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Vierzehntes Kapitel

Die Sonne stand schon ziemlich hoch am Himmel und eine Lerche schmetterte über dem nahen Wickenfelde ihr Lied, als der Langschläfer am anderen Morgen im Ehegemache der Villa Hildburg erwachte.

Die Glocken läuteten und luden das erstemal zum Sonntagsgottesdienste.

Als sie ausgeklungen hatten, sprang der Mann aus dem Bette und kleidete sich notdürftig an.

Er stieg nach der Küche hinunter, wo er mit der Sachkenntnis eines Kochs aus dem Küchenschranke die Kaffeebüchse, als habe er sie selber gefüllt bereitgestellt, zur Hand nahm und sich über der Gasflamme einen guten Morgentrunk bereitete. Von dem mitgebrachten Brot schnitt er sich zwei kräftige Stullen, die er reichlich mit Wurst belegte, und nahm, diesmal das Speisezimmer verschmähend, in der Küche sein Frühstück ein.

Als er wieder hinaufgestiegen war, öffnete er im Vorübergehen neugierig die Türe neben dem Schlafzimmer, hinter der er ganz richtig den Laderaum vermutet hatte, den er mit einiger Verwunderung betrat.

Da es ihm auf eine möglichst vollständige Ausnutzung der Argobastschen Häuslichkeit anzukommen schien, setzte er den großen Gasbadeofen in Brand und bereitete sich ein Bad.

Der große und hohe Baderaum war, in eine runde Turmverkleidung eingebaut, phantastisch ausgemalt. Der Badende sollte nach den Wandgemälden, die das Gewölbe zeigte, die Vorstellung haben, in einem See zu plätschern, dessen Ufer mit südlichen Pflanzen und Blumen geschmückt waren. Auf Stufen stieg man in das blaugrüne Marmorbassin hinab. Von der Decke lachte ein klarer, nur mit weißen Wölkchen durchzogener Himmel. Das Licht fiel durch bunte Glasfenster von beiden Seiten stimmungsvoll herein.

Eine halbe Stunde später trat der Mann in frischer Wäsche und im Sonntagsanzug – in dem er den Besuch unternommen hatte – in das Arbeitszimmer in, ersten Stockwerke. Aus der Kiste leichter Importen, die er auf dem Kassaschranke fand, hatte er sich eine Zigarre genommen und blies nun, im Schreibtischsessel gelehnt, die blauen Rauchwolken nachdenklich vor sich hin.

Es kam ihm wohl in diesen nüchternen Morgenstunden selbst etwas wunderlich vor, daß gerade er sich in diesen Räumlichkeiten befand. Eine lange Gedankenreihe zog an ihm vorüber.

Es war ganz richtig. An dem Mutigen und Hoffnungsvollen hatte sich ein unerwarteter Rückschlag vollzogen.

Selten waren die Umstände für einen langjährigen Sträfling, den Übergang und Rücktritt in das geordnete bürgerliche Leben zu finden, so günstige, ja glückliche, wie dieses Mal für ihn, gewesen.

Kein Mensch an seiner Arbeitsstelle hatte bis zum heutigen Tage eine Ahnung von seiner Vergangenheit; so vorsichtig und rücksichtsvoll war der Hüttenbesitzer an der Hand vielfacher Erfahrung zu Werke gegangen.

Er konnte vollkommen sorgenfrei leben. Er hatte sein gutes Auskommen und erübrigte immer noch einige Mark für besondere Ausgaben. Er hatte sich schon eine Kleinigkeit zurückgelegt und wußte, daß die Summe sich vergrößern würde.

Noch vor seiner Abreise hatte der Hüttenbesitzer angedeutet, daß Erkelenz nach seiner Rückkehr vorwärtskommen würde. Er sollte im technischen Betrieb praktisch angelernt werden, er sollte dann auf dem Technikum der Stadt einen Lehrkursus durchmachen.

Er sah die Aussicht vor sich, Hütteninspektor zu werden, ein größeres festes Gehalt zu erlangen und in noch nicht vorgerückten Jahren einen Hausstand, ein Heim, wenn er wollte, eine Familie zu begründen. In diesem gesicherten Hafen hatte er Hoffnung, seine Vergangenheit ganz abzustreifen.

Die Arbeit selber, zu der ihn der Herr berufen hatte, sagte ihm außerordentlich zu; er hatte aus ihr ungeahnte Kräfte in seinem Inneren emporsteigen fühlen.

Nicht nur der Herr, auch alle anderen Menschen waren freundlich zu ihm und erleichterten ihm sein Fortkommen außerordentlich. Mutter Schubnell, eine Seele von Mensch, blieb sich immer gleich. Sie war die einzige in seiner Umgebung, die wußte, woher er kam. Ihr Taktgefühl, mit dem sie auch in gelegentlichem Anmut jede Erinnerung, ja selbst die leiseste, ungewollte Andeutung seiner Vergangenheit vermied, mußte bei ihrem einfachen Bildungsgrade geradezu Bewunderung erregen.

Seine nächsten Vorgesetzten, Donnert und Enatt, wollten ihm, ohne daß der Chef sie dazu anhielt, wohl. Auch seine Mitarbeiter hatten nichts gegen ihn einzuwenden und ließen ihn, obwohl er sich niemandem näher anschloß, seinen Weg gehen. Keine Mißgunst, keine Niederträchtigkeit machte sich an ihn heran. Erhalte auch hierin ein vielleicht um die Arbeitsgenossen nicht weiter verdientes, aber um so ausfälligeres Glück.

Der lange Dutschke, den der Herr vor einer Reihe von Jahren in ähnlicher, nur nicht ganz so geeigneter Weise aus dem Zuchthause in den Hüttenbetrieb übernommen hatte, konnte von solchem Glückssterne nicht sagen.

Seine nächsten Arbeitsgenossen – Argobast hatte den Fehler gemacht, ihn in eine größere Akkordgenossenschaft einzustellen – hatten aus dem etwas geschwätzigen Manne herausgelockt, daß er unmittelbar aus der Strafanstalt kam.

Einige leichtsinnige und auch gehässige, aber noch unbestrafte Menschen – Sovade, der boshafteste unter ihnen, war hinterher sofort entlassen worden – hatten sich an den schwachen Dutschke herangemacht und gaben ihm mehr oder minder deutlich zu verstehen, daß er sie gehörig »schmieren« müsse, wenn sie sein übles Geheimnis vor den übrigen Arbeitern, die ihn nicht in der Hütte dulden würden, wahren sollten.

Der Unglückliche begann seine Peiniger mit Bier und Zigarren abzufinden, was sie nur noch begehrlicher und immer unverschämter werden ließ. Schließlich mußte er ihnen beinahe regelmäßige Schmiergelder von seinem Lohne, seiner einzigen Einnahmequelle, zahlen, so daß er in Verlegenheit, in Schulden, ja in Not geriet.

Vergeblich stellte er diesen durch den Biergenuß angestachelten Hyänen seine unglückliche Lage dar und bat um Mitleid. Hohnlachend drohten sie mit seiner Entlarvung. So wurde er von seinesgleichen, die sonst gegen Staatsanwalt und Gericht gehörig wettern konnten, erbarmungslos in das alte Elend zurückgesetzt. Er vergriff sich in der Verzweiflung am Gelde seiner Wirtin, verübte einen Einbruch und kam, von den Bestien ausgestoßen, in das Zuchthaus zurück.

Alle dergleichen, selbst die gelindesten äußeren Anfechtungen, denen der Beste nicht immer aus dem Wege gehen kann, blieben Robert Erkelenz erspart. Er lernte in seiner Umgebung die Menschen eigentlich so recht von der guten Seite kennen. Wenn je ein Gefallener, so konnte gerade er einen schönen Glauben an die Menschheit wiedergewinnen. Er hatte wenig Neigung zum Alkohol; auch hierin war er nicht gefährdet, wie so mancher andere. Sein Magen vertrug keine Mengen an Bier oder Branntwein; auch ein schneller Kopfschmerz spielte den heilsamen Warner.

In ein leichtsinniges Liebesverhältnis hatte er sich bis jetzt nicht eingelassen. Im Offenbacher Hofe war er ein einziges Mal wieder gewesen und hatte ohne alle innere Erregung gesehen, wie die blonde Gertrud, an die er zuweilen gedacht hatte, sich von einem Studenten hatte abküssen lassen. Der Gedanke, Besitzer eines Lichtspieltheaters zu werden, hatte nichts Verlockendes mehr für ihn. Er war keine eigentlich impulsive, leidenschaftliche Natur. Mit den gereiften Jahren war eine innere Beruhigung über ihn gekommen.

So fehlte für sein plötzliches Abweichen vom guten, gerade ihm so leuchtend vorgezeichneten Wege eigentlich jeder äußere Anlaß. Und doch wachte er eines Morgens nach einem schweren peinlichen Traum, dessen Einzelheiten er sich vergeblich in das Gedächtnis zurückzurufen suchte, mißmutig, mit merkwürdigen Gedanken auf.

Gerade darüber dachte er nach, wie alle Umstände für ihn so glücklich und gefahrlos verlaufen, wie ihm die Menschen allseits so freundlich begegnet waren. Hatte er noch vor einigen Tagen in seiner Weise dem Unerforschlichen hierfür gedankt, so fand er an jenem verhängnisvollen Morgen beim mißlaunigen Aufwachen dieses Zusammentreffen günstiger Umstände merkwürdig, höchst merkwürdig. Es dauerte nicht lange, so fand er es verdächtig, und noch im Laufe des Tages verletzend.

Es war einer jener seltsamen Gedankenirrgänge, dem er nachhing, fast mit Wollust nachspürte, wie sie die Menschenseele zuweilen packt, und wie sie die Menschheit schon vor Jahrtausenden gekannt und in ihren Mythen verewigt hat.

Weshalb empfand der schon so sichtbar auf den Weg innerer Besserung geführte Mann in diesen verhängnisvollen Stunden gerade so nachdrücklich die eigene Unwürdigkeit der neueren glücklichen äußeren Schicksalsführung? Eher hätte er sein entdecktes besseres Menschentum preisen sollen! Er hätte ein Recht dazu gehabt! Es war auch mit eigener innerer Kraft errungen worden!

Wie konnte er all dieses Glück, all diese Güte seiner Umgebung so plötzlich verkennen, daß sich in Erinnerung an die Schubnell, an Bonnert und Enatt und manche andere, ja selbst an Argobast seine Mienen verfinsterten?

Weshalb biß er sich die Lippen, wenn er an sie dachte? Was wollte sich in seinem so beruhigten, ja so friedlichen Innern plötzlich wieder aufbäumen? Warum zitterten seine Hände, weshalb ballte er, in der Stube auf und nieder gehend, die Fäuste?

Er lachte höhnisch laut auf, so daß er vor sich selber erschrak. Diese Schubnell – dieser Argobast, sie kannten ja seine Vergangenheit! Sie wußten ganz genau, was sie von ihm zu halten hatten, sie würden ihn für keinen Engel nehmen, sie waren erfahrene Menschenkenner, die ihn schon richtig einschätzten.

Was sie ihm erwiesen, war das wirklich Aufrichtigkeit? War's nicht gekünsteltes Mitleid mit einem großen Sünder, den man einlullen wollte, wie ein willenloses Kind? Am ihn im Innersten zu bessern? Was hatten sie persönlich davon? Sie konnten ja gar nicht in ihn hineinschauen! Der Hüttenbesitzer hatte ja, das war ihm zu Ohren gekommen, seine üblen Erfahrungen hinter sich. Er wollte ihn retten? Das glaubte er selbst nicht!

Nein, es war ganz etwas anderes! Um seine gefährlichen inneren Kräfte, diese Bestien, äußerlich eine Zeitlang zu bändigen, daß sie dieser wohlgeordneten Gesellschaft so lange als möglich keinen Schaden mehr zufügen konnten, deshalb handelten sie!

Immer weiter verirrte er sich in seinem Gedankenkreise. Er sah nicht mehr, was am nächsten lag. Er war verblendet, war schließlich mit Blindheit geschlagen.

Voll Verzweiflung griff er zur Geige. Das gab ihm den Rest.

Er hatte wieder leidlich phantasieren gelernt, indem er Bekanntes, Passagen, Melodien, Akkorde, willkürlich verknüpfte und löste und eigenes hinzufügte. Die Hauptsache war ihm der Ton, die Kraft und der Rhythmus. Er wühlte sich in seine Gedanken auch musikalisch ein. Er versuchte sie, in Töne umzusetzen. Es steckte ein Stück Komponist in ihm, es gelang ihm, sich auszudrücken.

Argobast der ihn im Zuchthaus gehört hatte, hatte ihn verstanden. »Die ganze Hölle ist in seinen Tönen los!« hätte er wieder gesagt. Selbst der guten Schubnell wurde es zu viel. Sie kam herein und fragte, weshalb er auf dem schönen Instrument so unke und krächze

Eine Saite sprang unter seinen kraftvollen Strichen. Er warf die Geige auf den Boden und schluchzte. Weshalb hatte ihn Argobast nicht Musiker werden lassen, wozu er sich von Jugend aus berufen fühlte? Er hatte selbst zwar nicht gewagt, eigentlich auch nicht daran gedacht, diese Bitte auszusprechen. Aber Argobast, der Mann, der in die Herzen sehen wollte, mußte das selbst wissen, mußte ihn ermutigen, ihn fragen! Weshalb hatte er ihn in die derbe Arbeit gezwängt? War das menschenfreundlich?

All der schöne innere Segen, den er gerade von dieser Arbeit gewonnen hatte, wurde rücksichtslos und undankbar von ihm selber wieder vernichtet. Was so hoffnungsvoll sich aufgebaut hatte, stürzte so vollständig in Trümmer.

Ha, dieser Argobast! Dieser Michael Argobast! Den sie einen Wohltäter der Menschheit nannten, der sich voll Wohlgefallen mit diesem Namen anrufen ließ!

Er hatte ihn verehrt, hätte vor ihm knien können – noch vorige Woche – welcher Unsinn! Nun schämte er sich seines knechtischen Sinnes – nun trat er seine eigene Verehrung für den Mann mit Füßen – gewaltsam – niederträchtig – eine Wut wollte ihn packen, daß er sich hatte verleiten lassen, an Menschen zu glauben! Das mußte ganz hinaus aus seinem Innern – nichts durfte übrigbleiben – in den Kot mit dem Menschentum – wo es hingehörte!

Mit ganz anderen Zügen, als er ihn sonst gesehen, stand er im Geiste vor ihm da. Es schien, als wäre ihm eine Maske herabgezogen, hinter der er sonst sein wahres Antlitz verborgen hielt.

Daß er ganz selbstlos, aus reiner Menschenliebe handelte, glaubte Erkelenz nicht mehr. Der Mann war ein Mensch wie andere und hatte seine Absichten, seine Pläne. Sein Ehrgeiz war eben, sich vor anderen dadurch auszuzeichnen, daß er Unglücklichen half. Dabei kam er in dieser unvollkommenen Gesellschaft sicher vortrefflich auf seine Kosten.

Was berechtigte ihn. sich auf diese Weise hochmütig wie ein Retter, fast wie ein Erlöser über ihn zu erheben? Er galt als frommer Mann und besuchte die Kirche. Bildete er sich ein, den Erzengel Michael zu spielen der das Böse besiegte? War er so fehlerlos, so sündenrein, daß er den Heiligen vertreten durfte? Das heischte wohl erst des Beweises!

Er hatte erfahren, daß er nicht der erste war, dem Argobast auf diese Weise Gutes erwies. Schon andere hatte er – zum Teil erfolglos – zu retten versucht. Eine ganze Reihe konnte er herzählen. Es lag System also Berechnung darin. Vielleicht waren es nur Experimente die er mit ihnen allen machte? Nüchterne kalte Versuche an der gefallenen Menschenseele? Ein wagehalsiger kitzelnder Sport – ein –

Und von dieser Stunde an stieg in Robert Erkelenz der geheime, ihm selber unklare dunkle Wunsch auf, seinem Wohltäter in die eigene tiefste Seele zu blicken!

Zunächst war es nur ein ausflammender und wieder verlöschender Gedankenblitz. Aber er leuchtete wieder und wieder auf. Er wachte sich mehr und mehr mit einem Plane vertraut, der ihm Tag und Nacht in der Seele lag, den er nicht mehr bannen konnte, der ihn packte mit den Teufelskrallen der inneren Hölle.

Der Entschluß war gefaßt unwiderruflich, alle seine Gedanken galten der Verwirklichung. Er wollte wissen – ganz genau wissen, wer dieser seltsame Mann in seinem Innersten, das er in gewissem Sinne verhüllte, eigentlich war.

Weshalb er das zu wissen wünschte, konnte er selbst nicht sagen. Aber das galt gleich viel. Noch mehr! Er sollte sich enthüllen, ganz nackt und seelenbloß, ohne daß er davon wußte. Erkelenz zitterte bei diesem Triumph über seinen Wohltäter, der allein glaubte, einen Einblick in das Menschenherz zu haben. Oh, es gab Mittel, dieser Seele auf den Grund zu sehen. Er, Robert Erkelenz, war der Mann dazu! Auch er war ein Seelenkenner.

So vollzog sich, wie einst im Mythus, der Abfall des bösen Engels von Gott, des bösen Engels, der einmal ein guter war. An der ihn allseits so reich, allzu reich umgebenden Gottesgüte entzündete sich seine fast eingeschlummerte Bosheit aufs neue!

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