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Siebenundzwanzigstes Kapitel

Er ging einige Male im Zimmer auf und ab und blieb dann vor seiner Frau stehen.

»Verzeihe, daß ich mich so vergessen konnte, Hilde, und damit die Situation so sehr verkannte« wandte er sich in ganz verändertem Tone, so daß sie erschrak, an sie. »Wir wollen vernünftig zusammen sprechen und unsere Beziehungen ordnen. Alle unsere Angelegenheiten wollen wir ordnen.« Das klang so bedeutungsvoll.

»Sage mir«, fuhr er tiefernst fort, »da wir einmal dabei sind, wie hieß der junge Mann, du weißt, wen ich meine –, dem du vor zwanzig Jahren den Laufpaß gabst, als wir uns in Mainz kennenlernten?«

Sie lehnte mit den Händen auf dem Rücken wieder am Kamin und sah überrascht auf. »Ich habe seinen Vatersnamen vergessen. Du weißt, ich habe kein Namensgedächtnis. Sein Rufname war Fred – so ließ er sich nennen.«

»Er war Geiger und besuchte das Konservatorium?« fragte er weiter.

»Jawohl.«

»Hast du den Bericht über die gestrige Verhandlung gelesen?«

»Eingehend.«

»Hast du gelesen, daß von dem Geiger die Rede war?«

»Kein Wort – dort liegt die Zeitung« erklärte sie errötend.

Er sah in den Verhandlungsbericht. »Es ist richtig – sie haben davon nichts gebracht – sie wollten unser Familienleben schonen.«

Sie horchte auf.

»Du hast – sage mir das – du hast einen Brief dieses Fred nicht vernichtet –«

Sie machte ein gleichgültiges Gesicht.

»Hast ihn aufgehoben, Hilde –« sagte er eindringlicher.

Sie zuckte mit den Achseln.

»In diesem Briefe liegt – ich weiß das erst seit gestern – liegt eine zersprungene Saite –«

Eine Röte übergoß ihre Wangen.

»Angeblich von seiner Geige –«

Sie sah ihn nicht an.

»Sage mir – wie kamst du als meine Frau dazu, Hilde, dieses seltsame Andenken so sorgsam zu bewahren? Fast ein Vierteljahrhundert lang? Du hast mir versichert, deine Neigung zu ihm sei eine vorübergehende gewesen, sie sei in deiner Erinnerung ausgelöscht. Anfangs wolltest du mir seinen Namen nicht nennen, in den späteren Jahren sagtest du, wie heute, du habest ihn vergessen – vergessen, Hilde!«

»Ich weiß ihn tatsächlich nicht mehr – sei versichert – ich kann das beschwören – ein Schleier hat sich über dieses Jugendereignis gelegt.«

Man mußte ihr Glauben schenken.

»Aber seinen Brief und die zersprungene Saite hattest du bewahrt – bis gestern – bis ihn die Polizei in deinem Schreibtische fand.«

Sie fuhr auf. »In meinem Schreibtische? Die Polizei?« Wie schützend stellte sie sich vor ihren Schreibtisch.

»Weißt du das nicht?«

»Ich war nicht zu Hause, Ottilie auch nicht. Wir wurden berichtet, die Polizei habe nur in deinen Behältnissen gesucht.«

»Das haben dir die Dienstboten verschwiegen, um dich zu schonen. Die Polizei hat auch deinen Schreibtisch geöffnet – sieh' nach – überzeuge dich – Spuren der Anordnung werden sich finden – frage die Dienstboten.«

Sie lachte eigentümlich und machte vor dem Kamin einige Schritte. »Es steht dir gut an – steht dir zumal heute – in diesem Augenblicke sehr gut an, mich zur Rede zu stellen« sagte sie.

»Noch sind wir ja Mann und Frau. Noch habe ich ein Recht, zu fragen.«

Sie richtete sich auf. »Du wußtest von ihm, als du mich kennenlerntest. Mit ihm brach ich, um dir zu folgen. Wenn du es heute hören willst – gerade heute – ja – ich habe – wie sage ich? – habe ihn wohl –«

»Siehst du!« Er erhob die rechte Hand und streckte den Zeigefinger in die Höhe.

Diese anscheinende Feierlichkeit reizte sie.

»Die Kunst brachte uns nahe – er war ein sonderbarer Mensch – ein großes Talent.«

»Hast du gehört, daß er ein berühmter Geiger geworden ist?«

»Nein.«

»Aber ich habe ihn Geige spielen hören – wiederholt – er hatte eine seltsame Zuhörerschaft.« Es klang wie Hohn.

»Wie standest du mit diesem jungen Manne?« begann er von neuem.

»Wie meinst du das?«

»Wie du es verstehst!«

»Du hast mich zu deiner Frau genommen, ohne mir vorher diese Frage vorzulegen –«

»Aber ich kann sie nachholen.«

»Heute?«

»Gerade heute!« sagte er wieder heftig.

»Du hast kein Recht, mich in diesem Augenblicke zu kränken. Ich verlasse dein Haus –!« rief sie zitternd und machte einige Schritte.

Er stellte sich vor die Türe. »Nach zwanzig Jahren komme ich dahinter. Nur eine ungewisse Ahnung sagte mir manchmal – Ottilie ist –«

Im ersten Augenblicke legte sie mit lebhaften Gebärden Verwahrung ein. Dann wendete sie ihr Gesicht ab.

»Du hast es mich glauben machen – ich glaubte es gerne – die Zeit konnte annähernd stimmen – aber eine Probe versagte – du brachtest mir keinen Sohn – kein zweites Kind.«

»Willst du nicht dankbar sein, daß das Geschick gerade dir die Nachkommen versagte?« flüsterte sie. »Du hast es gewußt – hast es wissen müssen – ich nahm es als unser stillschweigendes Einverständnis an – für mich war es die Bedingung – hörst du? Die Unebenheiten ihres Charakters, die wir erlebten, sind nicht vererbt –«

»Du hast von dem Zeugen Erkelenz gelesen – Robert Erkelenz heißt er –«

Als sie den Namen hörte, fiel ein merkwürdiger Klang in ihre Seele.

»Der mich verraten hat – er ist – höre nur – dein Fred – jawohl – staune nur. Aus dem Zuchthause habe ich ihn übernommen und in meiner Hütte eingestellt – habe ihm fortgeholfen – habe ihm eine Geige überlassen – im Zuchthause habe ich ihn zuerst spielen hören – eine Verbrecherlaufbahn hat er hinter sich – unmittelbar als du von ihm gingst –«

»Das ist nicht wahr – das lügst du!« rief sie verzweifelt, alle Kräfte zusammennehmend.

»Er selber hat sich zu dir bekannt – hat sich letzten Sommer, als wir in der Schweiz waren, eingeschlichen, hat dich auf den Photographien, auf dem Ölporträt wiedererkannt – deinen Schreibtisch geöffnet – seinen Brief mit der zersprungenen Saite gefunden –«

Hilde war starr. Sie blickte entsetzt ins Leere.

»Deshalb hat er mich – seinen Wohltäter – verraten – gestürzt – vernichtet – das war seine Rache. Er ist Ottiliens Vater – nun wirst du ihren Charakter beurteilen –«

Ein Weinkrampf schüttelte sie. Aber er hatte kein Mitleid und schüttete das Maß seines Grimmes voll über sie aus.

»Und du?« endete er. »Wie stehst du nun da? Zwischen zwei Verbrechern hast du deine Neigung geteilt – sankst aus den Armen des einen unmittelbar an die Brust des anderen – wie kam es, daß du gerade Verbrechern so sehr begehrenswert erschienst – daß du gerade Verbrechern deine Liebe schenktest –? Zogen die Duftstoffe unserer Seelen sich gegenseitig an – weißt du, daß es Frauen gibt, die die Bestimmung haben, Verbrecher unsäglich zu lieben?«

Er konnte nicht weitersprechen, die Tür öffnete sich und Ottilie trat herein. Sie blieb in der Nähe des Einganges stehen und sah verlegen abwechselnd Vater und Mutter an. »Guten Abend!« war alles, was sie schüchtern sagte.

Sie sah blaß und ernst aus, auch sonst erschien ihr Äußeres Argobast verändert. Etwas Fremdes sprach ihn aus ihrem Wesen an.

Er wußte nicht gleich, wie er die Unterhaltung einleiten sollte. Es war ihm peinlich, ihr auseinanderzusetzen, daß er zwar schuldig, aber doch nicht verurteilt sei. Sie fragte auch nicht, zeigte keine Verwunderung, keine Freude, ihn hier zu sehen. Ihr Benehmen schien ihm zu sagen, daß sie unterrichtet war.

Um alle Ungewißheit auszuschließen, kam er sofort auf die Hauptsache zu sprechen. »Deine Mutter«, begann er, »beabsichtigt – wie sage ich? – sich von mir zu trennen. Das weißt du wohl? Ich überrasche dich nicht. Du hast nun die Wahl, wem du folgen willst.«

Sie sah ihn verlegen an und antwortete nichts.

»Du hast die freie Wahl – ich versichere dir – kein Zwang ruht auf dir – erkläre dich ganz offen.«

Sie zögerte noch einen Augenblick.

Daß sie ihm nicht folgen wollte, wußte er schon.

»Dann bleibe ich bei Mama« sagte sie still weinend.

Er nickte, als sei es ihm eine Bestätigung, daß sie nicht sein Fleisch und Blut sei. »Es soll dir an nichts – gar nichts fehlen – was ich zu deinem künftigen Lebensglücke tun kann – soll gern geschehen.«

Hilde blickte auf. Ottilie lächelte trübe vor sich hin.

Er trat einige Schritte näher zu ihr.

»Hast du die Trennung von Ottokar überwunden – hoffst du sie überwinden zu können?« verbesserte er sich mild.

Sie trocknete sich die Augen. »Das liegt ja schon weiter zurück, Vater, und ist nicht erst durch die neueren Ereignisse erschüttert worden.«

»Wie meinst du das?«

»Es ist etwas geschehen – etwas Furchtbares geschehen – ich weiß nicht, was«, sagte sie, die Hände nervös ringend, »das ihn mir schon, ehe wir nach dem Engadin gingen, abwendig machte – Mutter kann dir's erzählen.«

Hilde nickte.

»Davon weiß ich ja gar nichts.«

»Es ist aber doch geschehen. Als er dann von der schlesischen Reise wiederkam – war er für mich verloren.«

»Das glaube ich wohl« sagte er bedrückt.

»Nicht wie du es vielleicht meinst, Vater« antwortete sie gütig. »Ich hätte ihn einer Liebe für fähig gehalten, die über alle Hindernisse hinwegkam. Ich wäre mit ihm nach Afrika, an das Ende der Welt gegangen, wo uns niemand kannte. Ich ging ganz in ihm auf – meine Liebe und die seinige hätten mich über alles hinweggebracht – auch über das Unglück dieser Tage.«

Wie sie das sprach, machte es der rührende Ton ihrer Stimme überzeugend und wahr.

»Mein liebes Kind –« seine Stimme zitterte.

»Ich habe schon die Lösung von allem gefunden, Vater. Ich selber trage die Schuld! Er ist zu gut für mich –«

»Wie kommst du darauf?« fragte er vernichtet.

»Du hast mich selbst auf seinen Wert hingewiesen. Und ich habe es in meinem eigenen Innern verspürt. Wir haben ja darüber gesprochen, Vater. Ich versichere dir, die Schuld liegt in mir. Ich lebte so auf, ich streifte so vieles ab, ich hoffte in ihm und mit ihm –«

Sie schluchzte; die Mutter trat zu ihr und strich ihr sanft das weiche Haar.

»Es ist schade – es sollte nicht sein«, fuhr sie gefaßter fort, »nun ist es vorüber. Er hat den Versuch mit mir nicht gewagt – vielleicht hat er an seinem Gelingen gezweifelt – er hat mich erkannt – ich weiß es – er hat die Schwächen meines Inneren empfunden – er hat mir in die Seele gesehen oder es hat mich ihm jemand verraten –«

Argobast vergaß das eigene Leid und schüttelte verwundert den Kopf. Was war aus diesem Kinde geworden? Wie war auch ihm der Schmerz, der tiefe Seelenschmerz zur Erkenntnis geworden!

»Aber ich will versuchen, auch ohne seine Gegenwart gut zu sein – gut zu werden – es ist schwer – ich fühle es schon – aber du bist nicht schuld, Vater – es ist schade – jammerschade – aber Muttel wird mir helfen – sie will mir beistehen – sie hat es mir versprochen – nicht wahr, Muttel?«

Mutter und Tochter hatten sich umschlungen und preßten ihre Wangen aneinander, so daß die Tränen sich mischten. Aber die Mutter war blaß und leblos. Wie ein Fremder, wie ein Ausgestoßener stand Argobast daneben. Er hätte in die Erde versinken mögen vor Scham. Er hätte in Jammer ausbrechen mögen.

»Hast du gehört, wohin er versetzt worden ist?« fragte er.

»Es hat vorgestern in der Zeitung gestanden – nach Halle.«

»Du hast ihm selber sein Wort zurückgegeben?«

»Ja – das gebot mir doch meine Pflicht.«

»Was schrieb er dir, als er deinen Verzicht annahm?«

»Oh, er schrieb mir gütig – wie immer – so gütig –«

Nun war Michael Argobast am Ende seiner Kraft. Er sagte den Frauen Gutenacht und begab sich in sein Zimmer. Hier schloß er sich ein und ordnete bis gegen Morgen seine Papiere. Dann schlief er angekleidet todmüde auf dem Sofa ein.

*


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