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Fünfundzwanzigstes Kapitel

Bei Wiederaufnahme der Verhandlung erstattete unter allgemeiner Spannung Skrandies seinen Bericht.

Erkelenz hatte in der Tat in den vielen Räumlichkeiten der großen Villa überraschend genaue Ortskenntnis gezeigt.

Sofort im Vorsaale des Erdgeschosses hatte er den um ihn gruppierten Herren die Lage der einzelnen Zimmer in allen Stockwerken, ja selbst kleiner Nebenräume, wie des Badezimmers und der Kammern und Kämmerchen, erklärt und sie dann mit einer Sicherheit und Eile, daß sie kaum folgen konnten, durch das Haus geführt.

In den größeren Zimmern hatte er mit nur geringfügigen Abweichungen Art und Stellung der hauptsächlichsten Möbelstücke, so des Flügels im Salon – auch den Platz, wo die Stradivari-Geige aufbewahrt wurde –, ferner die an den Wänden aufgehängten Bilder und manches andere genau bezeichnet. Fast alles erwies sich als zutreffend.

Die Einrichtung des ehelichen Schlafzimmers beschrieb er verblüffend genau und zeigte, in welchem Bett Argobast und in welchem seine Frau schlafe.

Schon nach diesen Ortsbeschreibungen, die überdies ein vorzügliches Gedächtnis voraussetzten, hatten die Herren, so berichtete der Polizeibeamte, sich der Auffassung kaum verschließen können, daß Erkelenz tatsächlich, und zwar nicht nur ganz vorübergehend, im Hause sich aufgehalten haben mußte.

Er hatte sie dann in Argobasts Arbeitszimmer im ersten Stockwerke vor den Schreibsekretär geführt. Skrandies öffnete das Mittelpult mit dem mitgebrachten Schlüssel; er wußte hier Bescheid, da er ja selbst zunächst nach dem Wanderbuche, hierauf nach sonstigen Beweisstücken eine Durchsuchung vorgenommen hatte.

Erkelenz zeigte auf den dritten linken Schubkasten und kündigte die vergilbten Stammbuchblätter, den Bibelspruch des alten Lehrers, den Vers der Schwester Martha, die Briefe aus Goslar von Mutterhand und mit der Unterschrift Luise an.

Alle Schriftstücke waren noch so, wie er sie früher vorgefunden hatte, vorhanden; kein einziges fehlte. Die Überraschung war außerordentlich, die Geschworenen flüsterten untereinander. Der merkwürdige Zeuge nickte ihnen zutraulich zu. Aber Staatsanwalt und Verteidiger drangen auf Fortsetzung der Amtshandlung.

Dann kamen in dem oberen Kasten die vielen Dankschreiben, zerrissene Schuldscheine und das Gedicht »Sühnstätte«, dessen Gedanken Erkelenz ungefähr anzugeben vermochte, in einem anderen Fache die merkwürdigen Zensurhefte von Ottilie Argobast und ein Zeitungsausschnitt mit einem Rezept zur Entfernung von Tätowierungen, alles genau nach den Voraussagen des Zeugen zum Vorschein.

Die Herren umstanden ihn dabei mit immer wachsendem Erstaunen wie einen unheimlichen Hexenmeister, der sein Hokuspokus machte und alle möglichen Dinge hervorzauberte.

»Die Gebrauchsanweisung zur Entfernung von Tätowierungen, Herr Inspektor«, bemerkte er mit Ironie, »habe ich damals aus Vergeßlichkeit liegenlassen – heute – vor dem Sekretär stehend – fiel sie mir wieder ein.«

In diesem Fache hatten auch, so versicherte Erkelenz, die alte Zeitung mit dem Verhandlungsberichte und die unvollendeten Schriftstücke gelegen. Mit nervöser Hand stöberte er, gleichsam um es zu veranschaulichen, in den Papieren.

Hierauf kamen in dem flachen breiten Fache die Photographien mit den verschiedenen Widmungen an die Reihe. Erkelenz nannte die Unterschrift Monika Isolani voraus und zeigte dann triumphierend das Bild.

»Monika Isolani«, erklärte er beinahe theatralisch, »ist ein Bühnenname, sie war Sängerin am Mainzer Stadttheater, sang unter anderem die Mignon, jetzt ist sie seine Frau!«

Damit wies er auf die Photographie von Frau Argobast hin, die auf dem Schreibtische stand. Die Anwesenden, über die Kenntnisse eines Einbrechers von Argobasts Familienverhältnissen erstaunt, überzeugten sich von der Ähnlichkeit.

Unter diesen Bildern verborgen wollte Erkelenz auch die alte Photographie Argobasts, die ihn als jungen Menschen darstellte, in Papier eingeschlagen gefunden haben.

»Ich will Ihnen ganz genau beweisen, meine Herren«, hatte er in der Erregung gesagt, »wie Monika Isolani Frau Argobast wurde.« Er zeigte das Geheimfach und nahm die Liebesbriefe heraus. Er entfaltete sie und wies auf die Unterschriften.

Ein Geschworener fragte – wohl ganz beiläufig, – ob Erkelenz etwa selber Monika Isolani gekannt habe, weil er derartiges Interesse für sie gezeigt habe und eigentlich noch zeige.

Erkelenz verfärbte sich, schlug mit der Hand auf die Pultplatte und verlangte in immer steigender Erregung, Frau Argobast, die gewiß im Hause anwesend sei, gegenübergestellt zu werden. Er wolle doch hören, ob sie ihn verleugnen könne. Da wolle er ihr Stichworte ins Gedächtnis zurückrufen –

Hierauf zeigte er das kleine schwarze Notizbuch und in dessen Tasche den Reichskassenschein. »Hier haben Sie den Beweis, meine Herren, daß ich nicht stehlen wollte und auch nicht gestohlen habe – diesen Schein habe ich gefunden und liegengelassen.«

Der Polizeiinspektor entfaltete den zusammengelegten Schein, betrachtete ihn und nahm ihn dann, ohne etwas zu sagen, samt dem alten schwarzen Notizbuch an sich.

»Die Herren scheinen zu bezweifeln«, sagte Erkelenz, sich mißtrauisch im Kreise umsehend, plötzlich sehr ernst, »daß Monika Isolani und ich uns gekannt haben. Durch einen Brief werde ich den Beweis liefern. Bitte, folgen Sie mir.«

Der Landgerichtsrat zögerte, der Aufforderung nachzukommen. »Wir haben mit den privaten Beziehungen von Frau Argobast gar nichts zu tun.«

Auch der Verteidiger erhob Einspruch, zumal Frau Argobast, wie die Dienstboten erklärten, nicht anwesend war.

Der Staatsanwalt erwiderte, daß es vielleicht doch darauf ankomme, um die Glaubwürdigkeit des Zeugen ganz zu beurteilen, die Beweggründe seines Handelns kennenzulernen, die er anscheinend offenbaren wolle.

Erkelenz führte in das Damenzimmer und ersuchte den Polizeibeamten, mit Drahtschlüsseln, die er zur allgemeinen Überraschung selber bei sich führte, das Kästchen des Damenschreibtisches zu öffnen.

»Öffnen Sie selber – machen Sie uns das vor« erklärte der Inspektor.

Mit verblüffender Geschicklichkeit bediente er sich des Drahtschlüssels und schob den Riegel zurück. »Geben Sie acht, welcher wunderbare Duft Ihnen in die Nase steigen wird.«

Er hatte recht. Und nun bereitete er nochmals ausführlich auf seinen eigenhändigen Brief vom zweiundzwanzigsten Januar mit der eingelegten Violinsaite vor.

Die Herren trauten ihren Augen kaum, als sich alles, aber auch alles, nach der Voraussage bestätigte.

Das Haus hatte diesen eingehenden Bericht mit immer steigender Teilnahme angehört. Man begann diesen Toren oder Undankbarsten aller, dem man die Verworfenheit im Gesicht gelesen hatte, mit etwas anderen Augen anzusehen.

Die Hoffnung sah man schwinden, daß dieser merkwürdige Verbrecher, der als Zeuge ex machina auf den höchsten Stufen des Tribunals erschienen war, Phantasien zum besten gegeben habe.

Auch dadurch wurde die Stimmung für Argobast nicht zuversichtlicher, daß der Präsident die Mitteilung der Leipziger Polizei bekanntgab, die Persönlichkeit der Näherin Paula Werner sei zwar in der gemeldeten Wohnung bekannt gewesen, sie habe dieselbe aber seit acht Tagen aufgegeben, um nach Berlin überzusiedeln.

Michael Argobast hatte von der Anklagebank aus die Mitteilungen Skrandies' aufmerksam verfolgt. Da er auf dem linken Ohre etwas schwer hörte, hatte er sich so gewendet, daß er mit dem rechten die Worte des Beamten auffing und dem Publikum den Rücken zukehrte.

Deshalb sah eigentlich nur der ihm zunächstsitzende Staatsanwalt deutlich, daß er sich im Fortgange des Berichtes verfärbte und, als die einzelnen Schriftstücke genannt wurden, zu zittern anfing und unter den Schranken der Anklagebank leicht die Hände rang.

Als der Name Monika Isolani und ihre Briefe, als der Brief mit der gesprungenen Saite, wenn auch mit einer gewissen Schonung, erwähnt wurden, konnte sich Argobast nicht mehr auf den Füßen halten. Er brach in den Knien zusammen und mußte sich setzen, dabei sank er immer mehr in sich hinein.

Das Publikum war von den Einzelheiten des Berichtes zu sehr fasziniert, als daß es von Argobasts Veränderung viel wahrgenommen hätte. Erst am Schlusse vermißte man die vorher aufrechte Gestalt des Mannes und fragte sich, wohin er plötzlich gekommen sei.

»Was haben Sie zu den Vorgängen in Ihrem Hause zu sagen, die eben der Polizeibeamte berichtet hat?« fragte der Vorsitzende.

Der Angeklagte stieg mit blutleeren Wangen und starrem Blick gleichsam aus der Tiefe herauf, indem er sich wieder erhob. Alle waren entsetzt über seinen Anblick.

»Ich habe nichts zu erklären« antwortete er tonlos.

Der Verteidiger saß unruhig auf seinem Stuhle.

»Geben Sie damit zu, daß der Zeuge Erkelenz heimlich und gewaltsam in Ihre Wohnung eingedrungen ist und dort die vorliegenden Beweisstücke, die von Leipzig aus hierhergelangten, an sich genommen hat?«

»Ja – es kann sein –«

Es war, als ob im Hause jeder Atemzug stillstehe.

»Geben Sie zu«, sagte der Präsident mit erhobener, etwas zitternder Stimme, »daß die Beweisstücke von Ihrer Hand, soweit sie geschrieben sind, herrühren und daß die Photographie aus Goslar Sie selbst als jungen Menschen darstellt?«

Dasselbe tonlose »Ja«. Das Haus geriet in ungeheure Bewegung. Die Richter, die Geschworenen sahen sich entsetzt an.

»Wie kamen Sie dazu«, fuhr Woltering fort, als sich die Bewegung gelegt hatte, »den Verhandlungsbericht in der Zeitung mit Randbemerkungen zu versehen und sich aufzubewahren? Was bestimmte Sie vor fünfundzwanzig Jahren, die Entlastungsschreiben an das Gericht und die Geschworenen zu richten?«

»Um einen Unschuldigen zu retten und die Justiz vor einem Fehlspruche zu bewahren« klang es ziemlich fest von der Anklagebank.

Kurstosch, der von seinem Zeugenplatze aus alles mit gespanntem Ohre anhörte, sprang auf.

»Woher wußten und wissen Sie, daß der damalige Angeklagte Kurstosch an der Ermordung des Thomas Wrobel unschuldig war?«

»Ich wußte es« klang es jetzt wieder stammelnd.

»Wie konnten gerade Sie solche geheime Gewißheit haben, um die das damalige Schwurgericht mit allem Bemühen aufrichtig rang?«

»Weil – weil ich selber – ich habe es selber getan.«

»Sie haben Thomas Wrobel erstochen?«

»Ja.«

Einige Augenblicke konnte der Vorsitzende kein Wort sagen. Auch die Richter saßen wie entgeistert.

Der Staatsanwalt war aufgesprungen. Kurstosch schrie auf und gestikulierte drohend mit den Armen wie ein Irrsinniger nach der Anklagebank zu. Die Geschworenen redeten durcheinander. Im Publikum wogte ein dumpfes Stimmengewirr. »Was hat er gesagt?« klangen Fragen dazwischen.

Als die Unruhe und Erregung sich gelegt hatten, erzählte Michael Argobast. Langsam, stockend begann er, in abgerissenen Sätzen, nach seiner bekannten Art, bis er den Faden seines Berichtes fest in der Gewalt hielt und bis zu Ende mit kurzen, durch innere Bewegungen hervorgerufenen Unterbrechungen abwickelte.

Er erzählte von der Wanderschaft, wie sie sich an einem schönen Sommertag zu dreien trafen, Kurstosch, Wrobel und er selber, der sich, von seiner besorgten Mutter vor bösen Gesellen gewarnt, vorsichtigerweise Wolf genannt hatte.

Er erzählte auch von dem tätowierenden Metzgergehilfen in der Herberge. Er hatte immer ein besonderes Wohlgefallen an der glühenden, lodernden Flamme gehabt; das hatte ihn vielleicht auch zum Schlosserhandwerk getrieben; er glaube, daß seine ganze spätere Berufslaufbahn mit dieser jugendlichen Sympathie Zusammenhang habe.

»Ich fühlte«, erklärte er, »in meinem Innern etwas lodern, das mich mit sich fortriß, das mich mit Kraft erfüllte, es war mächtig wie eine Flamme. Schon als junger Mensch hatte ich den Drang, etwas zu leisten, zu schaffen, aufzubauen –«

Dann schilderte er den verstorbenen, etwas älteren Wrobel als verführerischen, gefährlichen Prahler, dem Trünke und Leichtsinn ergeben, der mit seinem Hundertmarkschein ein Wesen gemacht und wiederholt, als bereite es ihm Lust, sie anzustacheln, erklärt habe: Geld müsse der Mensch haben, viel Geld, dann stehe ihm die Welt offen, für Geld könne man sich alles kaufen. Wie ein Teufel sei er ihm vorgekommen, der es darauf angelegt habe, die Saat des Bösen in ihre Herzen zu streuen. Die tollsten Dinge habe er ihnen vorgeschwatzt und sei verführerisch um sie hergesprungen. In allen möglichen Plänen hatte er sich ergangen, wie er zu Gelde kommen und wie er es dann verwenden wollte.

Kurstosch verfolgte den Bericht des Angeklagten und gab durch Gebärden zu verstehen, daß er diesen Angaben zustimmte.

»Das machte mir im Laufe der drückend heißen Tage die Sinne wirbelig«, schloß Argobast diesen Teil des Berichtes, »zumal wenn ich an meine eigenen ärmlichen Verhältnisse im Elternhause und an die Aussichtslosigkeit dachte, jemals einiges Geld in die Hände zu bekommen. Die Mutter – ich liebte sie sehr – war leidend – todkrank – es fehlte am Nötigsten – wir haben die bitterste Armut geschmeckt – ihre Klagen lagen mir im Ohre – ich war manchmal der Verzweiflung nahe – ich war ein leidenschaftlicher, jähzorniger junger Mensch – erst das Leben machte mich ruhiger. Aber auch für mich selber wollte, brauchte ich Geld – ich lebte damals in dem törichten Glauben, mit hundert Mark lasse sich etwas anfangen – ein Handel – eine Werkstatt – eine Sucht, eine Begierde nach Geld überfiel mich – ich kann nicht beschreiben, wie fest in mir der Vorsatz waltete, etwas zu gründen – zu errichten – schon als Junge verfolgte mich dieser Gedanke.«

Dann ging der Angeklagte langsam auf die Tat ein. Er wußte, daß Wrobel und Kurstosch zusammen in der »Kanne« weilten, und hielt sich, im Innersten zwar vorbereitet und selber durch Alkoholgenuß ermutigt, aber noch unentschlossen, in der Nähe auf. Als dann der stark angeheiterte Wrobel durchaus ins Freie wollte, habe er ihn hinaus nach Ellerau geführt, sich dort mit ihm in ein Gehölz gelagert und schließlich die Tat vollbracht.

»Sie hatten den Vorsatz, ihn zu töten?« fragte der Präsident.

»Jawohl – wenn die Gelegenheit günstig wäre.«

»Das war sie doch?«

»Ja.«

»Sie haben dem Wrobel sieben Stiche versetzt – zwei davon ins Herz?«

»Ich weiß es nicht – es kann sein.«

»Weshalb stachen Sie so oft? Siebenmal! Waren Sie dabei in eine Erregung geraten?«

»Das kam mit dem Stechen selbst – jeder Stich versetzte mich mehr in Wut.«

»Das wissen Sie noch?«

»Ja – sehr genau.«

»Sie wollten Uhr und Geld Wrobels an sich bringen?«

»Ja – vom Gelde wollte ich nach Hause schicken, um die Not zu lindern.«

»Haben Sie das auch wirklich getan?«

»Nein.«

»Weshalb nicht?«

»Weil – weil –« Argobast wurde von einer heftigen Gemütsbewegung erfaßt und konnte nicht sprechen.

»Was haben Sie zu sagen? Beruhigen Sie sich.«

»Am Morgen nach der Tat«, begann Argobast, »machte ich eine furchtbare Entdeckung –« Er schwieg schon wieder.

»Welche Entdeckung?«

»Der Hundertmarkschein, mit dem Wrobel so sehr geprahlt hatte –«

Der Polizeiinspektor Skrandies stand auf, als ob er etwas sagen wollte.

»Was war mit dem Scheine?« fragte Woltering.

»Er war keine echte Banknote –« weiter kam er nicht –

»Wie meinen Sie das?«

»Er war eine Nachahmung – eine sogenannte Blüte.«

Diese Erklärung ging allen Zuhörern durch Mark und Bein. Kurstosch sank mit einem Schrei in seinen Stuhl.

»Ich hatte vergeblich getötet – das Schicksal hatte mich genarrt – der Tote selbst – der Teufel hatte mich nur zum Besten gehabt – meine Seele zu fangen –« In furchtbarem Schmerze brach der Mann zusammen.

»Können Sie hierfür einen Nachweis führen?« fragte der Vorsitzende nach einer Pause in mildem Tone.

»Ja – sie ist noch vorhanden – die Blüte – ich habe sie aufgehoben –«

»Wo ist sie?«

Argobast zeigte mit der Hand, als wäre sie ganz nahe. »In einem kleinen schwarzen Notizbuch – in meinem Sekretär.«

Skrandies trat vor und zeigte auf das Notizbuch, das er auf den Gerichtstisch gelegt hatte. »Der hier verwahrte Hundertmarkschein ist tatsächlich nicht echt – ist eine Nachahmung – ich habe das vorhin in meinem Bericht absichtlich nicht erwähnt, Herr Präsident.«

Woltering nickte. Die Geschworenen begriffen den Zusammenhang.

Die blaue Blüte wurde vorgelegt und besichtigt.

Zwei Tage lang nach der Tat hatte sich Argobast, so fuhr er in seinem Berichte fort, auf umliegenden Dörfern verborgen gehalten. Als er von Kurstoschs Verhaftung in der Zeitung las, verließ er die Gegend.

In der Anwandlung eines merkwürdigen Gefühls wagte er sich nach einigen Monaten zurück, suchte wiederholt die Stätte der Untat selber auf und las dann in den Zeitungen, daß die Schwurgerichtsverhandlung gegen Kurstosch stattfand.

Ein mächtiges Gefühl packte ihn. Er hatte zwar den Gedanken, jedoch nicht den Mut, sich selber zu stellen. Er beschloß aber, den Unschuldigen zu retten. Deshalb schrieb er die Entlastungsschreiben an die Justizbehörden und an die Geschworenen.

Er erzählte die Einzelheiten, wo und bei wem er damals gewohnt, wo er sich das Papier gekauft, wie er die Schreibversuche unternommen hatte. Er wußte alles noch sehr genau. Von Düsseldorf und Elberfeld aus, wohin er zu diesem Zwecke fuhr, gab er die Schreiben zur Post. Damals schrieb er auch für sich die berichtigenden Randbemerkungen an den Verhandlungsbericht und hob sich alles sorgfältig auf. Kurstoschs Freisprechung beruhigte ihn etwas. Nach einigen Monaten zog er dann wieder in die Welt.

Dasselbe unbegriffene Gefühl, das ihn schon einmal nach dieser Stadt zurücktrieb, hatte ihn erneut hierhergezogen. Jeder werde sagen und er selber habe es sich auch gestanden, erklärte er, daß er damit sehr unvorsichtig handelte, gleichwohl habe er es gewissermaßen nicht anders über sich vermocht.

Er habe davon erzählen hören, daß der Todesverbrecher unwillkürlich an den Schauplatz seiner Tat zurückgetrieben werde. An ihm habe sich das jedenfalls bewahrheitet. Er könne nicht sagen, wie oft er später an der Mordstelle geweilt habe.

Kein Atemzug war im Hause vernehmbar.

Aus dieser geheimen Ursache, wie ihm heute klar sei, habe er auch ganz in ihrer Nähe in der damaligen kleinen Weckelschen Schlosserei nach Arbeit nachgefragt und solche erhalten. Das sei auch zu seinem Glücke ausgeschlagen. Weckel habe an ihm Gefallen gefunden und ihm, als er einige Jahre später ohne Erben gestorben sei, das Häuschen, die Schlosserei und einiges Bargeld vermacht, damit habe er den Grundstein zu seiner späteren immer vergrößerten Anlage gelegt.

Man vergaß fast, daß man über einem Mörder zu Gericht saß. Man erinnerte sich, die Gegend in der Nähe der ehemaligen Weckelschen Schlosserei hieß heute noch vereinzelt im Volksmunde »am Totenkopfe«.

Nun versuchte Argobast zu schildern, wie seiner vielleicht merkwürdigen, für ihn aber überzeugenden Auffassung nach seine geheime unentdeckte Belastung mit Blutschuld die Hauptquelle seiner späteren Arbeitskraft und Willensenergie geworden sei.

Viele im Saale überhörten das wohl, andere verstanden es nicht. Oben aber unter den Zeitungsberichterstattern in der ersten Reihe saß ein kleiner blasser Mann mit dunklen Augen, der atemlos lauschte, fast Wort für Wort niederschrieb und am anderen Morgen zu seiner Genugtuung sah, daß der Redakteur diese Sätze nicht gestrichen hatte.

»Mir war«, sagte Argobast, »als müßte ich auf diese Weise darüber hinwegkommen! Mit jedem Fortschritt in meinem Werke fühlte ich mich leichter. Als ich den Hochofen baute, kam eine seelische Befreiung über mich. Angesichts des lodernden Schlotes sank meine Schuld immer tiefer in sich zusammen!«

Als er dann Gelegenheit hatte, viele Arbeitskräfte einzustellen, brachte er Strafentlassene unter. Er beteiligte sich an der Entlassenenfürsorge praktisch und theoretisch. Er opferte große Beträge. Er ging im Zuchthause aus und ein und gewann Einfluß auf die Behandlung der Gefangenen.

»Die Besuche im Zuchthause«, bemerkte er, »waren für mich seltsame Gänge; innerlich freier trat ich immer heraus.«

Noch unter dem Einflusse anderer Gefühle stand er. Es wäre ihm ein leichtes gewesen, die alten Zeitungen, die unvollendeten Schreiben, sein Wanderbuch zu vernichten und auch die tätowierte Flamme zu entfernen. Wie oft hatte er sich über seine Unvorsichtigkeit Gedanken gemacht und war doch zu keinem Entschlusse gekommen.

Wie an die Mordstätte, die er später unmittelbar zur Erweiterung seines Hüttenwerkes hinzukaufte – er hatte dort einen steinernen Brunnen errichten lassen – und auf der er nun täglich sozusagen als Wallfahrer wandelte, so hatte es ihn auch an die selbsthergestellten Beweisstücke für seine eigene Schuld unlösbar gefesselt. Er glaubte an einen tiefgeheimen Zusammenhang zwischen den leblosen Dingen und der lebendigen Menschenseele.

Und so hatte er sie bewahrt bis zum Tage ihrer Entdeckung, so hatte er sich für die Besserung der Gefallenen und Unglücklichen eingesetzt, bis er unter seinen eigenen Beweismitteln und an einem Menschen, dem er vor allem seine Rettungsarbeit schenkte, zusammenbrach.

»Wenn ich«, schloß er, zu den Geschworenen gewendet, »mich nicht entschließen konnte. Ihnen die Wahrheit zu gestehen, so wollen Sie das, bitte, aus meiner Ihnen erklärten eigentümlichen Auffassung heraus begreifen, daß ich meine Tat, wie sie eigentlich in fünfundzwanzig Jahren, schon in zwanzig verjährt wäre – mein Herr Verteidiger sagt mir, es fehlten daran nur wenige Tage –, daß ich, sage ich, glaubte, durch ein Leben von fünfundzwanzig Jahren, wie ich es führte, sei meine Tat vor mir selber und auch vor der Welt gesühnt. Jetzt weiß ich es anders, Gott selber hat gesprochen; man soll ihm nicht vorgreifen. Ihm unterwerfe ich mich. Richten Sie mich nach Gesetz und Recht!«

Der Eindruck der Worte Argobasts war groß und tief. Sein Leben und Wirken, das jeder kannte, sprach laut für ihn. Damen hatten ihre Taschentücher gezogen und schnupften sich. Seufzer wurden laut. Männer im Zuhörerraume und einzelne Geschworene fuhren sich mit der Hand über die Augen. Selbst um die Mundwinkel der Richter, die vielleicht ähnliche Auftritte schon erlebt hatten, zuckte es.

Der Verteidiger war aufgestanden und wünschte zu Worte zu kommen. Aber der Staatsanwalt kam ihm zuvor.

Er schien einen Augenblick das Gefühl zu haben, daß seine Anklage gefährdet war.

Zwar hatte der Angeklagte ein volles Geständnis abgelegt. Es konnte auch nicht zweifelhaft sein, daß er vorsätzlich getötet und die Tötung mit Überlegung ausgeführt hatte. Alle Einzelheiten hatte er so deutlich geschildert und seine Absichten und Zwecke ganz offen dargelegt.

Aber die Geschworenen hatten sich schon wiederholt auf den Standpunkt gestellt, daß sie aus eigenem Rechte Gnade üben könnten. Wenn sie die Mordfrage doch verneinten und nur Totschlag annahmen, schloß Verjährung jeden Strafanspruch aus.

»Ich möchte zu den Angaben des Anklagten«, sagte der Staatsanwalt, »eine Bemerkung machen. Er hat uns eine Erklärung gegeben, wie und weshalb er der Fürsorge entlassener Strafgefangenen soviel Zeit und soviel Geld geopfert hat –«

Der Verteidiger schnellte empor und betonte, daß diese Äußerungen des Herrn Staatsanwalts in der noch nicht abgeschlossenen Beweisaufnahme keinen Platz hätten.

Seine Einwendung hatte aber keinen Erfolg; vom Richtertisch kam keine Erklärung.

»Wenn jemand durch einen merkwürdigen, übrigens von ihm selbst mit gesetzten Zufall an der schwersten Strafe, die das Gesetz androht, vorübergegangen ist«, fuhr Doktor Nigger fort, »handelt er nicht mit einer inneren Überhebung, wenn er sich in so gehäuften Fällen, fast systematisch, zum Wohltäter und Arbeitgeber, ja zum Lebensordner von Verbrechern in Zuchthaus und Gefängnis aufwirft, die in Art und Maß ihrer Schuld der seinigen bei weitem nicht gleichkommen? War nicht jeder Gang, den er auf diese Weise ins Zuchthaus tat, ein Frevel an dem unsichtbaren Richter, eine Versuchung, eine Herausforderung seines Gottes, der ihm nun in den neuesten Geschehnissen seine Antwort gegeben hat?«

Hier hörte man mit einem Male eine Ansicht, welche ganz im Innersten wohl jemand schon geteilt haben konnte. So befremdend sie zuerst anmutete, etwas hatte sie doch für sich: dasselbe geheimnisvoll waltende Schicksal kam hierbei – vielleicht sogar wuchtiger, ernster – zur Geltung, das der Angeklagte selber schon anerkannt hatte.

Staatsanwalt Nigger, der zu bemerken schien, daß seine Worte Gehör fanden, fuhr nachdrücklich fort: »Mit dieser Überhebung des Angeklagten findet auch seine schuldhafte Mutlosigkeit Zusammenhang, in der er einen Unschuldigen zunächst den getäuschten Gerichten überließ. Denn sein schriftlicher Versuch, Kurstosch zu retten, war ein zweifelhaftes Unternehmen, das als unkontrollierbarer Eingriff in den Justizakt auch einen gegenteiligen Einfluß ausüben konnte. Wir können auch heute nicht mehr feststellen, ob es wirklich die Schreiben Argobasts gewesen sind, die dem damaligen Angeklagten zur Freisprechung verholfen haben.«

Der Staatsanwalt sprach nüchtern und kühl. Aber seine Schlußfolgerungen mußte man gelten lassen.

Der Ankläger kam zum Schluß. »Was den Mörder nach des Angeklagten eigenem Beispiel an die Stätte seiner Untat zurückführt, meine Herren, ist das böse Gewissen, das ihn nicht mehr losläßt, ist ebenso eine seltsame eingeborene Neigung des Verbrechers, sich fort und fort, sei es auch nur in Gedanken oder sonstigem straflosen Tun, mit verbrecherischer Art und Weise zu befassen!

»Der Rachegeist fesselte den Mörder an den Ort seiner Untat! Zuerst ist es eine scheue Neugier, zuweilen ein Übermut, eine Frivolität, ihn wiederzusehen, wo das Verbrechen vielleicht zur eigenen Überraschung des Täters gelang. Ein Mörder wollte die Zimmer mieten, darin er die Pfandleiherin erschlagen hatte; dadurch verriet er sich. Das war zugleich das Bedürfnis, über die Räume zu verfügen, zur eigenen Genugtuung, um ihr Betreten durch andere zu verhindern!

»So trat der Angeklagte bei Schlosser Weckel am Totenkopf in Arbeit, als böte ihm seine nahe Anwesenheit beim Tatorte durch eine Art Aufsicht über sie erhöhte Sicherheit! Dabei möchte man im Gegenteil glauben, er sollte sie fliehen, um nicht erinnert zu werden. Nein! Er will gerade erinnert sein, so oft als möglich, täglich, es entsprach seinem Gefühlsleben! Gerade so nahe dem Tatorte, glaubte er vielleicht niemals Verdacht auf sich zu lenken! So kaufte er später, als er das Grundstück geerbt hatte, die Mordstätte hinzu, um sie ganz zu besitzen. Er hat an der Mordstelle gewissermaßen als Denkmal einen Brunnen errichtet!

»Es ist auch nicht ungewöhnlich, daß er selber in wunderbarer Weise die Beweismittel für seine eigene Schuld bewahrte – aus ähnlichen Empfindungen heraus bewahren mußte! Auch das ist unzähligemal dagewesen. Ein Spengler, der einen Knaben ermordete, benutzte eine Scherbe des Kruges, den das Kind beim Tode in der Hand gehabt hatte, als Farbentopf. So wurde er entdeckt. Auf dem Fensterbrett seiner Wohnstube im Erdgeschoß ließ er sie stehen, der Polizeibeamte erkannte sie von der Straße aus im Vorübergehen. Der große und kleine Verbrecher, sie alle hängen mit oft erschütternder Beharrlichkeit an Gegenständen ihres Verbrechens. Es sieht sich manchmal an wie ein Verhängnis – der heutige Fall ist ein Schulbeispiel –«

Der Verteidiger schnellte erneut von seinem Sitz in die Höhe und beantragte, da der Angeklagte selber soeben die Verjährungsfrage berührt habe, dieselbe nochmals zu prüfen.

Während einer kurzen Unterbrechung, die das Gericht in der Verhandlung eintreten ließ, bat er sich die Gerichtsakten aus, um sie zur eigenen Nachprüfung, die geboten erscheine, nochmals persönlich einzusehen.

Mit den Akten begab er sich in das Anwaltszimmer, wo er ungestört war.

Der Gerichtshof und die Geschworenen waren längst in den Verhandlungssaal zurückgekehrt, nur der Verteidiger mit den Akten fehlte noch. Ein Gerichtsdiener wurde beauftragt, ihn zu holen. Der Diener kam mit dem Bericht zurück, die vom Verteidiger beabsichtigte Nachprüfung ziehe sich aus überraschenden Umständen, die er aufklären werde, noch einige Minuten hin.

Richter und Staatsanwalt schauten etwas verwundert drein. Zehn Minuten vergingen, fast unbehagliche Unruhe entstand im Hause, als endlich der Verteidiger wieder im Saale erschien.

Langsam, fast feierlich, mit merkwürdigen Mienen trat er an den Gerichtstisch und reichte die beiden Aktenbände zurück.

»Ich habe eine Erklärung abzugeben und einen Antrag zu stellen« sagte er, als er an seinen Platz zurückgekehrt war.

Der Präsident machte eine auffordernde Bewegung.

»Ich behaupte, daß bei Berechnung der Verjährungsfrist ein kleiner, aber für die Schuldfrage entscheidender Irrtum untergelaufen ist.«

Richter und Staatsanwalt sahen sich erstaunt und überlegen lächelnd an.

»Die zwanzigjährige Verjährungsfrist«, fuhr Rechtsanwalt Zscherper fast nüchtern fort, »ist verstrichen. Der Angeklagte durfte am dreiundzwanzigsten Oktober vorigen Jahres überhaupt nicht mehr verhaftet, durfte nicht unter Anklage gestellt, das Hauptverfahren nicht eröffnet werden.«

Der Staatsanwalt warf das Strafgesetzbuch auf seinen Tisch. Die Augen der Geschworenen hingen fast ängstlich an den Mienen der Richter. Erkelenz riß die Augen auf, Kurstosch verfiel in ein Zittern.

»Es ist richtig«, erklärte der Rechtsanwalt mit einer gewissen Genugtuung, »daß die erste neue richterliche Verfolgungshandlung gegen meinen Auftraggeber der Haftbefehl vom dreiundzwanzigsten Oktober vorigen Jahres darstellt. Aber die letzte richterliche Handlung gegen ihn datiert nicht, wie angenommen wird, vom siebenundzwanzigsten, sondern bereits vom einundzwanzigsten Oktober 1887.«

Der Vorsitzende blätterte hastig in den, älteren Aktenstücke.

»Wir meinen, Herr Präsident, zwar ganz denselben Beschluß des damaligen Untersuchungsrichters« bemerkte Doktor Zscherper fast verbindlich. »Nur in einer Kleinigkeit gehen wir auseinander. Die Sieben in der Zahl siebenundzwanzig ist keine Sieben, sondern tatsächlich eine Eins. Nicht siebenundzwanzigster, sondern einundzwanzigster Oktober muß es also heißen – am einundzwanzigsten Oktober war die Verjährungsfrist abgelaufen – der Haftbefehl vom dreiundzwanzigsten Oktober kommt um zwei Tage zu spät.«

Der Vorsitzende, mit welchem zugleich der eine Beisitzer in die Akten blickte, schüttelte den Kopf.

»Daß die erwähnte Ziffer nicht als Sieben, sondern als Eins zu lesen ist«, fuhr der Verteidiger unbekümmert fort, »ergeben einzelne Aktenstellen, Ziffern von der Hand desselben Untersuchungsrichters.«

Er nannte die Aktenstellen, die am Richtertische sofort aufgeschlagen und verglichen wurden.

»Herr Landgerichtsrat Eumann, der damals die Untersuchung geführt hat«, wendete sich der Verteidiger aufklärend an die Geschworenen, »schreibt eine etwas verschnörkelte, sehr feine und kleine Handschrift. Die Ziffer Eins im Datum vom einundzwanzigsten Oktober ist von uns als Sieben gelesen worden – auch von mir selbst, meine Herren, bei der ersten Einsicht der Akten –, weil diese Eins einen etwas langen Grundstrich zeigt und an der linken Kopfseite einen Schnörkel trägt, der uns allen den Anstrichbogen einer Sieben vorgetäuscht hat.«

Am Richtertische war die Prüfung noch nicht beendet. Im Hause entstand ein gedrücktes Schweigen.

»Sie werden vielleicht erstaunt sein, meine Herren«, bemerkte Doktor Zscherper, die Stimmung feinfühlig witternd, »daß ein solcher Irrtum entstehen konnte. Es ist eine alte Erfahrung und entspricht auch der Psychologie der menschlichen Denktätigkeit, daß ein der ersten maßgebenden Stelle, also hier der Staatsanwaltschaft – nicht dem amtierenden Herrn Staatsanwalt – untergelaufener formeller Irrtum vereinzelt auch von den weiteren Instanzen unentdeckt übernommen wird. Auch sonst im Leben bestätigt sich diese Erfahrung. Ich wiederhole, ich selber bin dem Irrtum verfallen, sonst hatten wir zum mindesten keine Hauptverhandlung. Ich stelle, falls den Herren Zweifel verbleiben, den Antrag, Landgerichtsrat Eumann als Zeugen zu vernehmen.«

Dem Antrage wurde stattgegeben. Landgerichtsrat Eumann, der Mann mit der Schnörkelschrift, war aus Interesse an der alten Sache im Hause anwesend und bald zur Stelle. Der betagte Herr mit langem, fast weißem Haar und goldner Brille fühlte sich von der ihm aufgebürdeten Zeugenrolle über so weit zurückliegende Vorgänge vor dem vollen Hause wenig angenehm berührt. Wenn ihm selber auch der angebliche Irrtum nicht widerfahren war, so sollte er ihn doch veranlaßt haben.

Er verglich die ihm vorgelegten Aktenstellen lange und eingehend, wobei seinen vor Alter zitternden Händen der schwere dicke Band mehr als einmal entglitt.

Er rückte die Brille und räusperte sich wiederholt, bis er mit leiser Stimme erklärte, es sei für ihn nicht zweifelhaft, daß der fragliche Beschluß nicht vom siebenundzwanzigsten, sondern vom einundzwanzigsten Oktober 1887 datiere. Er fand in seinen Niederschriften mehrere Male die Ziffer Sieben, die, zum Vergleich gestellt, schlagend bewies, daß der Verteidiger recht hatte und tatsächlich Verjährung eingetreten war.

Welcher Aufwand war für eine aussichtslose Sache vertan worden! Ganz vergeblich hatte man einen kostbaren Tag lang hier zugehört.

Wo blieben unbedingte Zuverlässigkeit und Sicherheit, wenn solche Irrtümer unterliefen? Wie leicht hätte ein Todesurteil gefällt, hätte ein Justizmord begangen werden können.

War dieses Gesetz gut, welches schwere Blutschuld schon in fünfundzwanzig, eigentlich schon in zwanzig Jahren dem irdischen Richter entzog? Hier hatten die Behörden noch ein übriges getan und die Verfolgungsfrist durch eine Zwischenhandlung um fünf Jahre verlängert. Waren zwanzig Jahre im Menschenleben nicht eine kurze Frist? Danach war alles getilgt, kein Haar konnte dem Raubmörder gekrümmt werden?

Oder lag in der Festsetzung von Verjährungsfristen nicht auch etwas menschlich Versöhnliches, Erhebendes, daß selbst eine Blutschuld nach zwei Jahrzehnten vom irdischen Richter verziehen war, der darin wohl der Verheißung des ewigen Richters folgte?

Dieser eigentümlichen Schicksalsfügung, diesem Zufall, wenn man so sagen wollte, zollte man ganz im Innern eine gewisse Anerkennung. Die Unschuld eines früher Verdächtigten war erwiesen worden. Ein Großer, ein Verehrter, der tief im Innersten aber ein Schuldiger war, hatte die Maske ablegen und seine Schuld eingestehen müssen. Es gab also doch eine höhere Gerechtigkeit, eine unbestechliche Macht, eine unbedingte Wahrheit in dieser Welt, selbst wenn alle Richter in einem Punkte sich irrten. Deshalb blieb auch kein Vorwurf auf dem silberhaarigen Landgerichtsrat Eumann zurück. Man war mit ihm völlig ausgesöhnt!

Im wunderlichen Gemisch dieser schwankenden Gefühle, welche das Haus bis zum Abschluß der Verhandlung nicht wieder verließen, hörte man, wie den Geschworenen Schuldfragen überhaupt nicht vorgelegt wurden, sondern nur der Gerichtshof die Frage entschied, ob die Strafverfolgung wegen Mordes verjährt war. Seltsam schauten die entbehrlich gewordenen Geschworenen drein.

Der Staatsanwalt war um sein Plädoyer gekommen, der Verteidiger sagte nur wenige Worte. Das Gericht bejahte die Frage der Verjährung und verkündete die Einstellung des Verfahrens.

Schweigend nahm das Haus das Urteil entgegen. Nur einzelne unklare Köpfe, die den Zusammenhang nicht recht begriffen, rissen die Augen auf und fragten, wie es geschehen könne, daß ein geständiger Raubmörder straffrei ausgehe.

Andere erkannten eine Gerechtigkeit darin, daß über Schuld und Nichtschuld gar nicht entschieden worden war. Dieses Zwitterverhältnis nahm der Angeklagte aus dem Gerichtssaal wieder mit ins Leben hinaus. Wären die Geschworenen zum Spruche gekommen, hätten sie den Mörder vielleicht zum Totschläger gemildert. Nun schleppte er den Mord weiter.

Der Abschluß der Verhandlung war still. Das Gericht zog sich hinter die grünen Gardinen zurück.

Einige Geschworene traten zu Doktor Zscherper hinüber und beglückwünschten ihn. Die verweilenden Zuhörer hatten den Eindruck, daß ein Verteidiger in tiefer Not unentbehrlich war. Man hatte sonst nicht immer so über die Rechtsanwälte gedacht. Aber heute hatte es ihnen doch den Atem versetzt.

Doktor Zscherper hatte dem Angeklagten, der den Vorgängen wie im Traume gefolgt zu sein schien, die Hand gedrückt. Argobast wußte erst nicht, wie ihm geschah. Er hatte wohl an einen Irrtum der Juristen am wenigsten geglaubt. Schweigend blieb er noch einige Augenblicke auf der Anklagebank sitzen, bis er sich erhob und dem Verteidiger folgen konnte, der ihn in das Untersuchungsgefängnis begleitete, wo seine sofortige Entlassung zu erfolgen hatte.

Das Publikum enthielt sich jeder Kundgebung. In der Erschütterung, welche die Ereignisse in den Gemütern hervorgerufen hatten, dachte fast niemand mehr an den Haupturheber der Katastrophe, an Robert Erkelenz.

Man wußte wohl, daß oben auf den höchsten Stufen des Gerichts der Rächer der himmlischen Gerechtigkeit erschienen war. Aber ihr trauriges irdisches Werkzeug mit seinen Entschließungen und Beweggründen hatte man vergessen.

Kein Mensch zeigte ein Interesse daran, den Mann zu sehen, welcher der Verhandlung die entscheidende Wendung gegeben hatte.

Niemand kümmerte sich um Erkelenz, niemand sprach ihn an, fragte ihn nach näheren Umständen aus. Darauf schien er zu warten. Alles drängte nach dem Schlusse der Verhandlung an ihm vorüber. Vergessen, verlassen, einsam verließ er das Gerichtsgebäude und stand wie in traumhafter Benommenheit auf der Straße, ohne zu wissen, ob er nach rechts oder links seine Schritte lenken sollte.

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