es, um es tatsächlich zu hören, halblaut vor sich hinsprach.

Zwei Schulbuben blieben stehen und sahen ihm mit freundlichen Augen verwundert ins Gesicht. Er nickte ihnen zu und nahm es als gütige Vorbedeutung, daß ihm Kinder, denen die Zukunft gehört, den ersten Gruß in der Freiheit boten.

Er sah nach der Uhr, die er nach Jahren zum ersten Male wieder trug. Er war dankbar, daß sie ihm erhalten geblieben war. Fast wie ein Schulknabe zog er sie hervor, der die erste Uhr beim Eintritt in eine neue Schulklasse erhalten hat.

In drei Stunden sollte er sich im Kontor der Hütte melden; zwei Stunden hatte er also von diesem Morgen für sich. Nur zwei Stunden? Dann schon wieder eingespannt und gebunden? Nach fünf Jahren so kurze Freiheit? »Still, keine Undankbarkeit!« sagte er zu sich selbst.

Er wanderte durch die Straßen der Stadt, die er nicht genau kannte. Es kam ihm vor, als trete er in eine neue Welt. Ähnlich war es ihm auch früher zumute gewesen, wenn er entlassen wurde. Aber ein wenig anders waren seine Empfindungen doch.

Er sah heute manches mit anderen Augen an als sonst. Er bemerkte, was er stets übersehen hatte, die Schönheiten einzelner Gebäude, die blühenden Gärten, ja er freute sich der geschmackvollen Fensterauslagen, ohne den Reiz der Begierde zu spüren.

Aber er fühlte Appetit. Er hatte den begreiflichen Wunsch, nach der jahrelangen einförmigen Zuchthauskost, die den Magen abstumpfte, ein gutes Stück Fleisch zu frühstücken.

Er bog zufällig in eine Seitengasse ein und las bald über einer Tür: »Schankwirtschaft zum Offenbacher Hof.« Durch die Fenstergardinen lachte ihn ein hübsches, blondes Mädchengesicht an, ein schneeweißes Kätzchen saß auf einem halb entblößten, drallen Arme.

Nach einigem Zögern trat er kurz entschlossen ein. Die Wirtstochter begrüßte ihn, als er an einem mit bunter Decke belegten Tische Platz genommen hatte. Einige Rosen standen in einem Glase, deren Duft er gierig einsog.

Er bestellte ein warmes Frühstück. Leberknödel mit Sauerkraut, wie sie die kleine Speisekarte aufführte, hatte er immer geliebt. Dampfend stieg ihm bald der Wohlgeruch in die Nase.

Lächelnd sah ihm die blonde Gertrud zu, als er der kräftigen Kost zusprach.

»Trinken Sie einen Schoppen Königsbacher oder lieber Bier?«

»Erst bringen Sie mir die Portion noch einmal!« sagte er noch kauend.

Sie fragte ihn, ob er von hier sei oder von auswärts komme. Er schien also doch keinen heimischen Eindruck zu machen. Er erzählte, daß er von Mainz herübergefahren sei, um sich hier eine Stelle zu suchen. Mehr verriet er nicht. Er hatte es auf den Lippen, der Kleinen auszuplaudern, daß er mit einem Wochenlohn von dreiundzwanzig Mark in Ellerau bei Herrn Argobast anfange. Aber er schwieg. Solche Angaben wurden oft zu Verrätern. Es sollte ihn vorläufig, das war besprochen worden, niemand kennen.

Er trank ein Glas leichtes helles Bier. Den ungewohnten Wein wollte er vermeiden. Dann ließ er sich auch eine billige Zigarre geben und blies den Rauch vor sich hin.

Er fragte im Laufe der scherzhaften Unterhaltung, ob Gertrud schon einen Schatz habe, was sie lachend verneinte.

»Ich gehe heute nachmittag ganz allein spazieren!« erzählte sie mit unschuldigen Augen.

Er sah wiederholt, gewöhnlich mehrere Male hintereinander, nach der Uhr und überlegte einen Augenblick. Eine der beiden Stunden Freiheit war bereits vorüber. Er ließ sich ein frisches Glas geben und trank einen tüchtigen Schluck.

Gertrud setzte sich zu ihm und plauderte aus freien Stücken, daß sie die einzige Tochter der Witwe Schwinn war, der die kleine Schankwirtschaft gehörte. Der Vater war vor einem Jahre im Krankenhause gestorben. Mutter und Tochter hatten ihr Auskommen, das Häuschen gehörte ebenfalls der Witwe.

»Möchten Sie nicht ein Kino kaufen?« fragte sie plötzlich ganz unvermittelt.

»Ich? Wie kommen Sie darauf?«

»Nebenan ist eines zu vergeben für billiges Geld. Sind Sie nicht im Kino tätig?«

Diese Frage überraschte ihn. Dann glaubte er etwas erschrocken, sein bartloses Gesicht errege diesen Verdacht. Er schüttelte den Kopf.

»Das ist schade!« lachte sie wieder. »Ich möchte so gern einen Kinobesitzer heiraten. Zur Anzahlung geben wir ein paar Tausend dazu. Ich könnte mir nichts Schöneres denken, als fein angezogen, mit frisiertem Haar in der eleganten Kasse zu sitzen.«

Das kannte er alles sehr gut. Ins Kino war er mit Vorliebe gegangen und hatte manchmal den letzten Groschen hingetragen. Die schwermütige Musik, die man dort hörte, kam ihm in den Sinn, die aufregenden Bilder, die vor den Augen flimmernd vorüberzogen, fielen ihm ein. Diese Erinnerung machte ihn unruhig und bang.

Er trank hastig aus, bezahlte und erhob sich. Beim Abschied sah er der Trude genauer ins Gesicht und fand, daß sie wirklich hübsch war. Sie errötete etwas, als er ihr die Hand gab und »Auf Wiedersehen!« sagte.

Er hatte einen plötzlichen Einfall. Sein neuer Herr wußte die Stunde seiner Entlassung sicher ganz genau. Weshalb bestellte er ihn erst drei Stunden später in das Kontor? Hier lag doch eine Absicht klar zutage. Man wollte ihn gleich zu Anfang auf eine Probe stellen. Die galt es zu bestehen! Nicht eine Minute durfte er später kommen!

Als er draußen stand, war er auch mit dieser zweiten menschlichen Begegnung in der neuen Freiheit zufrieden. Die Blonde hatte offenbar Gefallen an ihm gefunden. Sein Glück bei den Frauen hatte ihn also nicht verlassen. Dabei trug er die Haare ganz kurz und keinen Schnurrbart. Wenn sie erst gewachsen waren, würde es ihn besser kleiden. Dann konnte er sich sehen lassen.

Drei Häuser entfernt sah er die Plakate des Lichtspieltheaters. Bleiche, bartlose Gesichter mit verzerrten Mienen und aufgerissenen Augen starrten ihn an. Ein geheimnisvoller Einbruch in einen Juwelierladen bildete den Inhalt des sensationellen Films »Die schwarze Perle!«

Einen Augenblick stand er wie gebannt. Sein Rücktritt in die Freiheit erfolgte unter nicht ungünstigen Aussichten. Eben hatte er eine nicht mißzuverstehende Aufforderung gehört, sich zum Kinobesitzer zu machen. Ob sie ernstlich gemeint war? Wer wollte das wissen? Darüber ließ sich vielleicht später reden. Heute mußte er sein Versprechen halten.

Aus dem Gäßchen trat er wieder in die schöne, belebte Straße.

Er wendete sich nach dem großen Kölner Platz, von wo, wie ihm beschrieben worden war, die Straßenbahn nach Ellerau hinausführte.

Die lange Fahrt bereitete ihm viel Vergnügen. Für zehn Pfennige fuhr man eine endlose Strecke. Man sah Gebäude und Gärten, Menschen und Tiere; weiter draußen grünende Kornfelder und Wiesen, einen schmalen Fluß. Man genoß die Welt im Fluge. Er nahm sich vor, öfter auf der Straßenbahn zu fahren.

Fast zu pünktlich auf die Minute klopfte er zaghaft an der Kontortüre des Hüttengebäudes, nachdem ihm Musel, der Pförtner, am Torwegs Bescheid gesagt hatte.

*


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