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Drittes Kapitel. Neue Bekanntschaften.

Kaufmann Mirus stand vor der Thür seines Hauses und sah dem Ausladen mit eisernen Reifen umschnürter Ballen zu, womit sechs große, in grobleinene lange Kittel gekleidete Männer beschäftigt waren. Diese Ballen schichtete man auf große Schleifen, um sie nach der städtischen Waage zu schaffen, ehe sie zum Transport in's Ausland verladen wurden.

Mirus war ein mittelgroßer Mann, weder hager noch wohlbeleibt, verdrießlich von Angesicht und meistentheils wortkarg. Er konnte wenig über fünfzig Jahre alt sein, obwohl seine Haare dünn und gänzlich ergraut waren. Sein Arbeitsrock von müllergrauem Tuch mußte mehr als ein Jahrzehnt gedient haben, denn von Wolle sah man nirgend mehr eine Spur, und die Flecken, die sich während des langen Gebrauches darauf eingefunden, vermochte Niemand zu zählen. Mirus trug hinter dem rechten Ohr eine Schreibfeder und ließ spielend eine schwere goldene Dose durch die Finger gleiten.

Als jetzt die Arbeitsleute oder Waageknechte, wie man sie nannte, mit dem Aufladen der Kisten fertig waren, winkte Mirus dem zunächst Stehenden:

Hier ist ein Trinkgeld, Joseph, sprach er, ein kleines Geldstück ihm darreichend. Kauft Euch dafür eine Erquickung. Es ist gerade hinreichend, um Euch zu stärken, und mehr als ihm zur Stärkung nöthig ist, soll der Mensch niemals genießen.

Der Waageknecht steckte das Geldstück zu sich, lüftete dankend die Mütze und fuhr in Begleitung seiner Gehülfen mit den Waarenballen fort.

Mirus folgte der Schleife, die rauschend über das Pflaster glitt, mit den Augen, bis sie um die nächste Straßenecke bog. Dann rieb er sich die Hände und in das gewöhnlich düster aussehende Geflecht seiner Züge nistete sich ein schelmisches Lächeln ein.

Das wären tausend Thaler sicher verdient, sagte er selbstgenügsam zu sich. Ein gutes Geschäft, das ausnahmsweise den Genuß eines Glases Wein erlaubt.

Er trat zurück in's Haus, während die Knechte den Ladebock, mit dessen Hilfe man die Kisten aufgeladen hatte, wieder auf die geräumige Flur trugen, und ging in's Comptoir.

Hier finden wir außer einigen mit Schreiben beschäftigten Commis, Christlieb Ammer, der im Namen und Auftrage seines Vaters dem Kaufmanne die neuesten Waarenbestellungen überbracht hatte. Mirus winkte dem jungen Manne freundlich zu, setzte sich auf seinen Schreibstuhl, notirte Einiges, schob die Feder wieder hinter's Ohr, nahm eine Prise, die er beim Verschnupfen mehr wie zur Hälfte auf den Pult fallen ließ, und sagte dann, zu Christlieb gewendet:

Also Papa ist stark beschäftigt? Freut mich, wahrhaftig, freut mich! Sonst doch nichts conträr gegangen?

Ich wüßte nicht, Herr Mirus. Wie sollte es auch! Vater speculirt ja nicht.

Richtig! Ammer speculirt nicht, wiederholte Mirus, eine zweite Priese in angegebener Weise verarbeitend. Herr, ich muß Ihr sagen – diese sonderbare Redensart flocht Herr Mirus in alle seine Gespräche und zwar, so oft er sie nur anbringen konnte, ein – es ist dies sehr löblich von Freund Ammer, weil man immer ein solides Geschäft dabei macht. Aber wie ist mir denn? Da traf ich neulich mit Gembold zusammen – Herr, ich muß Ihr sagen – ein Kaufmann prima sorte! Der Herr hat mir erzählt, der Schleicher da – wie heißt er doch – wohnt in Herrnhut, sieht aus wie ein Quäker und führt Christus wohl mehr auf den Lippen als im Herzen –

Meinen Sie vielleicht Herrn Wimmer?

Richtig, Wimmer! Hast ein prächtiges Gedächtniß, Christlieb. – Wimmer! Ja dieser wimmernde oder wimmerige Herrnhuter hat ja eine neue Speculation begonnen. Hm?

Christlieb zuckte die Achseln.

Weißt nichts davon? – Papa auch nicht? – Herr, ich muß Ihr sagen – glaubt nicht! Kann's nicht glauben. Ist ein zu kostspielig Ding mit solcher Speculation.

Mirus sah Christlieb schlau und forschend an, dieser jedoch, der in der That von den Schritten des Vaters nicht so genau unterrichtet war, wie sein Bruder Fürchtegott, verharrte in festem Schweigen.

Muß viel, sehr viel überflüssiges Geld haben, der Herr Wimmer, fuhr der Kaufmann fort. Schiffe sind heut zu Tage theuer, mag man sie kaufen oder miethen, und es bleibt unter allen Umständen ein gewagtes Ding, spät im Herbst noch ein Schiff mit kostbarer Ladung in See gehen zu lassen. Möchte Freund Ammer warnen, daß er nicht leichtgläubig sich möge bethören lassen! Baares Geld auf Wasser sinkt gern unter. Verstanden?

Christlieb bemerkte, daß es nicht seines Amtes sei, dem Vater Vorschriften zu machen, daß er deßhalb auch kein Wort gegen denselben erwähnen werde.

Mirus sah ihn wohlgefällig an und nahm wieder eine Prise.

Gefällst mir, sagte er in seiner kurzen Sprechweise. Will dich rühmen gegen Papa; bist ein gehorsamer Sohn, wirst's zu 'was bringen. Sollst auch heute ein Glas Wein mit mir trinken.

Er schellte und bestellte bei dem bald darauf eintretenden Mädchen das Nöthige, was denn sogleich gebracht wurde. Mirus schenkte zwei mächtig große Gläser voll, winkte Christlieb zuzulangen und präsentirte ihm zugleich einen Teller mit Zwieback und Zuckerbretzeln, Gebäck, das man in besonders trefflicher Qualität an der Grenze zu bereiten pflegte.

Nun laß uns anstoßen, sagte er mit pfiffigem Lächeln. Auf unser beiderseitiges Wohl und blühende Geschäfte! Wohl bekomm' dir's!

Der Kaufmann nippte nur von dem Weine und prüfte jeden Tropfen auf der Zungenspitze, Christlieb dagegen nahm einen herzhaften Schluck und machte dabei ein Gesicht als habe er Essig getrunken.

Ueber Mirus' lederfarbenes Gesicht lief ein sonderbar leuchtendes Lächeln.

Ihr trinkt wohl selten Wein? fragte er, oder ist's vielleicht nicht die rechte Sorte?

Christlieb erröthete und stammelte einige unverständliche Worte.

Herr, ich muß Ihr sagen, fuhr der reiche Großhändler fort, nochmals recht behaglich ein paar Tropfen Wein schlürfend, ich bin kein Freund verschwenderischer Leute. Darin stimme ich ganz zusammen mit dem Herrn Vater. Bei Festlichkeiten, wenn man sich sehen lassen muß, hat es einen Sinn, das Beste auf die Tafel zu bringen, was der Herr Vater denn auch thut, wie wir bei seinem letzten Kirmeßschmause mit Wohlgefallen bemerkt haben; für gewöhnlich aber nehme man mit Geringem vorlieb. Ist eine weise Lehre das, ein wahrhaft Salomonischer Grundsatz. Magst dir ihn ganz oben auf die äußerste Kante deines jugendlichen Herzens mit feurigen Buchstaben eingraben. Wirst es dann zu 'was bringen.

Wieder schlürfte Mirus einige Tropfen des röthlich-weiß schillernden Getränkes und hielt dann das Glas unter die Nase.

Eine Blume, mein junger Freund, hat das Gewächs nicht, fuhr er fort. Ist ächter Meissner, vorjähriger, sogenannter Landwein von Peter Müller in Zitschewich. – Kostbares Getränk, sag' ich dir, wenn man eine gute Verdauung nöthig hat. – Trinke ihn schon seit zwanzig Jahren oder noch länger, aber stets mäßig, immer bloß nippend, damit der Genuß recht lange dauert. Man muß jedoch etwas dazu essen, sonst bekommt er nicht. Herr, ich muß Ihr sagen, auf ächten Meissner Landwein lasse ich nichts kommen! Er conservirt die Eingeweide, nöthigt zu mäßiger Lebensweise und erhält das Geschäft. Herr, gerechter, wo wäre Johann Lebrecht Mirus geblieben, hätte er etwas Anderes als Landwein getrunken!

Eine Thräne, ob eine künstlich erpreßte oder aus wirklicher Rührung hervorgegangene, möge unermittelt bleiben, blinkte in den grauen Augen des Kaufherrn und rann langsam auf seine fahlen Backen herab. Er schlug dabei die Augen gen Himmel auf, als wolle er dem Ewigen für das ihm geschenkte Glück danken. Wenn man aber in das Gesicht des Emporblickenden sah und die eisenharten Züge in demselben musterte, konnte man nicht recht an Rührung glauben. Christlieb ward sogar etwas unheimlich. Er setzte das halb geleerte Glas weg, und zerbröckelte in seiner Verlegenheit den Zwieback. Mirus trocknete sich die Augen, nahm eine Prise, roch nochmals an dem conservirenden Wein und kehrte sich wieder zu seinem jungen Gaste. Sein Gesicht glänzte jetzt, als ob ein großer Gedanke das Gehirn des alten Speculanten belebe.

Herr, ich muß Ihr sagen, sprach er belebter und rascher als bisher, auf den Wimmer mag Herr Vater ein Auge haben. Verstanden? – Es ist nicht Geschäftsneid, der mich so sprechen läßt, es ist Liebe, pure, blanke, infame Christenliebe! Herrnhuter sind immer ein wenig heimlich, der Wimmer aber ist's vor Andern. Darum aufgepaßt, aber stillgeschwiegen! – Christlieb, ich wünschte wohl, du kämest später zu 'was Tüchtigem, 'was Großem, denn ich mag deine Weise, wenn ich's aber so einrichten könnte, daß es ohne Wimmer's Zuthun und Vermittelung geschähe, wollte ich selbst ausnahmsweise vier Wochen hinter einander Rheinwein statt Meissner trinken. Verstanden?

Christlieb konnte nicht im Entferntesten errathen, wohin die Andeutungen des Kaufmanns zielen sollten, er sagte deßhalb mit voller Ueberzeugung und in dem gutmüthigen Tone vertrauungsvoller Jugend:

Herr Wimmer ist ein alter bewährter Freund des Vaters und will sicher nur unser Aller Bestes.

Mirus schnupfte hastig eine Prise, schlug die Dose heftig zu, warf sie vor sich hin auf den Pult und drehte sich wie ein Kreisel auf seinem Comptoirschemel um. Seine Augen waren noch einmal so groß geworden und ruhten jetzt flammend, gebieterisch auf dem unerfahrenen Jünglinge.

Herr, ich muß Ihr sagen, sprach er mit bis zum Säuseln abgedämpfter Stimme, du bist ein sehr übelberathener Junge, wenn du glaubst, die frommen Redensarten des Herrnhuters kommen unmittelbar aus einem reinen und lautern Herzen. Kenne ihn besser, den Mann, besser als du und Alle, die mit ihm zu thun haben. Lernte ihn kennen vor Gericht, weiß, was er werth ist vor Gott, meinem Schöpfer! – Will's dir sagen lieber Junge; tritt näher!

Christlieb folgte dieser Aufforderung mechanisch. Mirus beugte sich zu ihm nieder und flüsterte ihm in's Ohr:

Wimmer ist ein Heuchler, – hat falsch geschworen, falsch Zeugniß abgelegt – haßt seine Nebenmenschen und trägt ein Herz in sich voll Lug und Trug! – Herr, ich muß Ihr sagen, der leibhaftige Satan wäre mir als Haus- und Geschäftsfreund lieber als dieser Mann, der das Jesulein immer, wie eine Mutter ihr Kind, auf den Armen wiegt!

Christlieb fuhr erschrocken zurück, als habe ihn ein giftiges Insect verwundet. Zum ersten Male in seinem Leben ward ihm, dem Schuldlosen, bange vor Welt und Menschen. Er sah den Großhändler ungläubig an, ohne ein Wort zu erwidern.

Ist wahr, buchstäblich wahr, was ich sage, bekräftigte mit treuherzigem Kopfnicken Mirus. Kann's beweisen, wenn's dereinst nöthig sein sollte, ist aber jetzt noch nicht die Zeit dazu gekommen.

Ein recht häßliches Lächeln verzog hier die Züge des Kaufherrn zu einer fast abstoßenden Fratze, so daß es dem jungen Ammer immer unheimlicher in der engen düstern Schreibstube ward.

Herr, ich muß Ihr sagen, setzte Mirus bedächtig hinzu, wer über schlechte, aber kluge Menschen triumphiren will, muß warten können und Geduld haben. Solchen hartgesottenen Sündern ist nichts fürchterlicher, als wenn der Rächer sie mitten im Ueberflusse des Glückes packt. Just, wenn sie gewonnen, wenn sie das Ziel ihres egoistischen Strebens erreicht zu haben glauben, muß der Teufel kommen und eine Klaue dazwischen legen. Aber bei Leibe nicht hitzig werden, das wirft keine Procente ab! Ist viel angenehmer, viel süßer, und wenn man es theologisch auslegen will, auch viel christlicher, einen armen Sünder, der sich sicher weiß, so lange mit dem Strick um den Hals in der Welt herumlaufen zu lassen, als er noch halbwegs stolpern kann!

Mirus lächelte wieder in seiner nichts weniger als angenehmen, einem Grinsen zu vergleichenden Weise, und dabei nickte er so continuirlich tactmäßig mit dem Kopfe, als habe sich die hagere Gestalt des reichen Handelsherrn in einen Pagoden verwandelt. Es fehlte nur noch, daß er auch die Zunge herausstreckte, beide Arme erhob und mit diesen ebenfalls zu wackeln begann.

Ja, ja, so ist's, bekräftigte er, das Kopfnicken einstellend. Nun bewahre, was du gehört hast, in einem feinen Herzen, schweige gegen Jedermann wie das Grab, behalte Augen und Ohren offen, traue aber Niemand als dir selbst! Herr, ich muß Ihr sagen, wirst dann von Niemand hinter's Licht geführt und bleibst dein eigener Herr! Und nun Gott befohlen, mein Lieber. Schönste Grüße an Herrn Vater und Frau Mutter. Kann mir nächstens wieder ein paar Dutzend von den feinen Weben besorgen. Machen sich gut bezahlt, schicke sie nach Pennsylvanien – dumme Kerle, die Pennsylvanier, haben aber richtige vollwichtige Goldstücke. – Noch ein Gläschen Wein zum Abschiede? Nein? Keinen Appetit mehr drauf? Kann's begreifen, da du nicht daran gewöhnt bist, wirst aber einsehen, daß ächter Meissner alle Rheinweine aussticht. Gibt gar kein besseres Mittel zur Verdauung. – Adieu, Adieu! –

Er warf dem Jünglinge eine Art Kußhand zu und Christlieb war entlassen. Halb gedankenlos ging er nach seinem Gasthofe, wo er Pferde und Wagen gelassen hatte. Das Gespräch mit dem Kaufherrn, dessen Redlichkeit Ammer so hoch verehrte, summte ihm im Kopfe und machte ihn fast unglücklich. Was konnte Wimmer mit seinem Vater vorhaben? Welche Veranlassung bewog Mirus, den Herrnhuter, der doch bisher offenbar ihm und seinem Bruder gewogen war, sich als väterlich sorgender Freund gezeigt hatte, auf so entsetzliche Weise zu verleumden? Kam Geschäftsneid hier in's Spiel oder wirkten andere Ursachen zusammen. Von all diesen Fragen vermochte Christlieb Ammer auch nicht eine einzige zu beantworten. Dies machte ihn düster und verschwiegen, und so recht innerlich verstimmt trat er den Rückweg an. Er ahnte dunkel, daß es nicht ganz leicht sein werde, in der Welt seinen Weg zu machen; denn hatte Mirus auch nur zum Theil Recht, so ließ sich von den Mittheilungen des vielerfahrenen Kaufmannes ein Schluß machen auf die Erbärmlichkeit oder tiefe Verdorbenheit der Menschen im Allgemeinen. Sein gesunder Verstand sagte dem Jünglinge, daß entweder Einer von den beiden Männern, welche zu seines Vaters vertrautesten Geschäftsfreunden gehörten, ein durchtriebener Schurke sein müsse, oder daß in Beiden Gutes und Schlechtes sich in seltsamster Weise mische. Gehörte dies Durcheinander guter und schlechter Eigenschaften vielleicht zur Speculation, von der Ammer nichts wissen wollte? Dann allerdings war das Erlernen dieser Kunst schwer und gefährlich zugleich. Denn ein guter und glücklicher Speculant konnte doch unmöglich im christlichen Sinne ein guter Mensch, ein Mann »nach dem Herzen Gottes« sein, wie es in der Schrift heißt.

Christlieb hätte sich wohl zu tief in grübelndes Nachdenken über diese ihn peinigenden Fragen versenkt, wäre er nicht glücklicherweise durch äußere Eindrücke darin gestört und alsbald ganz davon abgezogen worden. Das Schmettern eines Posthorns dicht hinter ihm forderte seinen Kutscher zum Ausweichen auf. Eine leichte Kalesche mit zwei jungen Pferden bespannt, brauste wie im Sturme an ihm vorüber und jagte die etwas abschüssige Straße hinunter. Bei einer Biegung des Weges schlug der Wagen um, ein Hilferuf ward vernommen und Christlieb gebot dem Kutscher, die Pferde anzutreiben, um den möglicherweise Verunglückten beizustehen.

Als man bei dem umgestürzten Wagen ankam, zeigte sich, daß die Deichsel zerbrochen war. Ein noch junger, fein gekleideter Mann hatte sich bereits herausgearbeitet und blutete ziemlich stark aus einer Kopfwunde, die sich indeß durchaus nicht gefährlich erwies. Christlieb fragte theilnehmend, ob er dem Herrn in irgend einer Weise gefällig sein könne, während der Postillon lästerlich fluchte und seinen Zorn an den jungen Thieren ausließ, die freilich zum Theil durch ihr ungestümes Jugendfeuer den Unfall verschuldet haben mochten.

Am Dialekt des Fremden, der sich sehr dankbar zeigte, erkannte Christlieb sofort den Oesterreicher, obwohl die ursprüngliche Schärfe der Aussprache etwas abgestumpft erschien.

's ist eine ärgerliche G'schicht', sagte der Reisende lächelnd. Wenn ich heut Abend nicht in W......f ankomme, kann's mich zehntausend Gulden Münz kosten. Da hilft halt kein Nix und kein Jemand.

Das wäre ein theurer Unfall, meinte der junge Ammer, indem er dem Fremden zugleich einen Sitz auf seinem allerdings nicht sehr eleganten Fuhrwerke anbot.

Sie sein halt sehr gütig, küss' die Hand, versetzte der Reisende, ein großes Stück Feuerschwamm auf seine noch immer etwas blutende Wunde legend, und ich bin unverschämt genug Ihr Anerbieten anzunehmen. Schwager, rief er dem Postillon zu, da hast ein paar Zwanziger Trinkgeld. Spann' deine Braunen ein und fahr' im Schritt mit deiner Karret wieder zurück. Hast du Unannehmlichkeiten von der Schmier', so wende dich an die Firma Sebastian Brandt und Comp. In Wien, Stadt, Graben Nro. XX, zwei Stiegen hoch. Geld kannst' alle Tage haben, wär's auch mehr als ein Batzen. – Wissen S', fuhr er zu Christlieb gewandt fort, ich reis' in einem Lottogeschäft und da muß man halt immer sehr aufpassen, sonst ist viel Gefahr dabei. Vor acht Uhr also möchte ich lebensgern wieder im Königreiche sein. Bestellte mir deßhalb junge Pferde, um ein Bissel g'schwinder über die steinigte Straßen oben am Berg fortzukommen, und nun schmeißen mich die Viecher drei Stunden vor'm Kranzhause in den Straßenstaub!

Der Reisende lachte heiter, suchte nochmals den immerfort schimpfenden Postillon zu beruhigen und stieg dann auf Christlieb's Wagen, wo er in dem etwas unangenehm hin- und herschaukelnden, an Riemen hängenden Sitze Platz nahm. Der junge Ammer wurde neugierig, mit wem er da wohl bekannt geworden sein mochte. Der Mann schien in Wien zu wohnen und für die sächsisch-böhmischen Grenzbewohner war damals die Kaiserstadt an der Donau das Mekka, wohin die Blicke Aller sich richteten. Christlieb's Vater sprach von Wien immer mit großem Respect. Ihm war es unbedingt die Hauptstadt der Welt, wie er auch den Kaiser noch immer als eigentlichen und alleinigen Herrn von Deutschland und gewissermaßen als König aller übrigen Könige verehrte. Einen Mann aus Wien hatte Christlieb bisher weder gesehen noch gesprochen. Er fühlte sich daher höchlichst geehrt, eine solche Persönlichkeit jetzt neben sich zu haben, ja dieser ihm freilich noch völlig unbekannten Person einen, wie er vermuthen durfte, entschieden großen Dienst geleistet zu haben. Und so viel kaufmännischen Blick hatten die Ammer sich doch bereits angeeignet, daß sie sich sagten, eine Gefälligkeit sei der andern werth, ein zu rechter Zeit dargereichter Finger könne die erste Veranlassung zur späteren Hebung eines großen Schatzes werden.

Der Wiener Herr war sehr gesprächig. Während das schlitternde Fuhrwerk nicht gar zu eilig über die holprige Landstraße fortpolterte, erzählte er fortwährend und warf mitten in seine Erzählungen eine Menge Fragen, so daß Christlieb beinahe in Verlegenheit gerieth in diesem Redekreuzfeuer. Ammer's ältester Sohn erfuhr bei dieser Gelegenheit, daß Herr Zobelmeier – so nannte sich der Wiener – im Auftrage des Hauses Sebastian Brandt und Comp. die Grenzen des Königreichs Böhmen bereise und zwar in allerhand Geschäften, zu denen als einträgliches Nebengeschäft das Sammeln von Liebhabern des Lottospiels kam.

Wissen's, Herr Ammer, sagte Zobelmeier, die G'schicht' mit dem Lotto ist eigentlich verboten, 's g'schieht bloß ganz heimlich, aber wenn man ein Bissel gut aufpaßt, wirft's ein hübsch paar blanke Gulden ab. Wollen S' halt 'mal probiren mit einer Terne?

Christlieb befand sich in nicht geringer Verlegenheit. Er hatte nie andere Spiele gesehen, als die gewöhnlichen, auf allen Orten der Grenze üblichen Kartenspiele, von denen ihm einige ziemlich geläufig waren. Von dem »böhmischen Lotto« hatte er wohl gehört, was es aber eigentlich war, wie man es spielte, ob dabei kleine oder große Gewinne zu erlangen seien, wußte er nicht. Um jedoch nicht geradezu unwissend zu erscheinen und sich in den Augen des jedenfalls sehr pfiffigen Fremden leicht lächerlich zu machen, bat er diesen, ihm, da er sich der Einrichtung des Lotto's nicht mehr genau entsinnen könne, eine übersichtliche Schilderung von dem Plane des Spieles zu geben.

Zobelmeier that dies mit geläufiger Zunge, wobei er die günstigen Chancen desselben mit so verführerischen Farben schilderte, daß der junge Weber aufmerksam zuhörte und die Lust, in diesem wunderbaren Spiele sein Glück zu versuchen, sich immer stärker in seiner Seele regte. Zugleich aber beschlich ihn auch eine peinigende Angst. Es kam ihm vor, als öffne sich vor seinen staunenden Augen eine ungekannte Welt voll Glück, Zauber, Glanz und Reichthum. Sie näherte sich wie die bunten, schillernden Bilder in einer Laterna magica seinen Blicken, aber er vermochte des blendenden Glanzes wegen nicht offenen Auges in dies Wogen und Wallen farbigen Lichtes zu sehen. Und schloß er die Lider kurze Zeit, so starrte er gleich darauf beim Wiedereröffnen in ein mächtiges Chaos, oder häßliche Fratzen, gespenstige Schattenbilder zogen abschreckend an ihm vorüber.

Sein unverdorbenes Herz sagte ihm, daß, wer dem Lottospiele sich in der von Zobelmeier betriebenen Weise ergab, etwas Ungesetzliches, Verbotenes thue. Es war im moralischen Sinne vielleicht kein Verbrechen, das der Lottospieler sich zu Schulden kommen ließ, da aber entschieden ein Gesetz übertreten werden mußte, so sündigte der Lottospieler doch entschieden gegen den Staat, mußte also der Obrigkeit strafbar erscheinen, wenn – die Sache entdeckt wurde. Christlieb wagte es, seinem Gefährten dies leise anzudeuten.

Zobelmeier lachte. Schau'n S', sagte er, darum braucht man sich halt gar nicht zu kümmern. Der Mensch lebt, wie er kann, und da sich's sehr schlecht lebt, wenn man keine Geschäfte macht, so macht man halt auch Geschäfte, wie man kann. Was ist Unrecht? Dümmer sein, als ein albernes G'setz! Meine Moral ist, nimm, wo du 'was findest, ohne Jemand zu berauben. Aufheben, was Andere verlieren, ist kein Diebstahl. Ich sammle bloß ein, damit ich halt nicht in Noth komme und Mangel leide. Warum ist's Lotto erfunden? Doch wohl, daß man's spielen und, wenn man nicht gar ein tölpischer Troddel ist, 'was dabei profitiren soll? Ich rathe Ihnen, Herr Ammer, spielen's eine Terne, und Sie werden sehen, daß ich Recht hab'.

Christlieb mußte wieder an die vielgepriesene Speculation denken. Auch das Lottospiel, wie der Reisende es ihm geschildert hatte, war nichts Anderes, es war nur eine in anderer Form auftretende Speculation, ein Handel mit dem Glück, nicht sicherer und nicht unsicherer, wie jede andere Handelsunternehmung, deren Ziel uns nicht bekannt ist. Es ward ihm immer sonderbarer, immer bänglicher. Das war nun der dritte Mensch, scheinbar ein Ehrenmann, wie Mirus und Wimmer, und doch schien es dem jungen Weber, als seien die Seelen aller drei Männer hohl und leer. Einen Augenblick lang graute es ihm vor den Menschen, und er mußte seinem schlichten, alten Vater, der nie einen Finger breit, wie er meinte, abgewichen war vom steilen Pfade strengster Gewissenhaftigkeit, vollkommen Recht geben. Aber wie fortkommen in der Welt? Hatten die Verhältnisse sich einmal so gestaltet, daß nur Einer auf den Schultern Anderer sich emporarbeiten, etwas erringen und sich sichern konnte, so wäre es Feigheit gewesen, sich freiwillig und aus kleinlichen Rücksichten auszuschließen vom allgemeinen Wettkampfe. So haftete der Angelhaken des Fremden in der Seele des jungen Ammer, ohne daß er mit eigener Hand ihn tiefer eingedrückt hätte. Die Neigung, in diesem wunderlichen Lebensspiel von der Welt zu gewinnen, war rege geworden in Christlieb; ob sie sich später ausbilden und zur Leidenschaft steigern wird, mag die Zukunft lehren.

Inzwischen war es finster geworden. Der Wind, der schon stundenlang bitterkalt vom Gebirge her wehte und dunkle Wolken über den bewaldeten Kämmen desselben aufthürmte, trieb jetzt einzelne Schneeflocken vor sich her.

Es wintert ein, sagte Christlieb, das bisherige Gesprächsthema abbrechend. Der Schnee ist trocken, und wenn es bei diesem Winde recht tüchtig zu schneien anfängt, gibt's allemal einen reellen Winter vor Weihnachten. Da liegt die Schenke, fuhr er fort, mit der Hand auf ein lang gestrecktes, mit Stroh gedecktes Gebäude zeigend, aus dessen Fenstern im Erdgeschoß heller Lichterschein flimmerte. Fünf Minuten weiter oben bin ich zu Hause. Wollen Sie noch über die Grenze in's Königreich, so bekommen Sie wohl bei dem Wirthe ein Fuhrwerk. Enderlein hat Pferd und Wagen.

Küss' die Hand, lieber Herr, erwiderte Zobelmeier, aber thun Sie mir einen G'fallen oder Sie machen mich ganz sackrisch.

Wenn ich kann, warum nicht? erwiderte Christlieb.

Wählen's also eine Terne!

Wie soll ich das?

Sie geben mir eben drei Zahlen, die ich mir mit Beifügung Ihres werthen Namens in mein Notizbuch schreibe.

Ich weiß keine.

Haben S' kein Schätzel, dem S' recht viel Busserl geben möchten? Ihr und der Liebsten Alter und zum Dritten eine beliebige Anzahl Busserl gibt die schönste Terne von der Welt. Also heraus mit drei Zahlen!

Wäre es heller Tag gewesen, würde Zobelmeier, der Lotto-Reisende, ein zorniges Roth auf Christlieb's Wangen bemerkt haben bei dieser Scherzrede, die dem unschuldigen Jünglinge gar arg frivol klang. Er gedachte seiner Schwester und ihres Liebesverhältnisses zu Albrecht Seltner, und um nur den jetzt ihm lästig werdenden Begleiter los zu werden, sagte er, ohne sich zu besinnen:

Nun gut! Nehmen Sie denn die Zahlen 18, 21 und 27, dividiren Sie diese mit der Zahl Drei, und lassen Sie das Facit meine Terne sein.

Zobelmeier merkte sich die Aufgabe, obwohl sie ihm etwas wunderlich vorkam, versprach, die Zahl zu besetzen und das Resultat seiner Zeit dem jungen Ammer zu melden. Treuherzig dem Grenzwohner die Hand schüttelnd und ihm nochmals für geleistete Hilfe dankend, trat der Reisende in die Schenke. Christlieb fuhr sinnend, ja verstimmt weiter. Als der Wagen vor seines Vaters Hause hielt, war vollkommenes Schneegestöber eingetreten, und alle Gegenstände bereits mit weißlich schimmernder Winterhülle bedeckt.


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