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Sechzehntes Kapitel

Erkelenz stand auf, er schien vorläufig nicht weiterstöbern zu wollen und ging nachdenklich im Zimmer auf und ab.

Die Verse, deren Sinn er erst nach und nach begriff, zu begreifen glaubte, machten ihn zornig, versetzten ihn in Wut. Er machte ein trotziges Gesicht, eine böse Falte wurde zwischen den Augenbrauen sichtbar.

Wie kam der Mann dazu, solche Verse aufzuschreiben und gerade in diesem Kontobuch zu verwahren? Er, dessen eigene Tochter als Kind solche Beurteilungen – –

Er sah nach seiner Uhr, die ihm ebenso wie ein gelinder Hunger die Mittagsstunde anzeigte.

Er begab sich in die Küche hinunter und holte seinen Proviant aus der Speisekammer. Aus den mitgebrachten Eiern und Butter bereitete er sich im Tiegel über der Gasflamme Spiegeleier, deren wundervolle orangefarbigen Dotteraugen kein Koch kunstvoller hingestürzt hätte.

Von seinen Schinkenstücken schnitt er sich drei kräftige Scheiben und trug sich seine Mahlzeit mit Messer und Gabel auf zwei Tellern in das Speisezimmer, wo er sie auf dem ungedeckten eichenen Speisetische einnahm.

Eine Flasche alten Rüdesheimer hatte er vorher unter die fließende Wasserleitung gestellt und den gestern abend benutzten Römer ausgespült.

So hielt Robert Erkelenz im eichengetäfelten Speisesaal von Villa Hildburg einsam, aber mit gutem Appetit Tafel und vertilgte die Mahlzeit, die er sich selbst zugemessen hatte, bis auf die letzte Schinkenfaser.

Dazwischen trank er den köstlichen Tropfen von 1899. Wiederholt hielt er das gefüllte Glas gegen die bunten Fenster lebhaft in die Höhe, als ob er einem Ungenannten zutrinke.

Zuweilen bewegten sich halblaut seine Lippen und verrieten, daß ihm die Vormittagsbeschäftigung eine Fülle von Gedanken gebracht hatte.

Das letzte Glas stürzte er fast gierig auf einen Zug hinunter und stand dann, den schweren eichenen Stuhl weit hinter sich stoßend, geräuschvoll auf.

Aus einem Kasten mit prächtiger Etikette entnahm er eine große dicke Zigarre, zündete sie sich an und legte sich auf den Diwan.

Aber nicht lange vergönnte ihm seine innere Erregung, sich der Ruhe hinzugeben. Er sprang auf und setzte sich oben abermals vor den Sekretär, dessen großen flachen Schieber er jetzt aufzog.

Hier lagen eine ganze Reihe anscheinend ältere Photographien, die er flüchtig durchsah.

Die beiden alten Leute schienen Vater und Mutter Argobasts zu sein; die kleine Martha fehlte nicht. Aber die geliebte Luise fand der Betrachter nicht heraus, dafür aber einige Bilder ehemaliger Arbeitsgenossen.

Dann fanden sich Photographien von Soldaten, schließlich solche bartloser Männer mit starkem gelockten Haarwuchs. Das schienen Schauspieler zu sein.

Erkelenz war überrascht, solche Gesichter hatte er früher in Mainz, als er auf dem Konservatorium gewesen war, auch gesehen. Er las Namen und Unterschriften. Er hätte sich einbilden mögen, daß er sie auch gekannt hätte. Aber diese Herren sahen sich ja alle etwas ähnlich.

Siehe da, Damenbildnisse! Was hatte der ernste Argobast für Bekanntschaften gehabt! Die Unterschrift kündete ihm stolze Namen; Blanda Terfal. Das lag ihm bekannt im Ohre. Er hatte eine Luise – so hieß sie wohl – in »Kabale und Liebe« noch heute in Erinnerung.

Lange hielt er ein anderes Bild still in verschiedenen Richtungen sich vor Augen. Dieses Gesicht sah ihn eigentümlich an, es schien sich unter seinen Blicken zu beleben. Er hätte geglaubt, es erst gestern gesehen zu haben. Wo? fragte er sich, wo?

Er zögerte offenbar, die Rückseite nach einer Widmung nachzusehen, als müsse ihm der Name dieser jungen und hübschen, effektvoll gekleideten Dame nach so manchen Jahren doch noch von selbst einfallen.

Endlich verlor er die Geduld und las die Worte: »Zum Gedächtnisse schöner Stunden. Monika Isolani.«

Er sprang auf und stürzte mit dem Bilde zum Fenster. Wie versteinert sah er die Züge an, die ihm immer bekannter wurden. Er buchstabierte den Namen und hing an den Schriftzügen. Monika Isolani! Diesen Namen gab es kaum zweimal.

Ihre erste Begegnung kam ihm ins Gedächtnis. An einem Januartage, an dem die Sonne aus einem blauen Himmel lachte, ging er in den Rheinanlagen spazieren. Er hatte zwei Unterrichtsstunden hinter sich und erfrischte sich an der reinen Luft.

Da kam sie in ihrem allerliebsten violetten Pelzkostüm daher. Sie trug eine Lederrolle in der Hand. Offenbar wollte sie nach dem Theater. Aber das wußte er damals nicht, er kannte sie gar nicht.

Ihre Blicke hatten sich – war es Zufall gewesen? – begegnet und getroffen. Er schmeichelte sich, einen Eindruck gemacht zu haben, denn es lief ihm siedendheiß über die Wangen. Wenn er recht gesehen hatte, war auch sie errötet.

Er war damals ein voller schwarzer Lockenkopf mit blassem schmalen Gesicht. Er war von übermittler schlanker Gestalt und trug gerade einen neuen braunen Winterüberzieher und einen grauen Künstlerhut. Das verdankte er der alten Wohltäterin.

Er ging der Schönen bis zum Stadttheater nach, wo sie, sich zum ersten Male leicht nach ihm umkehrend, beim Pförtner am Seitengange verschwand. Er hatte die Kühnheit, den Mann nach ihrem Namen zu fragen, der ihn – vorwurfsvoll, als ob er ihn längst kennen müsse – nannte.

Am Abend war dann die denkwürdige Mignon-Vorstellung, die er sich vom Parterre aus anhörte. Seine Begeisterung war so groß, daß er ihr einen langen Brief schrieb und um Gelegenheit zur Annäherung bat. Hinterher hatte er nie mehr begreifen können, wie er einen so kühnen Schritt hatte wagen können.

Binnen einer Woche war die reizvolle Bekanntschaft gemacht. Man ging zusammen spazieren und unterhielt sich von der Musik und von der Kunst im allgemeinen, die sie für die einzige des Menschen würdige Beschäftigung erklärten. Sie tauschten oberflächlich ihre Lebensgeschichte aus und hatten beide gemeinsam,, daß ihre Eltern sie daran hindern wollten, die Künstlerlaufbahn zu ergreifen.

Er war etwas älter als sie und hatte noch nichts erreicht, war noch Lernender, während sie schon Triumphe zu feiern begann. Von der Mainzer Bühne konnte man bei einigem Glück den Weg zu einer Hofoper finden.

Wie es Anfängern im Bühnenleben zu gehen pflegt, war mit dem nüchternen und ränkereichen Verkehr der Kolleginnen und Kollegen eine innere Vereinsamung über die junge Sängerin gekommen. In diese Leere trat Robert Erkelenz und verdankte es zunächst wohl diesem Umstande, daß er und Monika sich verhältnismäßig schnell näherkamen. Er war damals ein frischer, wenn auch schon verwegener Junge, der durch eine innere Wärme Vertrauen erwecken konnte.

Ein gewisser Unterschied in ihrer Bildung war nicht zu verkennen. Aber auch ihr Schulunterricht, das meinte sie selbst, zeigte Lücken, und ihr Vater hatte sich zu einer wohlhabenden Stellung erst emporgearbeitet. Erkelenz hatte einen dürftigen Unterricht genossen, aber dessen Mängel durch einen gesunden Menschenverstand, wie ihm gesagt worden war, und durch eine gewisse lebhafte Auffassung auszugleichen versucht, mit der er an alles, was ihn näher anging, herantrat. Namentlich hatte er, seit er die Musik trieb, in den Dichtern gelesen und damit ein oberflächliches literarisches Wissen sich angeeignet.

Freilich behandelte sie ihn, wie er zuweilen schon damals fühlte, mit einer gewissen Überlegenheit, worin sie eine ihr eigene Energie unterstützte, mit der sie auch, wie sie gelegentlich bekannte, den entscheidenden Schritt zur Bühne durch einen fast gewaltsamen Austritt aus dem Elternhause unternommen hatte.

Er selbst begrüßte das schnell sich inniger gestaltende Verhältnis zu dem hübschen schlanken Mädchen als eine willkommene Beschränkung seiner inneren und äußeren Unbändigkeit, die ihm in jenen kritischen Jahren, wie er sich dunkel bewußt war, viel zu schaffen machte.

Aber das Liebesglück war nur von kurzer Dauer gewesen.

Als er eines Tages gegen Ostern wie gewöhnlich kam, sie zu besuchen, war der schöne Vogel ausgeflogen, war auf und davon, hatte Mainz verlassen – die Spielzeit war zu Ende – und kein Mensch wollte wissen, wohin sie sich gewandt hatte.

Ihre Wirtin, der er, empfindlich überrascht, wegen des Verrats hart zusetzte, wurde schließlich unangenehm und lachte ihn aus.

Er hätte doch längst begreifen müssen, daß ein grüner Junge wie er – so sagte sie wörtlich! –, der nichts weiter könne, als einigermaßen auf der Geige spielen, für ein Fräulein Isolani auf die Dauer kein Liebhaber gewesen wäre. Da hätten wohl andere Herren den Vorzug.

Schließlich bekam Erkelenz zu erfahren, daß in letzter Zeit ein fremder unbekannter Herr von auswärts Monika wiederholt besucht hätte.

Er war nicht sentimental veranlagt, aber diese Treulosigkeit verstimmte ihn tief. Ohne Abschied war sie gegangen, keiner Erklärung, keiner Zeile hatte sie ihn gewürdigt.

Nach seiner etwas grübelnden Natur suchte er den Grund hierfür in seinem eigensten Innern. Hatte sie im Umgange mit ihm erkannt, daß ihn böse Gedanken so ganz wider seinen Willen heimsuchen konnten?

Das geschah nun in der Folgezeit merkwürdigerweise immer häufiger.

Er besaß keine Anlagen dazu, sich zu einem Märtyrer aufzuspielen. Aber den Gedanken konnte er und wollte er nicht von sich weisen, daß er ohne Monikas Verrat nicht so tief gesunken wäre.

Er hatte an ihr einen Halt gefunden. Nun war er, vereinsamt, der Stütze beraubt.

Er kam in schlechte Gesellschaft. Seine Verwegenheit verleitete ihn zu tollen Streichen, die schließlich unter das Strafgesetz fielen. Einmal gefallen, hatte er sich für die Dauer nicht mehr aufrichten können, ja, er war immer tiefer gesunken.

Nun fand er das Bild dieser Monika Isolani hier. Er machte plötzlich große Augen und sprang auf. Weshalb kam ihm dieser Gedanke erst jetzt? Er lag ja so nahe. Es war eigentlich gar nicht anders möglich. War vielleicht Argobast jener Mann gewesen, der sie ihm entführt hatte?

Er las die Jahreszahl der Widmung wieder und rechnete nach. Es war dasselbe Jahr, das einzige, das er selber in Mainz verbrachte. Es stimmte, er verrechnete sich gewiß nicht. Ihre Bekanntschaft mit Argobast fiel also tatsächlich in die nämliche Zeit. Er erbleichte, er wurde ganz still.

Mit einem Male stand er vor dem großen Ölporträt der jungen blonden Frau im goldenen Rahmen, das im Salon hing, und starrte hinauf.

Er riß in der unvorsichtigsten Weise die Jalousieblätter auf, damit helles, taghelles Licht hereinfiel.

Mit geöffnetem Munde stand er da. War er gestern abend und heute vormittag blind gewesen? Weshalb hatte er sie nicht sofort wiedererkannt? Sie glich sich noch selber. Er irrte sich nicht, sie war es. Das Damenbildnis stellte Monika Isolani dar.

Als er sie anstarrte, wurde er noch bleicher. In einem plötzlichen Einfall eilte er in das Herrenzimmer und nahm die Photographie vom Schreibtische. Wie kam das Porträt der Isolani in Argobasts Salon? Das war doch die nächstliegende Frage! Das war sie wieder, älter, vielleicht zehn Jahre älter! Aber immer noch ganz dieselbe. Hier auf der Photographie.

Er schöpfte Atem, er zitterte am ganzen Leibe. Und er war gewohnt, sich starke Eindrücke fernzuhalten. Nur ein Gedanke erfüllte ihn. Dazu war er hergekommen? So rächte sich seine Undankbarkeit, seine verwegene Tat? Es traf ihn wie ein Donnerschlag. Monika Isolani – es nur zu denken! – war Frau Argobast. Daran war nicht zu zweifeln. Er hatte die Frau seines Wohltäters nie zu Gesicht bekommen. Eine andere Erklärung ließen die Bilder nicht zu.

Er griff sich an die Stirne, wo er einen Schmerz empfand. Wie konnte Monika Isolani Argobasts Frau sein? Das war ja unmöglich. Er irrte sich doch und redete sich in eine Einbildung hinein. Er hatte ja heute morgen den Trauschein in der Hand gehabt, da hatte der Name anders gelautet.

Er riß jenen Schieber mit den Familienpapieren wieder auf und wühlte den Trauschein hervor.

»Hildegard Theodora Ilshöfer, Tochter des Fabrikbesitzers Ilshöfer in Darmstadt.« Er las es wiederholt. Aus Darmstadt? Daß sie aus Darmstadt war, hatte sie erzählt; ebenso von ihrem Vater aus dem Kaufmannsstande. Dessen erinnerte er sich. Aber der Name? Wie kam sie zu dem anderen Namen? Hatte sie, wie das vorkam, einen besonderen Bühnennamen geführt? Er lächelte, hatte er doch selbst seinen Rufnamen Robert verleugnet und sich in zufälliger Laune in Erwartung seiner Künstlerlaufbahn den Vornamen Fred, der ihm, von seinem Vornamen Alfred abgeleitet, »genial« geklungen hatte, angenommen.

Er tastete in der verzierten Muschel des inneren Sekretärs umher, er wußte, daß dahinter Geheimfächer zu liegen pflegen. Er zog eine Papierverkleidung hinweg, die im Aussehen der Mahagonifarbe des inneren Schrankes glich; dahinter, er fühlte es an einigen Metallknöpfen, lagen eine Anzahl verborgener Kästen.

Sie enthielten Briefe, ältere, teils sehr alte Briefe. Ein Päckchen war mit rotem Seidenband verschnürt. Er hatte gleich zuerst einen glücklichen Griff getan. Freundliche, zärtliche Briefe von weiblicher Hand. Es war achtzehn Jahre her, aber er bildete sich ein, Monikas Handschrift wiederzuerkennen.

Er zog die kleinen Bogen aus den Umschlägen und las. Zuerst verglich er die Unterschrift. Da stand es: »Monika, Ihre Monika.«

Er prüfte die Daten. Die Jahreszahl stimmte. Der erste Brief stammte aus dem Anfang März. Da hatten sie sich kennengelernt, sie schrieb es selbst mit ausdrücklichen Worten. Damals hatte der Verrat gegen ihn selber begonnen.

Die gleichgültigen Sätze wurden immer wärmer. Je kühler sie gegen ihn selbst, wie er sich wieder lebhaft erinnerte, geworden war, desto zärtlicher schrieb sie an den anderen. Nun konnte er sich vieles erklären, was er, wie im Traume verschwommen, festgehalten hatte.

Erkelenz öffnete das zweite, mit einem blauen Seidenband umschnürte Päckchen. Dieselbe Handschrift, nicht ganz so groß, gleichmäßiger als früher. Die Unterschrift »Hilde Ilshöfer, Deine Hilde, Deine dich innig liebende Hilde.« Die Verwandlung war vor sich gegangen. Monika Isolani war wieder die bürgerliche Hilde Ilshöfer geworden. Das große Geheimnis war entschleiert, das Rätsel gelöst. Sie wurde Argobasts Frau.

*


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