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Fünftes Kapitel

Das alte Landeszuchthaus lag am Schloßgraben; in den kleinen südlichen Vorgärten der Anstaltsbeamten, die sich von den Gebäudemauern bis zur Promenade erstreckten, blühten die ersten Rosen und Vergißmeinnicht.

Der Schloßgrabenweg führte am ehemaligen wirklichen Graben, der, die alte Stadt umschließend, längst ausgefüllt worden war, entlang, und die Anstaltsgebäude bildeten das frühere, auf einer leichten Anhöhe stehende Schloß mit seinen Wirtschaftshäusern, unter denen ein mächtiges, mit hohem Ziegeldache gedecktes Giebelgebäude auffiel.

Das Schloß hatte einst einer alten, jetzt ausgestorbenen Adelsfamilie gehört, deren Geschichte in vergilbten, der Stadtbibliothek einverleibten Büchern zu lesen war, die außer einem gelegentlichen Quellenforscher freilich kaum jemand in die Hand nahm.

Ein wildes Geschlecht hatte da oben Jahrhunderte gehaust, Räubereien, Mordtaten und andere Frevel meldeten die alten Chroniken; in Entartung war der letzte Sprössling der langen Linie schließlich untergegangen. Das Besitztum fiel an den Staat, der es zu seinen öffentlichen Zwecken umgestaltete.

Michael Argobast klingelte an dem mächtigen Eingangstor, das noch aus alter Zeit erhalten war, und passierte, als ihn der Pförtner erkannt hatte, ungehindert den tiefen Torweg, an dessen Ende er rechts in einen Gang trat, wo ihm ein Anstaltsbeamter die eiserne Tür aufgeschlossen hatte.

Der Besitzer der Eisenhütte in Ellerau war in der Anstalt eine wohlbekannte Persönlichkeit, da er aus Gefälligkeit für die Verwaltung und um den Züchtlingen angemessene Arbeit und Verdienst zu geben, in der Anstaltsschmiede für seinen Betrieb arbeiten ließ.

Er kam häufig selber, um die Arbeiten zu kontrollieren und abzunehmen, und hielt sich oft stundenlang im Anstaltsbereiche auf.

Durch seine rege Fürsorge für entlassene Strafgefangene war er mit dem Zuchthausdirektor Muskalla näher bekannt geworden, dem er manche neue und nützliche Anregung gab und gern Mittel für besondere Zwecke zur Verfügung stellte. Auch den Anstaltsgeistlichen, denen der Verkehr mit den Familien der Züchtlinge und deren Zurückführung in geordnete Lebensverhältnisse oblag, ging er hilfreich zur Hand.

Nur eine Stimme herrschte über den angenehmen dienstlichen Verkehr mit Argobast, der lediglich sich selbst für die gute Sache zur Verfügung stellte und dabei alles tat, um seine Verdienste nicht auffällig erscheinen zu lassen. Er gab manchen guten Rat, mischte sich aber nie in Sachen der Verwaltung, die mit anderen, weniger rücksichtsvollen Unternehmern – so mit dem Zigarrenfabrikanten Serbe – zuweilen Verdruß hatte.

Direktor Muskalla, ein wohlbeleibter Herr, war Artilleriehauptmann gewesen und hatte den Abschied genommen, um seine Jugendliebe, ein armes, aber schönes Mädchen, zu heiraten.

Im Strafanstaltsdienste hatte er sich ohne besondere theoretische Kenntnisse, aber durch einen gesunden, praktischen Blick und ein warmes Herz für den düsteren Beruf rasch emporgearbeitet. Er vereinigte in seltener Weise einen schönen Idealismus mit nützlichem Realismus.

Persönlich war er lebenslustig, liebte einen guten Tropfen und hatte schon einmal zur Tilgung aufgelaufener Schulden die Mithilfe des Ministeriums in Anspruch nehmen müssen.

So bestätigte sich auch hier, daß ein vortrefflicher Erzieher und amtlicher Organisator seiner persönlichen Angelegenheiten zuweilen nicht Herr zu werden vermag.

Im Dienste war er nüchtern, fleißig und zuverlässig. Wenn sich Juristen mit ihm über die Abschreckungs- und Besserungstheorien im Strafensystem unterhalten wollten, lachte er. Er bedurfte deren nicht und regierte seine tausendsiebenhundert Züchtlinge aus seiner glücklichen persönlichen Veranlagung heraus mit seltenem Erfolge.

Praktisch neigte er sich als geborener Optimist in der Ausgestaltung des Strafzweckes zu den neueren, aus Amerika und England nach Deutschland übernommenen Anschauungen. Aber Überspannungen und theoretischen Erwägungen war er abgeneigt. Deshalb stimmte er mit dem gleichgesinnten Argobast, in dem er vor allem den Selbsterzieher, der er gleichfalls war, mit Genugtuung erblickte, so sehr überein und hatte sich an eine gewisse gemeinsame praktische Arbeit mit ihm gewöhnt.

Argobast war in das im Erdgeschoß gelegene Direktorialzimmer getreten, von dem aus man durch vergitterte Fenster eine grüne, mit Bäumen bepflanzte Rasenfläche erblickte.

Die Räumlichkeit war ihm von seinen gelegentlichen Besuchen wohlbekannt. Da hingen an den Wänden in schmalen Rahmen die Grundrisse des gesamten Anstaltsbereiches, sowie der einzelnen Abteilungen und Gebäude. Zeichnerische Darstellungen zeigten das Steigen der Verbrechen in den letzten zehn Jahren und den Gefangenenbestand der Anstalt an. Ein Teil der Amtsbibliothek stand in den Schränken.

In kurzen Zügen hatte er Muskalla, dem er immer willkommen war, seine Absichten mit dem vor der Entlassung stehenden Züchtling Erkelenz vorgetragen.

Der Direktor hörte aufmerksam zu und nickte wiederholt mit dem Kopfe. Er schien also dem Experimente wohlwollend gegenüberzustehen.

Argobast wünschte in erster Linie zu wissen, ob ihm der Erste Staatsanwalt tatsächlich den geeigneten Charakter, wie er ihn gerade suchte, empfohlen hatte.

Muskalla lächelte etwas in seiner gutmütigen Weise und sagte: »Jawohl, Herr Argobast, den hat Ihnen der Teufel selber vorbehalten!«

Von seinem vorzüglichen Personengedächtnis unterstützt, erzählte er dann aus der Erinnerung einige auffallende Züge aus der Führung des Züchtlings, die seine Beurteilung mehr als rechtfertigten.

Hierauf wurden die inzwischen herbeigeschafften Personalakten eingesehen.

Es ergab sich, daß Erkelenz im achtunddreißigsten Lebensjahre stand. »Bekanntlich schließt nach unseren Statistiken die Besserungsfähigkeit in der Regel im Anfang der Dreißiger ab« bemerkte Muskalla, indem er auf eine der graphischen Darstellungen an der Wand zeigte. »Das ist keine graue Theorie, sondern leider Erfahrungstatsache.«

Aus seinem Lebensgange war zu entnehmen, daß Erkelenz ursprünglich Mechaniker gewesen war, dann aber mehrere Jahre in der Kanzlei eines Rechtsanwalts als Schreiber und Expedient gearbeitet hatte. »Hier wird er, nachdem er zuvor von der Spitzbubentechnik etwas erhascht hatte, seine zweifelhaften Gesetzeskenntnisse erworben und seine kriminalistischen Neigungen entwickelt haben.«

Argobast, der in die Akten mit einsah, verwies auf eine Anmerkung. »Er wollte auch Musiker werden und will eine Musikschule besucht haben.«

»Das können wir ihm glauben« sagte Muskalla. »Sie haben ihn ja neulich selber im Orchesterverein gesehen und gehört, den ich auf Ihre Anregung gegründet habe.«

»Der schwarze, blasse Mensch, der die Geige spielte?« fragte Argobast überrascht. »Wahrhaftig?«

»War's nicht das Stück von Bach-Gounod?«

»Nein, von Brahms. Das ist merkwürdig. Wissen Sie, was ich damals bei mir gedacht habe? Ich hatte das Gefühl, daß dieser Mann seinen Dämon, wenn Sie wollen, sein Böses, gedachte Verbrechen oder was weiß ich, mit einer gewissen künstlerischen Kraft sich von der Seele herunterspielte.«

»Da hätte er sich Ihnen ja musikalisch herrlich offenbart! Jawohl, das ist unser Robert Erkelenz. Für Ihren Versuch also wie geschaffen.«

Unwillkürlich sah der Hüttenbesitzer durch die Fenster in den Schloßhof, wo auf den zwischen Rasenbeeten hinführenden schmalen Wegen unter den dürftigen Bäumen einige Hundert gleichmäßig in graue Drillhose und schwarze Jacke gekleidete Gestalten sich bewegten.

In abgemessenen Abständen, die sich nicht um ein Geringstes zu verändern schienen, immer dieselbe Richtung haltend und denselben Weg wiederkehrend, wanderten die Männer lautlos hintereinander her. Selbst die Gesichter schienen durch das kurz geschorene Haar und den bartlosen Mund, sowie durch eine bleiche Farbe sich alle, kaum unterscheidbar, zu ähneln.

Die scheuen Blicke waren meist zur Erde gerichtet, nur vorübergehend betrachtete der einzelne den grünenden Baum vor seinen Augen, in dessen Zweigen sich Sperlinge zankten, oder sah einen Augenblick nach den Wolken, die über den Schloßhof zogen. Gemeinsam war allen die entehrende Strafe und der Verlust der Freiheit, aber jeder trug eine andere Seele und ein besonderes Schicksal in der Brust, dem er träumend nachhing, bis er, aufgeschreckt durch den scharfen Kommandoruf des Aufsehers, in die rauhe Wirklichkeit zurückkehrte.

»Sie meinen, ob er draußen an der Bewegung beteiligt ist?« fragte Muskalla, trat ans Fenster und warf einen scharfen Blick hinaus. »Tut mir leid, Ihr Schützling ist nicht dabei!« sagte er dann, als er im Augenblicke die Schar überflogen hatte.

In den Personalakten waren die Vorstrafen und die zugrunde liegenden Vorgänge kurz angegeben. Erkelenz war schon zweimal mit Gefängnis bestraft; auch im Zuchthause saß er zum zweiten Male.

Mit neunzehn Jahren hatte er als verwegener Einbrecher debütiert. Mit einem Genossen räumte er einer ganzen Familie, die um Mitternacht von einem Ball heimgekehrt war und im tiefsten Schlafe lag, sämtliche Wertgegenstände, mochten sie frei daliegen, in Kommoden verwahrt sein oder in Schränken hängen, ebenso alle Wäsche aus. Die Familienglieder – Männlein und Weiblein – mußten am Morgen im Bette liegen bleiben, weil sie buchstäblich nichts, aber auch gar nichts anzuziehen hatten.

»Einbrecher ist er also auch!« sagte Argobast nachdenklich.

»Aus der ausbaldowerten Wohnung eines Schutzmanns«, berichtete der Direktor aus den Akten weiter, »stiehlt er beim nächsten Auftreten die gute Uniform und nimmt in ihrem Schmucke bei einem ehrsamen Seilermeister eine Durchsuchung nach angeblich falschem Silbergelde vor, das natürlich in überraschender Fülle vorhanden war und von ihm auftragsgemäß beschlagnahmt wurde.«

»Hier zeigt sich bereits seine Neigung zum Vorgeben polizeilicher Diensthandlungen – im Charakter hat alles Zusammenhang.«

»Vielleicht wäre er ein gerissener Geheimpolizist geworden« lachte Muskalla.

Der Vorgang der dritten Verurteilung war etwas unheimlicher Art.

Ein Beamter des Zentralviehhofes hatte häufig Nachtdienst. Eines Abends gegen einhalb elf Uhr wurde plötzlich seine Wohnungsglocke gezogen. Als seine Frau infolge der späten Stunde zögerte, die Vorsaaltüre zu öffnen, wurde von draußen gerufen: »Hier ist der Freund von Ihrem Manne, Wilhelm Jörps! Machen Sie schnell auf! Wir bringen Ihren Mann, er ist überfahren worden und schwer verletzt!« Als die Frau erschrocken öffnete, drängten sich zwei maskierte Männer in die Wohnung und bedrohten sie, falls sie einen Laut von sich gebe.

»Sie müssen doch anerkennen, daß unsere Akten eine sorgfältige Charakterisierung geben!« warf Muskalla dazwischen, während er die Einzelheiten vortrug.

Dann räumten die Gesellen die Wohnung aus. Von den Betten nahmen sie die Decken, die Kissen und Wäsche, selbst die Vorhänge steckten sie von den Fenstern ab. Was an Geld und Wertsachen vorhanden war, eigneten sie sich an. Aus ihren Kästchen nahmen sie die silbernen Messer, Gabeln und Löffel. Schwere Gegenstände warfen sie zum Fenster hinaus, um sie später aus dem Vorgarten zu holen.

»Daß ihm eine gewisse Gründlichkeit abginge, wird kaum jemand behaupten können!« meinte der Direktor.

Einer der Räuber legte sich ganz gemütlich nieder und hielt ein kurzes Schläfchen, während der Genosse – das war Erkelenz – die Frau bewachte und mit ihr sogar liebenswürdig zu »plaudern« versuchte. Erst gegen vier Uhr morgens verabschiedeten sich die Masken, denen die Frau sogar die Treppe hinunterleuchten und die Türe aufschließen mußte.

»Die Brutalität ist bei diesen Leuten immer mit Humor gemischt« illustrierte Muskalla abermals. »Das ist ein winziges Fünkchen Hoffnung.«

Als der Ehemann gegen sieben Uhr morgens vom Dienste heimkehrte, so schloß der Bericht, fand er seine Frau, die zufolge ihrer großen Aufregung nicht imstande gewesen war, um Hilfe zu rufen, ohnmächtig in der Stube liegen.

Argobast räusperte sich und sagte, als der Direktor geendet hatte, nichts.

»Die Vorkommnisse der neuesten Verurteilung kennen Sie? Sie wissen auch, daß der verwegene Riesenschwindel zum Nachteile der Kreditbank in Darmstadt und vielleicht mancher andere Fall aus der weiteren Nachbarschaft auf ihm lastet?«

Der Hüttenbesitzer bejahte.

»Dann können wir uns also ein Bild machen. Verwegen bis zur Lebensgefährdung – könnte man vielleicht kurz sagen. Ich weiß nicht, ob Sie noch Mut haben? Furcht kennen Sie ja freilich nicht, und ich rate einem Manne wie Ihnen auch gewiß nicht ab.«

»Wenn ich alles zusammenfasse«, begann Argobast, sein langes Schweigen brechend, »so fällt mir auf, daß aus seinen Handlungen eine gewisse Tatkraft spricht, die mir einem starken Betätigungsdrange zu entspringen scheint. Vielleicht ist er bei ihm nie auf soziale Ziele gelenkt worden – meinen Sie nicht auch, Herr Direktor, daß in manchem Verbrecher eine irregeleitete Kraft – aber doch eine Kraft – eine große Kraft zuweilen – liegen kann?«

Muskalla bestätigte.

»Es wollte mich kürzlich jemand glauben machen«, fuhr Argobast sinnend fort, »in unserem bürgerlichen Verbrecher stecke nur Schwäche – niemals Kraft.«

»Wenn ich die wirklichen menschlichen Kräfte, die in diesem Unglückshause feiern, in geordnete Bahnen zwingen könnte, eine soziale Welle ginge über unser Land!«

Als er das sagte, lag in Muskallas Gesicht etwas unendlich Geistiges. Man erkannte mit Staunen, was in diesem Manne schlummerte, was er unter anderen Umständen auf seinem Gebiete zu leisten vermocht hätte.

Selber Argobast, der ihn doch auch von dieser Seite einigermaßen kannte, war überrascht.

Muskalla war von seinem hohen Fluge schon wieder zurückgekehrt. »Und was seine Gemütsart anlangt«, fügte er mit Bezug auf Erkelenz ruhiger hinzu, »so sehe ich, wie schon gesagt, in verschiedenen kleinen Zügen des trüben Bildes doch einen gewissen Humor, der immer mit dem Menschentume zusammenhängt.«

»Die Schwierigkeit liegt darin, daß man solchen Charakteren zum mindesten im Anfange nicht eine Stellung übertragen kann, die ihrem kräftigen Selbstbetätigungsdrange genügt.«

»Möchten wir nicht der Vollständigkeit halber noch unsere Führungsbeurteilungen lesen?«

»Darum wollte ich schon bitten.«

Der Direktor las: »›Erkelenz ist bisher ohne Einsicht in das Verwerfliche seiner Handlungsweise geblieben; Vorsätze zur Besserung fehlen.‹ Das war vor vier Jahren, als er das erste Strafjahr hinter sich hatte.«

Argobast nickte, als hätte er nichts anderes erwartet.

»›Zur alten Einsichtslosigkeit hat sich eine Gemütsverhärtung gesellt, die jeden Zuspruch schroff ablehnt. So ist dem Manne weder im Guten noch im Strengen irgend beizukommen.‹«

»In diesem zweiten Strafjahre ist das Erzieherische des Strafvollzugs an ihm verlorengegangen – ich möchte nach meinen Erfahrungen sagen: nicht durch seine eigene Schuld allein.«

»Mag sein – menschliche Einrichtungen und Menschen sind nicht vollkommen.«

»Womit haben Sie den Mann beschäftigt?«

Muskalla blätterte. »In der Schmiede und Schlosserei – vorübergehend auch in der Schreibstube.«

»Ihre Betriebe sind immer noch zu klein, zu handwerksmäßig – dabei kommt der Gefangene über die Kleinarbeit nicht hinaus. Im ethischen Wert der Arbeit liegt das Erzieherische. Produktive Arbeit! Sie verstehen mich? Nur das Bewußtsein, wirklich produktive Arbeit zu leisten, kann die Willensenergie des Gefangenen fördern. Solche Naturen wollen anders in Anspruch genommen sein.«

»Seine Arbeitsbefähigung wird immer als günstig geschildert – er gilt als geschickt« lenkte Muskalla ab.

»Und sein Fleiß?«

»Auch fleißig kann er sein, wenn er will! Das dritte Strafjahr: ›Erkelenz ist hinsichtlich der Besserungsmöglichkeit hoffnungsloser als je. Seine Verhärtung ist zum Trotz, zur Verstocktheit geworden. Frivolität und Brutalität zeigten sich, daher sein wiederholter Ungehorsam, seine Bosheiten, seine Verhetzung der Mitgefangenen, seine schweren Disziplinarstrafen.‹«

»Das war sein kritisches Jahr! Seine Entwicklung im Strafhause ist ganz folgerichtig. Ich muß Ihnen gestehen, der Mann interessiert mich. Der Fall erscheint mir doch nicht ganz hoffnungslos.«

Muskalla wendete zwei Blätter. »›Erkelenz ist in Stumpfheit verfallen. Seine Bosheiten und Widerhaarigkeiten haben nachgelassen, unflätig und zynisch ist er geblieben. Er ist träge und ohne Teilnahme.‹«

»Vielleicht war das seiner Natur, die sich sonst erschöpft hätte, zum Heile! Wenn noch etwas Brauchbares in ihm steckt, hat er's auf diese Weise am sichersten geschont.«

»Es werden doch zu wenige Menschen an ihre Stelle gesetzt« sagte Muskalla vor sich hin, der Argobasts treffende Urteile immer gern anerkannte.

»Wie ist nun das letzte Strafjahr verlaufen?«

Der Direktor ließ den Abteilungsinspektor Prehm kommen, dem Erkelenz unterstand. »Zur vorläufigen Entlassung konnten wir ihn selbstverständlich nicht vorschlagen« meinte Muskalla inzwischen etwas ironisch.

»Ja, diese vorläufige Entlassung!« erwiderte Argobast. »Ich habe erst neulich im Abgeordnetenhause darüber gesprochen. Ein wichtiger Hebel der Willensbildung! Ich weiß nicht, Herr Direktor, sehen Sie nicht auch mit voller Klarheit, daß alles darauf ankommt, schon in der Strafanstalt stufenweise und mit einem gewissen Übergange in die Freiheit die Willenskraft zum Guten, zum Sozialen zu stärken, daß sie dann in der Freiheit standhalten kann?«

Der Anstaltsinspektor Prehm, ein aufgeschossener, fast zum Skelett abgemagerter Mann mit einer großen Habichtsnase, der aus Gesundheitsrücksichten die Offizierslaufbahn aufgegeben hatte, berichtete, daß Erkelenz im letzten Jahre aus seinem Stumpfsinn wieder erwacht sei und, je näher das Ende seiner Strafzeit komme, desto unruhiger werde, damit wären aber auch seine Widersetzlichkeiten und Frivolitäten wieder aufgetreten – er verlasse das Zuchthaus ohne die geringste Hoffnung auf Besserung.

»Er hat den Kreislauf vollendet!« bemerkte Argobast ernst.

Der Inspektor machte eine überraschende, fragende Miene.

Draußen im Schloßhofe hatten die bisherigen Spaziergänger ihre Runden vollendet und rückten zur Aufnahme der Arbeit ein. Eine neue Gruppe derselben einsilbigen Gestalten rollte sich in den Fußwegen zu dem nämlichen Kreislaufe auf.

Schließlich wurde der Anstaltspfarrer Koogelbom berufen, der mit seinen schiefen Achseln mehr einem Schulmeister glich.

»Aussichtslos! Völlig aussichtslos! Schade um jede Bemühung! Höchstens schnöder Undank ist zu erwarten. Ich rate entschieden ab« rief er aus, indem er die Hände wie auf der Kanzel weit von sich streckte.

»Haben Sie sich schon um Unterkunft für ihn bemüht?« fragte der Hüttenbesitzer.

»Lehnt er mit dürren, unverschämten Worten sarkastisch ab! Er kenne unsere Versorgungen und bedanke sich für unseren Bettel! Eher wolle er verhungern, als einen betrunkenen Inspektor des Fürsorgevereins um eine Speisemarke bitten! Er scheint einmal in falsche Hände geraten zu sein. Er pocht auf seine Freiheit. Frei will er sein – von niemandem abhängen, dieser miserablen menschlichen Gesellschaft will er nichts schuldig werden – selber will er sich helfen.«

Der scheltende Geistliche begleitete seine Erklärungen mit drastischen Gebärden und Mienen.

»Da werden Sie schweren Stand haben!« meinte Muskalla etwas enttäuscht zu dem Hüttenbesitzer.

Dieser hatte den Anstaltspfarrer fast mitleidig angehört.

»Jede Besserungsmöglichkeit ausgeschlossen?« fragte er jetzt mit Nachdruck. »Auch in aller Frivolität, in allem Jammer keine noch so versteckte Sehnsucht nach etwas Gutem?«

Der Geistliche blickte überrascht auf. »O ja – so sah er manchmal aus«, lenkte er fast erschrocken und nachdenklich ein, »wer kann in die innerste Seele dringen? Vielleicht – ja – vielleicht –«

»Auf dieses Vielleicht hin, Herr Pfarrer, will ich's versuchen!« erklärte Argobast entschlossen mit erhobener Stimme, als wollte er sich selbst zu seinem zweifelhaften Vorhaben ermutigen.

»Herr Direktor, bitte – ich will den Mann kennenlernen – lassen Sie ihn mir vorführen! Gleich heute – ich warte darauf!«

*


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