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Zwanzigstes Kapitel

Mit Energie ging Staatsanwalt Custodies an die Arbeit. Vor allem die Ethik des Falles, die einen so lange verborgenen Missetäter auf so eigentümliche, in der Kriminalgeschichte bisher kaum dagewesener Weise ans Licht ziehen wollte, fesselte ihn.

Nachdem er das alte Bild in verschiedenen Größen hatte photographieren lassen, schickte er das Original an die Goslarer Polizei. Es kam aber mit der Ermittelung zurück, daß der Photograph Bohrer bereits vor fünfzehn Jahren gestorben und das Atelier seitdem bereits in zweiter Hand sei. Bücher waren im Geschäft nicht vorhanden, aus denen der Besteller des Bildes festgestellt werden könnte. Auch die ältesten Polizei- und Ratsbeamten, denen man das Bild vorgezeigt hatte, konnten sich der photographierten Persönlichkeit nicht entsinnen. Auch bei der hiesigen Polizeibehörde war über den Abgebildeten nichts zu erfahren.

Der Schriftvergleicher wies überzeugend nach, daß die Schriftzüge auf den anonymen Briefen und auf den unvollendet gebliebenen Briefbogen von derselben Hand herrührten. Er bestätigte auch aus dem ganzen Charakter der Handschrift eine hohe Wahrscheinlichkeit, daß alle Schriftzüge, auch die auf dem Rande der alten Zeitung, um dieselbe Zeit, ja mit derselben Feder geschrieben worden seien.

Der gerichtliche Chemiker vollendete den Nachweis und erklärte die auf allen Schriftstücken verwendete Tinte nach ihren untersuchten Bestandteilen für die nämliche Zusammensetzung.

Insoweit trafen alle Voraussetzungen, von denen der Erste Staatsanwalt ausgegangen war, zu.

In Magdeburg war über die Persönlichkeit des von dort gebürtigen Messerschmieds Kurstosch gar nichts zu erfahren. Er wurde also vom Staatsanwalt im Polizeiblatt als Zeuge bekanntgegeben.

Da die neueste anonyme Sendung, der keinerlei Begleitschreiben beigelegen hatte, in Leipzig aufgegeben war, wurde der kurze Sachverhalt dorthin an Polizei und Staatsanwaltschaft berichtet, ob etwa irgendeine Persönlichkeit der Absendung verdächtigt werden könnte.

Je länger sich Custodies mit dem Falle befaßte, mit desto zäherer Energie arbeitete er. Er ließ den kurzen Tatbericht vervielfältigen und an fast alle Staatsanwaltschaften und größere Polizeibehörden im Deutschen Reiche versenden.

So wurde um den geheimnisvollen Absender der neueren Belastungspapiere ein gefährliches Reh mit immer engeren Maschen ausgeworfen. Wenn so viele Behörden und Beamte von dem seltsamen Sachverhalt Kenntnis erhielten, war schließlich zu hoffen, daß doch vielleicht dem einen oder anderen eine Persönlichkeit bekanntgeworden war, die mit den Vorgängen in Verbindung gebracht werden konnte.

Soviel hatte Custodies in seiner kurzen Praxis bereits gelernt, daß man in solchen ganz verzweifelten und dunklen Fällen immer auf einen glücklichen Zufall angewiesen ist, dem es durch eine umsichtige Bereitung von zahlreichen Möglichkeiten und Gelegenheiten lediglich den Weg zu öffnen gilt.

Die Schriftzüge, welche die Adresse der Leipziger Sendung an die Staatsanwaltschaft bildeten, rührten nach dem äußeren Anschein und auch nach dem Gutachten des Sachverständigen nicht von derselben Hand her, welche die alten Schriftstücke geschrieben hatte.

Als der Zeuge Kurstosch in Schlesien durch das Polizeiblatt ermittelt worden war, wurde die dortige Polizei unter Beifügung der Originalphotographie um seine Befragung ersucht.

Der Bericht, der an die Staatsanwaltschaft zurückgelangte, lautete recht fragwürdig. Er gab die Widersprüche, in die sich Kurstosch verwickelt hatte, und die auffällige Befangenheit, ja Bestürzung, in der ihn der Wachtmeister gesehen hatte, sehr drastisch wieder.

Eine damals sofort bei dem Zeugen vorgenommene Durchsuchung hatte nichts Verdächtiges zutage gefördert; nicht ein einziges Schriftstück oder ein sonstiger Gegenstand konnte gefunden werden, der mit den Ereignissen vor fünfundzwanzig Jahren in Zusammenhang zu bringen war. Alle Erinnerungen aus der Jünglingszeit schienen absichtlich ausgetilgt zu sein.

Es blieb also vorläufig nur übrig, Kurstosch an seinem Wohnorte aufzusuchen und ihn dort durch eine geeignete Behandlung zum Reden zu bringen.

Ottokar Custodies gehörte zu den Juristen, die im Familienkreise über Fälle, die sie, zumal in der Gegenwart, beschäftigen, wenig, fast gar nicht sprechen.

Er legte das Amtsgeheimnis in diesem engbegrenzten Sinne aus und konnte nie begreifen, wenn ein verheirateter Jurist und gar Kriminalist seine Frau gewissermaßen auf dem laufenden erhielt.

Gleichwohl hatte er sich verleiten lassen, gelegentlich Ottilie kurz anzudeuten, welcher interessante Fall ihn beschäftigte.

Sie bemerkte dazu, daß sie es grausam finde, einer so alten Schuld, über die sozusagen Gras gewachsen sei, nach länger als zwei Jahrzehnten wieder nachzugehen.

Ottokar dachte nicht daran, dieses Verfahren zu begründen. Ottiliens Bemerkung schloß ihm tatsächlich den Mund. Er versuchte es zu überwinden, daß ihn ihre Ansicht zunächst etwas verstimmte. Schließlich glaubte er sie in ihrer Erklärung als echte Tochter ihres Vaters wiederzuerkennen.

Merkwürdig war nur, daß er sehr bald den Vorwurf, den Ottilie erhoben hatte, im stillen gegen sich selber geltend machte und dadurch in eine innere Unsicherheit geriet, die seinem Wesen so wenig entsprach.

Fast war es ihm, als ob seine Bedenken ihn in Behandlung der wichtigen Strafsache säumig werden ließen, indem er die Reise nach Schlesien, von welcher der Fortgang der Untersuchung mit abhing, von Tag zu Tag aufschob.

Seine Unruhe machte sich gelegentlich auch im Hause Argobast bemerkbar.

Daß er und sein Schwiegervater gerade über Fragen seines Berufes oder wenigstens solche, die damit zusammenhingen, sehr verschiedener Meinung waren, ließ sich im Laufe des Familienverkehrs, da man sich immer nähertrat und gewisse rein äußerliche Förmlichkeiten beiseite ließ, nicht verhehlen.

Argobast hatte eine neue trübe Erfahrung hinter sich, die offenbar die Ursache seiner Verstimmung in den letzten Wochen war. Ottokar erfuhr es nur aus kurzen Andeutungen der Mama, die in solchen Fällen die Vermittlerin spielte.

Robert Erkelenz, der neueste Versuchszögling Argobasts, war eines Tages ohne jeden ersichtlichen Anlaß und ohne Abschied plötzlich verschwunden.

Dabei hatte er sich, während Argobast in der Schweiz weilte und er sich also ohne dessen Aufsicht wußte, so hoffnungsvoll geführt.

Die Hüttenangestellten lobten nach wie vor seinen Fleiß und seine Zuverlässigkeit.

Auch Frau Schubnell wußte nur Gutes zu berichten. Ihr Logismann hatte sein solides Leben, das ihn keine Nacht außer Hause führte, fortgesetzt. Nur zweimal war er Sonnabends abends in das nahe Gebirge ausgeflogen und erst am Montag gegen Morgen heimgekehrt. Die Wirtin freute sich über den Naturfilm, den er in den Schilderungen seiner Wanderungen bekundete.

Gerade in den nächsten Wochen sollte Erkelenz, wie der Herr ihm gelegentlich gesagt hatte, in eine höhere Stelle einrücken, in der er seine guten Fähigkeiten betätigen konnte.

Wäre Argobast dabei nicht zu sehr von seinem eigenen Plane erfüllt gewesen, so hätte er bemerken müssen, daß seine Eröffnung den Bedachten nicht mit der freudigen Überraschung erfüllte, die man bei ihm erwarten konnte.

Eine gewisse Veränderung im Wesen des Erkelenz mußten wenigstens hinterher die Schubnell und auch Argobast selbst zugeben.

Was ihn aus der sicheren Zuflucht, die er durch ein gütiges Geschick gefunden hatte, erneut in das wilde, unsichere Leben unwiderstehlich getrieben hatte, war die schmerzliche Entdeckung in Argobasts Schreibsekretär.

Er glaubte die Ursache seines vernichteten Lebensglückes erkannt und gerade in seinem Wohltäter dessen Räuber gefunden zu haben.

Dieser geradezu ironischen Schicksalsführung fühlte er sich nicht gewachsen. Seine dämonische Gemütsart erwachte von neuem.

Er machte alles, was er vor zwanzig Jahren erlebt hatte, noch einmal durch. Sein guter Engel verließ ihn, er fühlte, wie er wieder schlecht wurde.

Da packte ihn der Ingrimm noch einmal. Er konnte nicht mehr bleiben, wenn nicht ein Unglück geschehen sollte. Er konnte Argobasts Gesicht nicht mehr sehen, er hätte sich an ihm vergreifen, er hätte ihn töten können. So hoch stieg sein Haß.

Zum Mörder wollte er nicht werden. Wenn ihn lediglich dazu Argobasts Wohltat berufen, aufbewahrt, aufgespart hätte, mußte sie zum Himmel schreien. So beschloß er, ein Vertriebener, ein Gehetzter, zu fliehen.

Argobast war tief niedergeschlagen. Eine Woche lang sagte er kein Wort. Dann machte er seiner Frau, die von Erkelenz nichts wußte, eine ganz flüchtige Andeutung. Daß ihn dieser Mann so ohne allen ersichtlichen Grund bei seiner Rettungsarbeit im Stiche ließ, verletzte ihn im Innersten.

Und noch durch ein anderes Ereignis war sein Empfinden angetastet worden.

Vor einigen Wochen war ein gewisser Rüggeberg, ein Gewohnheitsdieb, der Polizei in die Hände gefallen. In seinem Besitze hatten sich einige Gegenstände befunden, die er, wie er nach langem Leugnen zugab, Ende August oder Anfang September aus einem Schranke, der auf der Diele der Villa Hildburg stand, gestohlen hatte.

Er behauptete, daß er bei der Ausführung durch den Wächter der Schließgesellschaft gestört worden sei, und deshalb von dem beabsichtigten weiteren Eindringen in die Wohnräume abgestanden habe.

Tatsächlich aber hatten sich, wie man sich nun erst erklären konnte, nach der Rückkehr aus der Schweiz einige Zimmertüren schwer aufschließen lassen. In verschiedenen Räumen hatte man Spuren von Unordnung entdeckt. Schließlich meldete auch Moritz, daß im Weinkeller unwillkommener Besuch gewesen sein müsse.

Argobast war diese Art einer Berührung mit dem Gerichte nicht angenehm; es widerstrebte ihm, Belastungszeugen zu stellen; er gab deshalb Anweisung, über die sonstigen verdächtigen Spuren keine Angaben zu machen, so daß die Behörde auf die Geständnisse des Einbrechers angewiesen blieb.

So peinlich berührte ihn innerlich das Ereignis, daß er mit seinem Schwiegersohn kein Wort darüber zu sprechen vermochte.

Der Polizeibeamte hatte nämlich erzählt, daß Rüggeberg nach seinem Geständnisse in der Herberge zur Heimat von einem Unbekannten auf Villa Hildburg als geeigneten Ort für reiche Diebesbeute aufmerksam gemacht worden sein wollte.

»Der Besitzer«, hatte der Unbekannte geäußert, »ist ein humaner Mann. Er zeigt dich überhaupt nicht an, und mußt du zufällig doch brummen, besorgt er dir hinterher, wenn du schön bittest, eine gute Stelle. Es verlohnt sich also auf jeden Fall!«

Diese Auffassung seiner jahrelangen Arbeit hatte Argobast tief geschmerzt. Im Innersten verwundet, zog er sich in sich selbst zurück und wurde verstimmt und verschlossen.

*


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