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Neuntes Kapitel. Eine ländliche Idylle.

Der muntere Waldbach, welcher das Rohr durchströmte, hatte die ganze Nacht geplaudert und Flora alle Stunden mit seinem Geschwätz aufgeweckt. So oft das junge Mädchen ihre hellen Augen aufschlug und mit erhobenem Köpfchen auf die plaudernde Welle des lebendigen Wassers hörte, blickte sie geraume Zeit nach dem halb offenen Fensterladen, um sich zu vergewissern, ob der Morgen bald anbrechen werde. Immer aber spielte derselbe weiche Dämmerschein um die kleinen, spiegelblanken Scheiben, der die stille Mondnacht mit mattem Tageslicht durchglänzte.

Flora erfreute sich für gewöhnlich eines ununterbrochenen gesunden Schlafes, den so leicht nichts störte; in dieser Nacht aber hatte sie den Kopf voll wunderlicher Gedanken, und wäre lieber die ganze Nacht munter geblieben, um nur noch vor Aufgang der Sonne unbehindert und ungesehen aus dem Hause schlüpfen zu können. Ungeachtet der freudigen Bewegung, die dem Mädchen den erquickenden Frieden der Nachtruhe so oft störte, hätte die Natur doch wohl zuletzt ihr Recht behauptet, wäre nicht der Zufall dem lieben Kinde freundlich zu Hilfe gekommen. Flora war nach zehn- und mehrmaligem Lauschen fest eingeschlafen. Die Wellen des Baches plätscherten fort in ihren Phantasieen und erzählte ihr die lustigsten Mährchen, über die sie in kindlicher Freude herzlich lachen mußte, und über den wunderbar phantastischen Geschichten vergaß sie das wichtige Geschäft, das sie früh am Tage von ihrem Lager rief.

Dieser Welt heiterer Träume entriß Flora ein Ruf mehrerer Kinderstimmen, der schrillend auf den nachzitternden Scheiben verhallte. Das junge Mädchen fuhr erschrocken empor aus den Kissen, strich die glänzende Fülle ihrer hellbraunen Locken aus der Stirn, und sah, wie es schon oft in dieser Nacht gethan, mit weitgeöffneten Augen nach dem Fenster. Ihr Busen hob sich unter den beschleunigten Schlägen ihres Herzens, als sie einen mattrothen Streif am falben Himmel bemerkte. Eiligst schlüpfte sie aus dem Bett und in die Kleider, fuhr mit bloßen Füßen in ein paar zierliche Lederpantoffeln, band sich ein bunt gewürfeltes Tuch um den Kopf, das ihr Haar verhüllte und nur das feine Oval ihres frohen Gesichtchens frei sehen ließ, und glitt behutsam nach der Thür, die sie ohne Geräusch aufklinkte.

Aus der Ferne ließ sich abermals ein gemeinsamer Ruf vieler Kinderstimmen hören, die in so früher stiller Morgenstunde gesangartig klangen.

Wahrhaftig, sprach Flora, die Kinder halten schon ihren Umgang und rufen ihren Morgengruß vor den Thüren! Wenn ich nur nicht zu spät komme, ich alberne Langschläferin, ich! Dorel und Femie haben gewiß schon geschöpft, und ich habe mich so hoch vermessen, die Erste sein zu wollen! Die werden mich schön auslachen, wenn sie mich zurückkommen, wohl gar mit leerem Kruge zurückkommen sehen!

Guten Morgen zum Grünnduhrstje! klang es vom nächsten Nachbarhause vernehmlich, wie das Geläute silberner Glöckchen durch die Luft, und gleich darauf erscholl das fröhliche Lachen und Flüstern einer muntern Kinderschaar bis in die Kammer des jungen Mädchens hinauf.

Flora mußte das Schlafzimmer ihrer Eltern durchschreiten; denn seit jener Nacht, wo sie dem Vater begegnete, hatte dieser es für gut befunden, den besonderen Ausgang eigenhändig zu vernageln. Das heute unbemerkt bewerkstelligen zu können, daran lag ihr viel; sah man sie, so war ihr Gang nutzlos, ihr Sehnen und Hoffen vergeblich. Hätten nur die übermüthigen Kinder nicht so barbarisch geschrieen! Diese langgezogenen scharfen Kehltöne mußten die festesten Schläfer erwecken. Und sie konnten im nächsten Augenblicke hart unter den Fenstern ihren weckenden Jubelruf von Neuem erklingen lassen.

Ein flüchtiger Blick auf das Himmelbett, in dessen Schutze Flora's Mutter schlief, gaben ihr Gewißheit, daß sie von dem Geschrei der Kinder noch nicht in ihrer Ruhe gestört worden sei. In der entgegengesetzten Ecke aber, wo der Vater von den Mühen des Tages ausruhte, regte es sich. Ihn hatten die kleinen Schreihälse aufgeweckt und er konnte, um der Gewohnheit ihr Recht zu geben, jeden Augenblick das Zimmer verlassen und seiner Tochter sehr zur Unzeit in den Weg treten. Flora wartete und hielt den Athem an. Es ward wieder still dann hörte sie flüstern. Unarticulirte Töne trafen ihr Ohr.

Gott Lob! sagte sie frohlockend. Vater betet; da hört und sieht er mich nicht.

Und mit eiligen, hüpfenden Schritten glitt sie, in dunklen Ueberwurf gehüllt, an der braun gefärbten Holzwand fort und huschte unbemerkt zur Thür hinaus. Unfern der Treppe stand ein irdener Krug. Diesen ergriff Flora, schob den Riegel der Thür des Hauses zurück und stieg über vier hohe Granitstufen in den Garten hinab. Durch diesen schlängelte sich ein schmaler Fußsteig unter uralten Obstbäumen nach dem nahen Thale, in dessen Tiefe der muntere Bach durch Erlengebüsch der Mühle zueilte.

Die Luft war still, der Himmel klar bis auf einen schmalen röthlichen Dunstsaum im Osten, der die Gebirgskämme neblich verdeckte. Flora gewahrte mit Vergnügen, daß die Sonne noch nicht aufgegangen war. Leicht und gewandt wie eine Gazelle hüpfte sie unter den noch laublosen Bäumen fort, an der Cisterne vorüber, und ehe noch zwei Minuten vergangen waren, spiegelte sich ihre schlanke Gestalt in der lächerlichen Verkappung, die sie angethan hatte, in der ewig beweglichen Kristallwelle des Baches.

Ammer's Tochter sah sich schüchtern um nach allen Seiten, um auch gewiß zu sein, daß Niemand sie belausche. Es war still, öde, geräuschlos rundum. Nur vom Dorfe her hörte man das jetzt lebhafter werdende Geschrei der Kinder und aus dem Dickigt im Rohr wurden verschiedene Vogelstimmen laut. Nun kniete Flora am Bachrande nieder, schlug den Mantel zurück, streifte das Morgenkleid auf, daß ein voller, blendend weißer Arm sichtbar ward, und tauchte den Krug so tief in die murmelnde Welle, daß die kühle Bergnymphe ihren runden Ellbogen umspülte. Sobald sich der Krug strudelnd und gurgelnd gefüllt hatte, richtete sie sich wieder auf, benetzte ihre Lippen mit dem frischen Wasser und begab sich schleunigst wieder auf den Rückweg. Als Flora den Gartenzaun überschreiten wollte, bemerkte sie in der schmalen Gasse, welche das Grundstück ihres Vaters von dem des Nachbars schied, Albrecht Seltner, der ebenfalls einen Krug in der Hand trug. Geschwind duckte sie sich hinter die Buchenhecke, weniger um sich zu verbergen, als um den jungen Burschen nicht selbst genau zu sehen; doch wartete sie, bis derselbe mit gefülltem Kruge vom Bache wieder zurückkam. Jetzt durfte man sich sehen, sich begrüßen, mit einander sprechen, nur vor dem Wasserschöpfen ist die Begegnung unerwünscht und ein angeknüpftes Gespräch der Wirkung des Wassers selbst schädlich.

Wir müssen zum Verständniß der Leser hier einschalten, daß es in vielen Gegenden unseres deutschen Vaterlandes Sitte ist, an vier der gesammten Christenheit heiligsten Tagen des Jahres, nämlich am Gründonnerstage, Charfreitage, Charsamstage, welchen die Protestanten stillen Sonnabend nennen, und am Ostersamstage vor Sonnenaufgang Wasser aus dem nächsten Bache zu schöpfen. Der Volksglaube legt solchem Wasser eigenthümliche Kräfte bei und behauptet, es halte sich ein paar Monate, ohne faul zu werden. Diese Kraft wohnt ihm jedoch nur dann inne, wenn der Schöpfende vor dieser Verrichtung Niemand begegnet, Niemand spricht. Wer sich mit Wasser, das an den genannten Tagen unter den angegebenen Bedingungen geschöpft worden ist, wäscht, bleibt nicht allein im ganzen Jahre gesund, sondern erfreut sich auch eines jugendlichen, blühenden Ansehens. Ueberhaupt legt man dem sogenannten »Osterwasser« wie man es nennt, verschönernde, auch wohl verjüngende Kraft bei und es kann, in Folge dieses Volksglaubens, nicht fehlen, daß namentlich junge Leute eifrig darauf bedacht sind, sich alle Jahre in den Besitz dieses gesegneten Wassers zu setzen.

Guten Morgen, Albrecht, sprach Flora in dem Momente, wo der junge Mann vom Bache zurückkam, indem sie hinter der Hecke sich aufrichtete und ihm lächelnd die Hand entgegenstreckte. Du hast just da geschöpft, wo ich niederkniete. Hast du's nicht gemerkt?

Guten Morgen auch, du Himmelskind! versetzte Albrecht. Gelt, du bist schlau, du lugst hinter'n Zäunen auf die Leute, damit du sie alle begucken kannst in der Stille und allein hübsch bleibst unterm Gesicht, wenn die Andern alle häßlich werden. Bist doch ein ganzes richtiges Mädel von der Senkenadel Eine messingene oder silberne an beiden Enden sehr breite Nadel, mit der man die Haarflechten auf dem Scheitel befestigte. bis zum Schuhklötzel!

Weil ich dich leiden mag, Krauskopf? Sieh, du wärst werth, daß ich dich zauste, aber mir sind meine Hände zu lieb, ich laß dich laufen.

Auch wenn ich gut bin und schön bitt', Florel?

Ja, bitt' nur! Du kannst immer bitten, wenn du Unrecht hast.

Wie magst du nun zanken zum Gründonnerstage! sagte Albrecht. Bist so schmuck und lieb wie ein gemaltes Marienbildel in der Kirche und schau nur, was für ein Hexengesicht dich jetzt anguckt aus dem Kruge! Gleich gib mir die Hand und mach' ein freundlich Gesicht, und das geschwind, eh' die Kinder ihre Bretzeln kriegen.

Das Befehlen steht dir gut zu Gesicht, versetzte Flora. Immer zu! da nimm! Aber das muß ich sagen, zum Ehemann möcht' ich dich nicht geschenkt!

Albrecht ergriff Flora's Hand mit Lebhaftigkeit und wollte sie küssen, diese zog sie jedoch so schnell zurück, daß seine Lippe nur die Buchenzweige des Zaunes streifte. Das übermüthig gewordene Mädchen lachte laut auf und lief den Garten hinan.

So wart' doch, du Blitzmädel! rief ihr Albrecht nach. Was gibst du an, Nachmittags? Gehst du in's Holz oder muß du im Hause helfen?

Ich werde sein, wo du mich triffst, erwiderte Flora übermüthig. Vergiß du nur nicht, dich tüchtig mit dem Wasser zu scheuern! 's wird ein Unglück geben, fürcht' ich, morgen in der Kirche. Und nun guten Morgen und laß dir den Honig gut schmecken und 's Osterlamm Honigsemmeln oder ein feines Gebäck in Form eines Lammes mit Buchsbaumzweigen besteckt war gewöhnliche Kost am Gründonnerstage. dazu.

Während dieser neckenden Scherzrede war Flora tänzelnd und den Krug lustig aus einer Hand in die andere schwingend den Garten hinan gelaufen. Albrecht sah ihr vergnügt und doch auch verdrossen nach. Erst als sie hinter der Cisterne seinen Blicken entschwand, verließ auch er seinen Standort, um die schmale Gasse hinauf nach seines Vaters Hause zu gehen.

Flora fand bei ihrer Rückkehr bereits das ganze Haus in lebhafter Bewegung. Die nach der Straße führende Thür war weit geöffnet und jetzt von beiden Eltern eingenommen. Vater und Mutter trugen Körbchen mit Bretzeln oder Kränzeln angefüllt, und vertheilten deren Inhalt unter Scherzen und Lachen an eine Schaar jubelnder Kinder, die sich vor dem Hause versammelt hatten und deren meist blonde Lockenköpfe so eben von dem ersten Strahl der Morgensonne mit glänzendem Golde bestreut wurden. Da immer neue Schaaren die Beschenkten mit dem üblichen Rufe: »Guten Morgen zum Grünnduhrstje« verdrängten und die Austheilenden mit der billigen Backwaare nicht kargten, so mußten die Körbchen zu wiederholten Malen neu gefüllt werden, zu welchem Behufe ein paar Dienstboten als Reserve im Hintergrunde aufgestellt waren, die aus einer großen Schwinge die rasch abgehende Waare schnell ergänzten.

Dieser Gründonnerstagsgruß, eine uralte und heitere Sitte, die freilich zuweilen in plumpen Unfug umschlug, ward in früheren Jahren nicht bloß von Kindern, sondern selbst von erwachsenen Burschen und Mädchen durch die Dörfer der Lausitz gerufen, ist aber jetzt, wie meistentheils alles Volksthümliche, gänzlich verschwunden. Herrn Ammer und seiner Ehehälfte gewährte sie Vergnügen, da sie gern heitere und glückliche Menschen um sich sahen; und weil es bekannt war, daß der gutmüthige und reiche Weber sich aus dem Geben selbst ein Fest bereitete, so war seine Hausthür die besuchteste im ganzen Orte.

Flora trat stillschweigend auf die unterste Stufe der in's obere Geschoß führenden Treppe, um über die Eltern hinweg auf den jauchzenden Kinderschwarm sehen zu können. Die meisten hielten ihre offenen Händchen empor und haschten nach den Bretzeln, die Ammer und seine Frau in großer Menge auswarfen. Dabei lachten die Kleinen aus Herzensgrunde und riefen den freigebigen Spendern neckend zu: Noch eine Mohnbretzel für meinen Bruder, Vater Ammer! wenn auch schon an jedem Finger des Fordernden eine dieser beliebten Kränzel hing. Und Ammer erhörte immer wieder auf's Neue die Bitten der lustigen Kleinen, bis denn zuletzt aller Vorrath erschöpft war und nur noch einige Brocken auf dem Boden seines Körbchens lagen. Gutmüthig schwenkte er dieses gegen den summenden Kinderhaufen, hieß sie Acht geben und schleuderte hierauf, während fünfzig Hände darnach griffen, das leichte Geflecht über die lebhaft bewegten Krausköpfe auf die Straße, wo es unter großem Lärme zu Ammer's noch größerem Ergötzen von den bettelnden kleinen Unholden in Stücke gerissen ward.

Nun erst kehrte er sich um und erwiderte herzlich den Gruß seiner Tochter.

Hast du Wasser geholt? fragte er Flora, sie sanft auf die blühenden Wangen klopfend. Wenn's frisch ist und klar, so gib mir einen Mund voll.

Frisch wie Schneewasser, Vater, sagte Flora, den bis zum Rand vollen Krug zeigend, und Glück wird's uns bringen für's ganze Jahr, denn kein Sonnenstrahl hat's getroffen, bis ich in's Haus trat. Da trink! Nun schmeckt dir's Essen alle Tage im Jahre und Zahnweh kriegst du auch nicht, und wenn du ein ganzes Pfund Honig ißt auf ein Niedersitzen! Kannst's auch versuchen, Mutter.

Anna war gutmüthig genug, ihrer Tochter Aufforderung zu folgen, und ließ es sogar geschehen, daß Flora ihr die Augenlider mit sanftem Finger betupfte, einen guten Spruch dazu murmelnd.

Laßt's nun gut sein, sprach Ammer, die Andern wollen auch 'was profitiren vom guten Wasser. Betheil' sie, Flora, dann leg' die Kappe ab und komm' in's Stübel. Denn ich denke, wir können itzunder in guten Gott's Namen rechtschaffen unser Frühstück verzehren.

Flora lief die Treppe hinauf in ihre Kammer, um ihre wunderliche Morgentracht abzuwerfen, und ein sauberes, einfaches Kleid anzulegen. So erschien sie nach einigen Minuten im Wohnzimmer, wo sie bereits ihre Eltern und Brüder am Tische traf, auf welchem zur Feier des Tages eine große Schüssel mit Honigsemmeln prangte. Nach Beendigung des Frühstücks gingen sämmtliche Hausgenossen an ihre Arbeit, Frau Anna und ihre Tochter begaben sich in die Küche, wo es wegen der Nähe des Festes sehr viel vorzubereiten gab.

Mutter, sagte Flora, Nachbars Albrecht war auch am Bache, um Wasser zu holen. Ich sah ihn auf dem Rückwege. Der hat Augen gemacht, als ich ihm guten Morgen bot.

Der Bursche ist brav, versetzte Anna. Es gibt einmal einen gottesfürchtigen Hausvater.

O ja, erwiderte Flora, er kann auch zanken.

Das erhält die Ordnung.

Ich glaube wohl, daß er genau ist, aber weißt du, Mutter, er geht wohl zehnmal des Tages die Gasse hinunter, und das gefällt mir nicht. Das macht träg in der Arbeit.

Die Männer müssen sich rühren und umschauen, Florel 's ist so ihre Art Vater hat's gerade so gemacht.

Aber er grüßt zu oft, Mutter! Man muß ihm ja danken, daß einem Abends das Genick noch weh thut. Wär's nicht genug zwei bis dreimal täglich? Ich nähm's ihm nicht übel.

Mußt's ihm sagen, wenn du's so haben willst, sagte Anna lächelnd.

Ja, daß er mir gram würde! Ich seh' lieber auf die andere Seite, wenn er so oft vorbeiläuft.

Und deßhalb hat er gezankt heute? Gelt?

O nein, deßhalb nicht.

Die Mutter schwieg, Flora trällerte ein Liedchen und schnitt dazu Zwiebeln in eine Schüssel, um für den Mittagstisch bunte Eier zu kochen.

Ich denk', begann sie nach einer Weile abermals, es könnte nicht schaden, wenn wir so gegen den Feierabend, ich meine in der fünften Stunde, in's Holz gingen. Es gibt einen prächtigen Nachmittag und es ist gar zu lieblich anzusehen, wenn die Frühlingssonne hinter den Bergen in Gold geht.

Es kommt auf den Vater an, meinte Anna. Er hat viel zu thun vor dem Feste, besonders mit Abrechnungen, und du weißt, das kommt ihm etwas sauer an.

O, da bin ich Meister drin, seit ich an letztem Weihnachten Vaters Stelle vertreten mußte. Ich helf' ihm jetzt trotz einem gelernten Schulmeister.

Besprich's mit ihm.

Aber du mußt mir beistehen, Mutter, er hat's nicht gern, wenn ich mein eigener Fürsprecher bin. Das heißt er Mädelflausen.

Nun, 's soll schon sein, sagte die Mutter. Ueber Tische kann's ja besprochen werden. Wir haben ohnehin einen halben Festtag und da ist's christlich, daß die Leute ein paar Stunden früher Feierabend machen.

Flora war bei aller Unschuld eine so kluge Eva'stochter, wie man sie feiner und gewitzigter kaum in den gebildetsten Salons der vornehmen Welt finden kann. So erreichte sie durch scheinbare Unbefangenheit gewöhnlich, was sie wünschte, und verstand den eigensinnigen Vater in mancher Hinsicht zu beherrschen oder doch nach ihrem Willen zu leiten. Ammer willigte auch diesmal nach einigem Brummen in den ersehnten Spaziergang, und da er eine Sache nicht gern halb that, so kündigte er, einmal entschlossen, den Werktag als halben Feiertag betrachten zu wollen, seinen Leuten ungewöhnlich zeitig den Beginn des Feierabends an.

Zur bestimmten Stunde war der Weber bereit, mit seiner Familie in Feld und Wald zu gehen. Diese Spaziergänge am Gründonnerstage, welche bei heiterm Wetter sich auch am Charfreitage wiederholen, sind noch jetzt gebräuchlich und geben der Landschaft, die sich mit den ersten Blättern und Blüthen des Frühlings schmückt, ein überaus bunt belebtes, fröhliches Ansehen.

Auf allen Feldwegen sah und sieht man lustwandelnde Menschen, springende und jubelnde Kinder, die über die aufknospenden Blumen jauchzen oder einem gelbbeschwingten Schmetterlinge nachjagen. Aus den Gebüschen tönen Pfeifen in allen Tonarten, denn die Knaben lassen sich ihr Recht nicht nehmen, die schlanken astlosen Schwuppen der Weiden zu großen und kleinen Pfeifen zu verarbeiten, die sie jedoch nicht immer mit gleich großer Kunstfertigkeit zu handhaben verstehen.

Es war ein ächt ländliches Concert, das die Familie Ammer im Felde begrüßte, regellos, bunt, fröhlich und keck, wobei die Lust, die es gewährte und verkündigte, alle Harmonie reichlich ersetzte. Unter den Saaten, auf denen bereits ein saftig grüner Duft schimmerte, schwebten Lerchen in Menge und sangen mit jubelnder Kehle ihre schmetternden Frühlingslieder. Nur auf den Kämmen und Gipfeln des hohen Gebirges glänzten unter dem sonnigen Blau des Himmels noch blendend weiße Schneefelder.

Während der Wanderung durch die Feldmarken schlossen sich der Familie Ammer ein paar nähere Bekannte an, unter denen sich auch einige Gespielinnen Flora's befanden. Die Mädchen strichen rechts und links durch die Büsche, pflückten Leberblümchen und Lungenkraut, und hatten dabei immer mit einander zu flüstern und zu kichern. Ammer mußte es geduldig mit ansehen, daß ihm die fröhliche Tochter seine Bibermütze auf allen Seiten mit Blumen besteckte und schließlich einen dicken Zweig blühender Saalweide darum wand, was zwar überaus bunt, doch keineswegs schön aussah. Sich selbst besteckten die Mädchen ebenfalls reichlich mit Blumen. Außerdem band sich jedes noch einen großen Strauß, aus dessen Mitte ein blühendes Weidenreis, Palmmietzel Man nennt die weichen Blüthen der Weiden so, weil sie sich gewöhnlich am Palmsonntag zuerst zeigen. genannt, weit hervorragte.

Schon hatte man die breiten Höhen des Waldrückens, die eine beträchtliche Fläche bildeten, nach allen Seiten hin beschritten und noch immer wollte Flora nicht müde werden, in Begleitung ihrer Brüder und Freundinnen die Büsche unter allerhand Neckereien zu durchstreifen. Frau Anna wünschte umzukehren, da sie noch mancherlei zum Feste zu besorgen hatte. Ammer stimmte bei, kümmerte sich aber nicht weiter darum, da er mit einigen Geschäftsfreunden, denen er begegnet, in ein fesselndes Gespräch gerieth. Dies war Flora höchst angenehm, denn sie wußte, daß der Vater unter solchen Umständen Zeit und Stunde vergaß und das wiederholte Drängen der Mutter durch bloßes Beistimmen erwiderte, ohne doch Anstalt zum Aufbruche zu machen.

Sie hatte gewichtige Gründe für einen verlängerten Aufenthalt und Spaziergang auf der Waldhöhe. Es war ihr nämlich in den letzten Wochen völlig unmöglich gewesen, mit Albrecht zusammen zu treffen. Ihr Vater hatte freilich nach jener verhängnißvollen Nacht, die eine so unerwartete Begegnung mit seiner Tochter herbeiführte, wiederholt den Nachbar besucht, allein, was beide Männer miteinander besprochen, welchen Entschluß sie gefaßt haben mochten, konnte Niemand errathen. Indeß traf Ammer ganz im Stillen, wie es seine Art war, die geeignetsten Vorkehrungen, um die unerfahrene Tochter vor Schaden zu bewahren.

So lebte denn Flora in einer peinigenden Ungewißheit. Und doch sehnte sie sich so sehr nach einem Zwiegespräch mit Albrecht, mehr vielleicht noch nach einem bestimmenden Worte beiderseitiger Eltern. Der Zufall und die Sitte des Landes mußten in dieser Noth Aushilfe gewähren, und da gab es offenbar keine günstigere Gelegenheit, als der Spaziergang durch Flur und Wald, über Berg und Thal am fröhlichen Gründonnerstage. Nun aber lief man schon weit über eine Stunde in Feld und Busch herum, die Sonne breitete schon goldfarbige Schleier über den Hochwald, der Thau fiel kältend im Thal und noch immer ließ der heiß Ersehnte sich nicht blicken. Flora ward bange, ihre muntere Laune verlor sich, sie verstummte und ließ die Freundinnen plaudern, die es an neckenden Anspielungen nicht fehlen ließen. Da endlich trat Albrecht fröhlich hinter einem dichten Busche hervor und überreichte Flora ein Sträußchen der schönsten Vergißmeinnicht, die er weit und breit an den Bachrändern zusammengesucht hatte. So erklärte sich sein spätes Erscheinen. Flora nahm die Liebesgabe erröthend an und schlug die Augen nieder.

Grollst du noch, Goldherz? fragte Albrecht, indem er die Hand des Mädchens ergriff und den voranhüpfenden Freundinnen seiner Geliebten folgte. Du mußt doch sehen, daß ich lieber im Sonnenschein sitze, als im Schatten mir's Fieber hole.

Flora antwortete auf diese freundliche Anrede nicht, aber ein rascher Aufblick ihrer schönen Augen sagte ihm, daß ein ganzes Freudenfeuer der Liebe lichterloh in ihrem Herzen brenne.

Potztausend! flüsterte Albrecht ihr zu. Das leuchtet ja wie die Berge am Johannisabend! Hast du 'was dawider, wenn ich mir auch ein paar Freudenkerzen an deinen süßen Augen anzünde?

Was du nun schwatzest! die Sonne blendete mich.

Ja, sie meint's gut, weil sie guter Dinge ist, wie wir.

Die hat wohl mehr zu thun, als sich um uns zu kümmern, sagte Flora. Ich möchte ihre Geschäfte nicht verrichten einen ganzen Tag lang, eh' sie herum kommt um den Erdball. Es muß eine Freude sein für sie, wenn sie recht viel Glück sieht auf so 'ner Wanderung; aber das Herz, denk' ich, müßt' ihr brechen, hat sie manchmal nichts zu bescheinen, als das nackte Elend.

Das ist schon ganz gescheidt eingerichtet, Florel, erwiderte Albrecht. Es gibt jederzeit ein richtiges Gemenge. Der liebe Gott ist ein grausam kluger Webermeister. Der schießt immer neun Fäden Freude zu einem Faden Kummer ein. Drum hat auch die Welt, wenn man's nur richtig betrachtet, immer ein Feiertagskleid an.

Während dieses Zwiegesprächs hatten Ammer und seine Begleiter die jungen Leute, zu denen sich jetzt auch Christlieb und Fürchtegott gesellten, eingeholt.

Bist du auch da, Albrecht? fragte Ammer. Wie geht's daheim?

Danke der Nachfrage, Herr Ammer, 's ist ja Alles in Schick. Und bei Euch?

Viel Arbeit, Albrecht, und schwere Sorgen dazu; aber Gott Lob, ich bin so daran gewöhnt! Sorgen und Mühen sind gesund für Leib und Seele.

Die Luft wird kühl, bemerkte Ammer. Wenn wir langsam so fortschlendern, kommen wir gerade heim zum Lichtanzünden!

Flora hatte jetzt nichts mehr gegen den Heimweg einzuwenden. Sie betrat selbst den nächsten, nach den Wiesen führenden Fußsteig, auf denen bereits die Abendnebel in weißen Wolkengebilden sich niederließen. Die heimkehrenden Kinder sangen mit hellen Silberstimmen Lieder, indem sie paarweise, blühende Weidenzweige tragend, die Höhen hinuntergingen.

Gehst du morgen zum Bach? fragte Albrecht.

Flora nickte. Brauchst dich aber nicht umzugucken, fügte sie hinzu; das Wasser könnte dir sonst verderben.

Aus der Ferne über die Bergstraße herein scholl der feierliche Klang einer Glocke. Strahlend, den westlichen Himmel in goldnen Schimmer füllend, versank die Sonne hinter den Bergen.

Da läuten sie schon Feierabend, sagte Ammer. Die drüben in B. gehen 'was zeitiger, als wir. Unsere Kirchenuhr macht's wie alte Leute. Sie läßt die Jüngern voranlaufen. Horch, da fangen sie auch an zu bimmeln.

Bald erklang nun von allen Seiten Glockengeläute, aus den Thälern und von den Bergen, bald leiser, bald lauter; heller als die übrigen aber tönten die Glocken der Stadt, die in vollkräftigem Tenor alle anderen überschrieen.

Als die Heimkehrenden die Thalsenkung erreichten, in der sich das freundliche Dorf ausbreitete, verstummte das Geläute nach und nach. Die Glocken schlugen in regelmäßigen Pausen neunmal nach einander an, alle Männer entblößten ihre Häupter, Kinder und Erwachsene falteten die Hände und beteten, still neben einander fortwandelnd ein Vaterunser.

Guten Abend beisammen, sprach Ammer, sein silbergraues Haupt mit der phantastisch geschmückten Mütze wieder bedeckend. Seid nun fein fromm, damit ihr unseres Herrn Todestag christlich antretet!

Vor dem Dorfe trennten sich die verschiedenen Parteien unter mehrmaligem Gruße. Auch Albrecht sagte dem Weber nebst Frau und Tochter gute Nacht. Im Weggehen drückte er Flora nochmals verstohlen die Hand und flüsterte ihr zu:

Erkälte dich nicht beim Wasserholen, damit wir zum Feste einen lustigen Tanz mit einander halten können. Auf Wiedersehen, du liebes Blauauge!

Er verschwand in der Gasse und Flora suchte die Purpurröthe ihres Gesichtes dadurch zu verbergen, daß sie sich zu dem jubelnd heranspringenden Bello herabneigte.


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