Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfzehntes Kapitel

Mit einem gewissen Ingrimme, der sich in der plötzlichen Heftigkeit seiner Bewegungen kundgab, machte sich Erkelenz an den Mahagonischreibsekretär seines Wohltäters.

Wer ihn beobachtet hätte, wie er den Drahtschlüssel in das Schlüsselloch des Pultfaches einführte, würde sich der Äußerung des Ersten Staatsanwalts Treuß erinnert haben, der Erkelenz sogar eines Mordes für fähig halten wollte. Er sah aus, als stieße er dem Hüttenbesitzer selber ein Instrument in die Brust.

Als der Riegel im Schlosse nachgab und die Pultklappe sich herabsenkte, zeigten angesichts der vielen kleinen Schubfächer seine Züge innerste Befriedigung.

Der erste Kasten, den er herauszog, enthielt wohlgeordnet häusliche Wirtschaftspapiere, den Wohnungsmeldeschein, die Dienstbücher der Hausmädchen, die Steuerzettel und ähnliches.

Nur flüchtig sah Erkelenz die Steuerpapiere ein und überzeugte sich von den außerordentlichen Summen, die der Hüttenbesitzer an Staat und Gemeinde entrichtete.

Im Kasten höher lagen die Personalpapiere Argobasts und seiner Angehörigen. Aus seinem Taufschein ging hervor, daß er im sechsundvierzigsten Lebensjahre stand. Nach dem Trauschein hatte er mit siebenundzwanzig Jahren als Metallwarenfabrikant geheiratet. Seine Frau Hildegard, geborene Ilshöfer, wurde nächstens achtunddreißig Jahre alt.

Unwillkürlich warf Erkelenz einen Blick auf die Photographie von Frau Argobast, die auf dem Schreibtische ihres Mannes stand. Im Innern herrschte nicht volles Tageslicht, weil er aus Vorsicht die Jalousien nur eine Kleinigkeit aufgeklappt hatte.

Ungeduldig nahm er den dritten Schubkasten vor.

Erinnerungen aus früher Jugend wurden hier verwahrt. Einzelne sehr alte Stammbuchblätter mit verblaßter Schrift fanden sich,

»Dein Leben lang habe Gott vor Augen und im Herzen und hüte Dich, daß Du in keine Sünde willigst noch tust wider Gottes Gebot. Diesen Leitspruch gibt Dir, lieber Michael, für Dein Leben mit aus den Weg Dein alter Lehrer Eversberg.«

Mit Kinderhand hatte ihm seine Schwester Martha einen bekannten Vers geschrieben.

In einem Umschlag lagen alte Briefe. Einige rührten von seiner Mutter her. Sie schrieb ihm, daß der Vater sehr krank und mürrisch sei, daß sie selber auch nicht so recht zugreifen könne; die kleine Martha mache ihnen aber viel Freude. Wenn sie nur etwas reichlicher Nahrung hätten, daß sie nicht so oft hungrig zu Bett gehen müßten, und der Michael zu Hause wäre, würde sie das Leben schon leichter ertragen.

Dann fand sich noch ein rosaes Briefchen von Mädchenhand, unterzeichnet mit »Deine Luise.« Das war wohl seine erste Jugendliebe gewesen, weil er es so sorgsam und lange ausbewahrt hatte. Es waren zärtliche Worte von ewiger Liebe und Treue. Vom letzten Sonntag wurde mit Schwärmerei gesprochen und das nächste Wiedersehen herbeigesehnt.

Langsam schob Erkelenz dieses Fach hinein und schien sich von Gedanken freizumachen, die sein Inhalt erweckt hatte.

Ein oberer Kasten enthielt eine große Anzahl anderer Briefe. Vielfach waren es Dankschreiben von Leuten, die Argobast auf die verschiedenste Weise unterstützt hatte. In einzelnen Briefumschlägen lagen Schuldscheine über kleine geliehene Betrüge; die Scheine waren sämtlich in der Mitte durchgerissen.

Ein gewisser Blessinger bedankte sich in einem neueren Briefe für Argobasts gütige Vermittlung. Ihr zufolge hatte der Amtsrichter in einer Schöffensache eine weit zurückliegende Vorstrafe des Briefschreibers aus dem Strafregister nicht vorgelesen. Mit fast ähnlichem Inhalt fanden sich noch zwei andere, zeitlich zurückliegende Briefe vor.

Erkelenz las mit großen Augen. Hier war er bei der eigenartigen Tätigkeit Argobasts angelangt. Solche Dankschreiben bewahrte er sich auf.

Der Brief Blessingers zeigte eine Notiz offenbar von Argobasts Hand. »Weit zurückliegende Vorstrafen sollten nicht nur nicht öffentlich vorgelesen werden dürfen, sie müßten auch unter gewissen Umständen zum Beispiel bei guter Führung, im Strafregister vollständig gelöscht werden können. In zwei Jahrzehnten vielleicht annähernd erreichbar.«

Mitten unter den Briefen lag ein loser, anscheinend verlegter Zettel, auf dem folgendes Gedicht geschrieben stand. Es führte die Überschrift »Sühnstätte«.

Es stammt eine Burg aus entschwundener Zeit;
Einst trotzte sie in die Lande weit,
Der Raub und der Mord, hier wurden sie groß,
Und Laster und Schande wandelten bloß.
Doch deren das frevle Geschlecht sich erkühnt.
Nie wurden die Taten dort oben gesühnt.
Und wieder ward eine zur Dirne gemacht;
Da wallte das Schicksal vorüber bei Nacht:
»Kein Fleck deines Bodens, Verruchte blieb rein,
Sühnstätte sollst du mir fürderhin sein!«
Es kam ein Jahrhundert gezogen und schwand.
Verwandelt ragen die Mauern ins Land.
Im Schloßhof, da früher ein Jauchzen war.
Wandelt der Sträflinge schweigende Schar.

Aus naheliegenden Gründen war Erkelenz noch von dem merkwürdigen Eindrucke erfüllt den die einfachen Verse auf ihn machten, die wohl Argobast selber niedergeschrieben hatte – der Zettel trug nur die Jahreszahl 1897 –, als von unten die Hausglocke durch das menschenleere Haus gellte.

Unwillkürlich rückte Erkelenz mit seinem Stuhle ein Stück von dem offenen Sekretär zurück. Dann erhob er sich vorsichtig, als könne man ihn von außen hören und sehen. Die Glocke gellte zum zweiten Male. Er ging zum Fenster und sah durch die Ritze der Jalousienblätter hinunter. Nur eine männliche Kopfbedeckung konnte er wegen der hohen Mauer sehen. Er wartete einige Minuten, alles blieb still.

Die Mütze verschwand für einen Augenblick, dann erschien, langsam über die Straße hinübergebend, eine fragwürdige Mannesgestalt, die sich drüben im Schatten einer Linde aufstellte und hinter dem Stamm mit Spannung herüberlugte.

Erkelenz schien sich nicht im Zweifel zu sein, daß der Unbekannte ein Bettler, wenn nicht Schlimmeres war, und murmelte etwas von einem Störenfried. Als der Aufpasser nicht weichen wollte und nach den herabgelassenen Jalousien heraufsah, als wollte er feststellen, daß das Haus unbewohnt sei, stampfte er mit dem Fuße: »Willst du mir ins Gehege kommen, verfluchter Kerl?«

Endlich schien der Verdächtige sich entfernt zu haben; Erkelenz kehrte zum Sekretär zurück.

Aus einem Fache langte er eine Anzahl Heftchen heraus, die sich als die ersten Schulhefte von Ottilie Argobast, sowie als Schulgeld- und Zensurbücher ergaben.

Das hatte gewiß ein zärtlicher Vater alles aufgehoben; der seinige hätte es nicht getan.

Er blätterte. Aus einem der Zensurbücher fiel ein Brief heraus, den die Schulvorsteherin an den Vater geschrieben hatte.

Er stutzte und las von neuem. Es wurde darin begründet, weshalb die Schülerin Ottilie Argobast eine ungünstige Betragenszensur erhalten hatte. »Ottilie lügt leider«, so hieß es wörtlich, »noch immer bei Gelegenheit; im letzten Halbjahre hat sie eine Entschuldigung wegen versäumten Unterrichts gefälscht.«

Erkelenz rechnete nach; damals war die Schülerin zwölf Jahre alt gewesen. Es handelte sich um eine höhere Töchterschule in hiesiger Stadt.

Das kam also auch in solchen Kreisen vor? Er hatte geglaubt, so etwas finde sich nur in den gewöhnlichen Volksschulen. Aber er vergaß, Argobast stammte ja aus den unteren Volksschichten. War an der Tochter etwas haften geblieben? Von wem? Vom Vater? Er hatte im Gerichtssaale manchmal von Vererbung reden hören. Er hielt den Brief wie drohend ein Stück in die Höhe. Hier fand sich ja ein freilich unvorhergesehenes Beweisstück, was einen Einblick gewährte.

Er stöberte – immer mit Vorsicht, um die alte Ordnung wiederherstellen zu können – alle Schubkästen durch. Er fand ein blaues Heft mit Einträgen. Sie lauteten auf besonderen Seiten auf verschiedene Namen. Von einem Richard Döll und einem August Dutschke und einer Reihe anderer war die Rede. Bei jedem fanden sich Zeitangaben – Wochen – Monate – eingetragen; ein Schuldkonto berichtete offenbar von den Zuwendungen, die er ihnen gemacht hatte.

Erkelenz hatte ein peinliches Gefühl. Das waren die Leute seines Schicksals, die bei Argobast in die Schule gegangen waren. Da sah man's, es lag System, Berechnung, Schablone darin. Jede Kleinigkeit hatte er aufgeschrieben. Wie die Buchstaben kalt aussahen! Kleinigkeiten, lächerliche Kleinigkeiten!

Einige Seiten trugen die Überschrift »Arbeit vermittelt« und führten, wie Erkelenz ausdrücklich nachzählte, nicht weniger als achtunddreißig Namen von Arbeitern und Geschäftsfirmen auf. Das waren anscheinend Strafentlassene gewesen, die er untergebracht hatte. Eine kaufmännische Buchung! Jederzeit zum Nachweise der geleisteten Dienste geeignet. Die Daten der Unterbringung waren genau angegeben.

Ein anderes Konto führte die Zuwendungen an den Fürsorgeverein für entlassene Strafgefangene auf. Erkelenz traute seinen Augen kaum, als er die Beträge oberflächlich zusammenzählte und für die letzten fünf Jahre, außer einer einmaligen besonderen »Michael-Argobast-Stiftung« von zwanzigtausend Mark, auf eine weitere Summe von über siebentausend Mark kam.

Eine »Michael-Argobast-Stiftung«, deren Zinsen besonders hoffnungsvollen Entlassenen im ersten Jahre der Freiheit zukommen sollten! Nach außen sollte bei seinen Lebzeiten sein Name nicht genannt werden. Da hieß es Stiftung für würdige Strafentlassene! Aber verewigt hatte er damit seinen Namen doch!

Schließlich entdeckte Erkelenz in dem blauen Hefte ein neu angelegtes Konto, das als Überschrift seinen eigenen Namen führte.

Der unberufene Leser biß sich die Lippen. Da waren schon über hundert Mark für Anschaffungen an Kleidungsstücken, Zuschüsse an die Schubnell – von ihnen wußte er gar nichts – eingetragen. Auch die Geige war mit vierzig Mark notiert. Selbst Kleinigkeiten, die er längst vergessen hatte, waren berechnet.

Erkelenz fühlte sich merkwürdig berührt. Diese Schriftlichkeit, die bei einem sorgsamen Geschäftsmann eigentlich in Ordnung war, mißfiel ihm gleichwohl. Wenn er sich Mühe gab – und er tat es –, konnte er sich über sie empören. Über Wohltaten dürfe man nicht wie ein Handelsmann Buch führen! Das sagte Robert Erkelenz, der vor drei Monaten noch im Zuchthause saß.

Ihm war, als wäre, nachdem er das alles so nüchtern schwarz auf weiß gelesen hatte, auf einmal alle seine Dankbarkeit, die er für den Mann früher empfunden hatte, auf- und davongeflogen, und das war ihm eigentlich ganz recht.

Zwischen zwei Seiten lag ein Zettel, auf dem abermals Verse, von derselben Hand geschrieben, standen. Erkelenz las:

Schnöder Sklav,
In welchem keine Spur des Guten haftet,
Zu allem Bösen fähig! Ich erbarmte
Mich deiner, gab mir Mühe, zum Sprechen dich
Zu bringen, lehrte jede Stunde dir
Dies oder jenes. Da du, Wilder, selbst
Nicht wußtest, was du wolltest, sondern nur
Höchst viehisch kollertest, versah ich dich
Mit Worten, deine Meinung kundzutun.
Doch deiner niederen Art, obwohl du lerntest.
Hing etwas an, das edlere Naturen
Nicht um sich leiden konnte: Darum wurdest du
Verdienterweis' in diesen Fels gesperrt.
Der du noch mehr verdienst als ein Gefängnis.

Hier befand sich ein Strich unter den merkwürdigen Versen. Etwas betreten las Erkelenz weiter:

Ein Teufel, ein geborner Teufel ist's.
An dessen Art die Pflege nimmer hastet,
An dem die Mühe, die ich menschlich nahm,
Ganz, ganz verloren ist, durchaus verloren.«

Unter diesen Versen, die Erkelenz zweimal las, stand nur das Wort »Kaliban«. Er stutzte und ließ die dicken Lippen hängen. Kaliban? Wer war Kaliban? Das Wort, den Namen hatte er nie gehört.

*


 << zurück weiter >>