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Zweites Buch.

Erstes Kapitel. In der Brüdergemeinde.

Die Straßen Herrnhuts waren auffallend still. Lärmend, ja nur stark belebt konnte man sie freilich niemals nennen, aber man hörte doch für gewöhnlich aus den meisten Häusern das Geräusch irgend eines thätigen Arbeiters, sah geschäftige Menschen mit schnellen Schritten, Begegnende schweigend grüßend, über die Straße gehen. Fürchtegott fiel dies auf, da im Kalender kein Feiertag verzeichnet stand und er doch wußte, daß die Brüdergemeinde hinsichtlich ihrer Kirchenordnung sich streng den protestantischen Vorschriften anschließt. Auch fand er Herrn Wimmer, an den er Aufträge hatte, nicht zu Hause, und was ihn noch mehr wunderte, das Comptoir desselben geschlossen. Martha, die Haushälterin, bat den jungen Mann, er möge in zwei Stunden wieder kommen, und Fürchtegott, der nicht neugierig erscheinen wollte, entfernte sich stillschweigend.

Für Fremde, denen es an Familienbekanntschaften fehlt, ist Herrnhut ein langweiliger Ort. Eigentliche Sehenswürdigkeiten gibt es gar nicht, höchstens kann die geleckte Sauberkeit der Häuser und Gassen, die feierliche Sonntagsstille, die selbst an Werktagen nicht völlig verschwindet, der sanfte Ernst auf den Mienen aller Begegnenden und die einförmige, bescheidene Tracht der Frauen, die wie eine Gesellschaft der Welt angehörender Nonnen dem Auge entgegentreten, auf einige Zeit unterhalten.

Diese charakteristische Physiognomie des Brüderortes kannte Fürchtegott von früher her, weßhalb sie ihn wenig ansprach. Er ging daher, etwas gelangweilt, an dem mit niedrigem Thurme versehenen Bethause vorüber, nach dem Gottesacker, der in geringer Entfernung vor dem Orte über eine ansehnliche Höhe sich ausbreitet. Eine Allee wohlgepflegter Linden führt nach dem Begräbnißplatze, der von lebendigen, unter der Scheere des Gärtners gehaltenen Buchenhecken eingehegt und durchschnitten wird. Ein Spaziergang durch die Reihen der schmucklosen Gräber, die alle mit Steinen von gleicher Größe und Form belegt sind, mit Ausnahme der Grüfte, welche die Gebeine der Bischöfe und Aeltesten umschließen, ist nicht uninteressant. Man findet unter den dort Ruhenden Menschen aus allen Weltgegenden. Mancher, der seinen irdischen Pilgerstab auf dieser stillen Höhe niederlegte, mag mit heftigen Lebensstürmen gekämpft, Mancher mit den wunderbarsten Schicksalen gerungen haben. Die ihm gewidmete Grabschrift spricht freilich nicht davon, denn treu ihrem Grundsatze, nie prunkend, sondern immer demüthig vor dem Herrn zu erscheinen, hält die Brüdergemeinde auch durch Schicksal und Wirksamkeit hervorragenden Menschen im Tode keine Lobrede. Der granitene Leichenstein nennt bloß Geburtsort, Name und Sterbetag des Abgeschiedenen, und bemerkt höchstens noch, daß er in ferner Welt, unter den »blinden Heiden« zur Ehre des Herrn und zur Ausbreitung des Christenthums als frommer Knecht Christi thätig gewesen ist.

Füchtegott durchwandelte ziemlich achtlos die Reihen der Gräber. Ein paar trauernde Frauen, die längere Zeit an einem mit ganz neuem Stein bezeichneten Grabe verweilten, beschäftigten ihn etwas. Als er sie fortgehen sah, näherte er sich dem Grabe, und las mit einigem Erstaunen, daß der daselbst Ruhende in Paramaribo geboren war. Der Name klang deutsch, was ihn vermuthen ließ, daß er wohl von deutschen Missionären abstammen möge. Frau und Tochter hatten den früh Verstorbenen überlebt, wie die Inschrift sagte, und Fürchtegott mußte annehmen, daß er Beide in den Trauernden aus der Ferne erblickt habe. Es ärgerte ihn jetzt, daß er so schüchtern sich zurückgehalten hatte, denn er konnte sich von dem Gedanken nicht trennen, daß die Tochter eines in Paramaribo geborenen Mannes ganz anders aussehen müsse, als andere Menschen. Er merkte sich den Namen und stieg, mit seinen Gedanken jenseits des atlantischen Oceans umherschweifend, die Kuppe des Hügels vollends hinauf.

Hier befindet sich ein sogenanntes Observatorium, das gewöhnlich Jedermann zugänglich ist. Vor dem Kranze des ungemein vortheilhaft gelegenen Thurmes übersieht man eine Menge blühender Dörfer, einen großen Theil der Lausitz und Schlesiens, und die malerischen Gebirgskämme von der sächsischen Schweiz bis zur Schneekoppe. Leider fand Fürchtegott heute die Thurmthür verschlossen. Der scharfe, kalte Novemberwind, der auf dieser Höhe äußerst empfindlich war, verminderte den Genuß der nach allen Seiten hin eben so reichen als entzückenden Aussicht. Der Horizont war allerdings nicht ganz wolkenfrei; Nebelmassen verhüllten die höheren Bergkuppen oder ließen doch einzelne Gipfel nur auf kurze Zeit aus dem gräulich schimmernden Dunststreifen emportauchen. Auch die übrige Landschaft hatte in der nebligen Herbstluft ein recht melancholisches Ansehen. Nur der hohe Kottmar, in vorchristlicher Zeit ein heiliger Opferberg der Sorben-Wenden, stand von hellem Sonnenschein übergossen, in seiner eigenthümlichen Gestalt, wie ein großer vergoldeter Sarg in der Ebene. Gegen Nordost, im breiten Thale, lag das freundliche Bertholdsdorf, gegen Norden an der damals noch halsbrecherischen Landstraße das weitgestreckte Strawalde mit zwei großen herrschaftlichen Gehöften. Die hohe, mit dünnem Kiefergebüsch bedeckte Ebene, welche den seltsamen Namen »der Todten« führt, begrenzte die Aussicht.

Fürchtegott, von Jugend auf an malerische Landschaften gewöhnt, ward es bald müde, in der kältenden Herbstluft und unter grauer Wolkendecke eine Gegend länger zu betrachten, die ihm bekannt und gleichgiltig zugleich war. Auf dem Bethause schlug es die eilfte Vormittagsstunde, zu Mittage hatte ihn Martha wieder bestellt, mithin war noch eine volle Stunde auf irgend eine Art hinzubringen. Wie gern wäre der weltlich gesinnte Jüngling in ein Wirthshaus getreten, hätte es nur ein solches in der Nähe gegeben. Die Brüdergemeinde duldet aber innerhalb ihres Wohnortes kein Schenkhaus, da sie einen Verkehr in derartigen Etablissements mit ihrem Begriff von Religion und Sittlichkeit nicht vereinigen zu können glaubt. Fürchtegott war daher gezwungen, ohne Aussicht auf irgend welche Zerstreuung, in den stillen, ja traurigen Ort zurückzukehren.

Um doch einige Abwechselung zu haben, schlug er einen außerhalb der Häuser sich fortschlängelnden Fußpfad ein, der sich gegen Süden in dunkle Fichtenwaldung verlor. Auf dieser Seite stößt noch heutigen Tages der Wald fast bis an die ersten Häuser Herrnhuts. Es ist die Gegend, wo im Jahre 1772 unter den Axtschlägen der aus Mähren einwandernden Brüder der erste Baum zur Erbauung des später so berühmt und wichtig gewordenen Ortes fiel. Eine einfache, fast verwitterte Tafel bezeichnete damals die denkwürdige Stelle, welche seit dem hundertjährigen Jubiläum der Gründung Herrnhuts ein einfacher Denkstein schmückt.

Nach halbstündigem Umherstreifen betrat Fürchtegott zum zweiten Male an diesem Tage den todtenstillen Orte. Einige Gärten, sehr sauber gehalten und von hohen, glatt geschnittenen Buchenzäunen eingefaßt, trennen die reinlichen Gassen von dem rauschenden Gebüsch. Unter diesen ward der Reuß'sche Garten von den damaligen Herrnhutern für eine Zierde des Ortes gehalten. Obwohl kein öffentlicher Spaziergang, war es doch Niemand verboten, die breiten, mit graugelbem Granitsande bestreuten Gänge zu betreten und auf viel gewundenen Pfaden bis an den Waldsaum fortzuwandeln, wo eine Einsiedlerhütte, aus Birkenrinde erbaut, einen köstlichen Blick auf das fruchtbare, stark angebaute und dicht bevölkerte Land gewährte.

Unser junger Freund kannte nur die weiten, mit Blumenbeeten, Obstbäumen und Küchengewächsen sehr sparsam gepflegten Gärten, welche Gesammteigenthum der Gemeinde sind, und in den Mittags- und Abendstunden von dieser als öffentliche Promenade benutzt werden. Das offen stehende Gitterthor reizte zum Eintritt, und da er hinter den hohen Taxuswänden Schutz gegen den immer heftiger werdenden Wind zu finden hoffte, so zauderte er nicht, seinen Spaziergang in dem einladenden Garten fortzusetzen.

Das nicht große, aber doch im Styl einer Villa erbaute Gartenhaus mit hohen Fenstern und breiter Thür, zu der einige Granitstufen führten, galt in Herrnhut für einen Palast und ward deßhalb für gewöhnlich nur das gräfliche Palais genannt. Es hatte den Namen von seinem Erbauer, einem Grafen Reuß, dessen Familie es noch besaß. Einige Mitglieder dieses Geschlechtes waren den Lehren und Grundsätzen der Brüdergemeinde innig zugethan, ja ein Graf dieses Namens, sagte man, habe längere Zeit den erwähnten Garten als Bruder der Gemeinde bewohnt. Auch jetzt stand die Villa nicht leer, wie die glänzenden Fensterscheiben und feinen Gardinen verriethen. Wie im ganzen Brüderorte, war auch hier tiefe Stille, gleichsam die Ruhe eines ewigen Friedens vorherrschend. Man sah nirgends einen Menschen, hörte weder innerhalb noch außerhalb des Hauses Geräusch, obwohl überall Spuren ordnender Hände sichtbar wurden.

Angesprochen von diesem Geiste zierlicher Ordnung wandelte Fürchtegott einige Gänge auf und nieder. Baum- und Blumenanlagen, obwohl von der Kälte des Herbstes zum größten Theile schon zerstört, zeugten von Geschmack und setzten einen verständigen Gärtner voraus. Die beschnittenen, hie und da in Pyramiden zugespitzten Hecken abgerechnet, waltete in den übrigen Anlagen mehr der Geist englischer Gärtnerei vor.

Fürchtegott, der sich fortwährend mit allerhand Speculationen trug und ungeachtet seiner praktischen Richtung doch gern das Angenehme mit dem Nützlichen verband, entwarf einen Plan, wie er früher oder später seinen Vater zu einer ähnlichen Gartenanlage bewegen wollte. Darüber nachsinnend erreichte er die erwähnte Einsiedelei. Es schien ihm, als sei die Thür nur angelegt. Die jugendliche Neugierde reizte ihn, das Innere der von Außen so unscheinbaren Hütte zu betreten. Er klinkte und die Rindenthür gab seinem Drucke nach. Ueberrascht, verwirrt, ja beschämt blieb er auf der Schwelle stehen, als er in dem zierlich meublirten, engen Gemache, dessen bunte Scheiben eine farbige Dämmerung hervorbrachten, zwei Männer in emsigem Gespräche begriffen erblickte. Zu seiner Beruhigung erkannte Fürchtegott alsbald in einem derselben den Freund seines Vaters, Kaufmann Wimmer, der Andere war ihm fremd, und die vornehm stolze Haltung desselben vermehrte noch seine Schüchternheit.

Die Männer brachen ihr Gespräch ab und Fürchtegott fühlte seine Befangenheit einigermaßen schwinden, da Wimmer ihn mit gewohnter Freundlichkeit grüßte und mit dem nur ihm eigenen sanften und doch wieder so überlegenen Lächeln zu dem Fremden sagte:

Der junge Ammer, Herr Graf, den Sie aus meinen Gesprächen bereits kennen.

Sofort begrüßte der Fremde den schüchternen Jüngling sehr herablassend und reichte ihm die Hand.

Graf Alban, sprach Wimmer, ein uneigennütziger Freund und Beschützer unserer Gemeinde.

Fürchtegott erinnerte sich jetzt, diesen Namen schon früher gehört zu haben, nur wunderte er sich über die Tracht des Grafen, die beinahe der eines vornehmen katholischen Geistlichen glich. Er war ganz schwarz gekleidet, trug feine seidene Strümpfe und Schuhe mit glänzend silbernen Schnallen. Der dreieckige Castorhut, den er grüßend gesenkt in der Hand hielt, machte die Aehnlichkeit noch täuschender. Indem er jetzt sein fast schneeweißes Haupt mit dem Hute bedeckte und Wimmer den Arm reichte, sagte er mit liebevoller Stimme:

Lassen Sie uns aufbrechen, lieber Bruder. Ihr junger Freund hat vielleicht Eile, und Sie wissen, daß ich Geschäfte nicht gerne störe.

Beide Männer durchschritten hierauf die nächsten, nach dem Gartenhause führenden Gänge. Fürchtegott folgte in bescheidener Entfernung. Am Gitterthor verabschiedete sich der Graf, indem er zu dem Jüngling gewandt sagte:

Vielleicht sehen wir uns bald wieder, junger Mann. Sie sind mir kein Fremdling, und Herr Wimmer hat, wenn Sie es wünschen sollten, Auftrag, uns näher mit einander bekannt zu machen.

Er grüßte wiederholt erst den Kaufmann, dann den jungen Ammer und schritt hierauf mit etwas gesenktem Kopfe nach der Villa, in deren Thür er wie eine Erscheinung verschwand.

War dies Graf Alban, der Reisende? fragte Fürchtegott den Herrnhuter. Ich bin recht erschrocken und fürchte eine Unschicklichkeit begangen zu haben.

Darüber sei unbesorgt, junger Freund, versetzte Wimmer. Der Graf ist weder stolz, noch ceremoniös. Sein Aufenthalt unter den wilden Völkerstämmen der Südseeinseln hat ihn gelehrt, die Menschen zu nehmen, wie sie sind, nicht die Schaale, sondern den Kern zu betrachten. Aber wie kam es, daß du mich hier aufsuchtest?

Fürchtegott erzählte, wie er vor einigen Stunden angekommen sei, ihn nicht zu Hause getroffen habe, und wie der Zufall ihn später in diesen Garten geführt. Wimmer lächelte und sagte bedeutungsvoll:

So führt der Herr die Seinen! Auch der Zufall ist immer eine Schickung, von der wir nicht wissen, wie wichtig, wie einflußreich sie für unser ganzes Leben werden kann! Du bist vom Glück begünstigt, wie Wenige. Wen Graf Alban so freundlich anredet, der kann seiner Aufmerksamkeit nicht mehr entgehen.

Wie kommt es aber, Herr Wimmer, daß Sie meiner gegen ihn erwähnt haben? fragte etwas beklommen der junge Ammer.

Es ist ganz einfach, erwiderte dieser. Als ich vor zwei Monaten unsere Waarensendung nach Amerika betrieb, die nun bereits unterwegs ist und, so Gott und der Heiland uns begnadigen, glücklich in der neuen Welt ankommen wird, besuchte mich Graf Alban und fragte mich, was mich so lange von seinem Hause ferne gehalten habe? Als einem treuen, erprobten Freunde theilte ich ihm unser Unternehmen mit. Dein und deines Bruders Name konnte dabei nicht verschwiegen bleiben, und der für Menschenwohl wie für unternehmende Köpfe gleich begeisterte Mann war hoch erfreut über deinen Muth. Schon damals sprach er wiederholt aus, daß er dich und alle deine Unternehmungen unterstützen werde, was ihm vermöge seines geachteten Namens und seiner weit verbreiteten Verbindungen wegen leicht ist, und ich mußte ihm versprechen, dich bei nächster Gelegenheit ihm vorzustellen.

Fürchtegott's jugendliche Eitelkeit fühlte sich dadurch nicht wenig geschmeichelt. Er wünschte lebhaft, den Grafen nochmals zu sehen, zu sprechen, und hätte er es nicht für unschicklich gehalten, so würde er den Herrnhuter sogleich gebeten haben, ihm noch heute Gelegenheit dazu zu verschaffen.

Inzwischen hatte Wimmer seine Behausung erreicht, wo die Haushälterin bereits ihren Herrn erwartete. Fürchtegott mußte sein einfaches Mahl mit ihm theilen, an dem diesmal auch der Buchhalter Theil nahm.

Eigentlich, sagte der Herrnhuter über Tische, eigentlich haben wir heute keinen Geschäftstag. Du mußt es schon an der überaus großen Ruhe bemerkt haben, die unsern stillen Ort erfüllt. Wir nehmen es jedoch nicht allzu streng mit solchen außergewöhnlichen Ruhetagen, weßhalb es Jedermann gestattet bleibt, je nach Bedürfniß dringende Geschäftsangelegenheiten zu erledigen. Dein Vater, mein wackerer Freund, soll daher nicht unter unsern frommen Gewohnheiten leiden. Seine Briefe werden beantwortet, seine Aufträge besorgt werden. Läßt sich doch Alles, wenn man es nur einzurichten versteht, ohne großes Geräusch abmachen. Du mußt nämlich wissen, mein junger Bruder, daß wir heute ein großes allgemeines Liebesmahl halten. Denke dir darunter kein Schwelgen in Speise und Trank, wie dies bei weltlicher gesinnten Christen wohl bisweilen vorkommt. Wir genießen mehr geistig als leiblich, wohl eingedenk der Worte des heiligen Evangelisten Johannes, der die Liebe unter Brüdern für die höchste und edelste Tugend erklärte. – »Liebet euch unter einander, liebe Brüder!« sprach der fromme, geistig milde Greis, wenn er die Versammlungen der Gemeinde besuchte. An dieses Wort hält sich auch unsere kleine Gemeinde, und um einem so erhabenen Vorbilde ähnlich zu werden, bemühen wir uns, soweit die menschliche Unvollkommenheit es zuläßt, dem großen Evangelisten nachzueifern. So sind denn unsere Liebesmahle im eigentlichen Sinne des Wortes gemeinschaftliche Vereinigungen zu dem Behufe, sich in brüderlicher Liebe zu nähern, sich des Begriffes, der Bedeutung der Bruder- und Schwesterliebe recht bewußt zu werden. Und glaube mir, junger Freund, es verläßt Keiner diese friedliche Versammlung, ohne sich gestärkt zu fühlen zur Ertragung aller Mühen und Lasten, die ihm das Leben aufzubürden für gut befindet!

Fürchtegott fragte theilnehmend, in welcher Weise diese Liebesmahle begangen würden, ob bloß Männer oder auch Frauen sich dabei einfänden? Wimmer versuchte es, dem Jünglinge eine Vorstellung davon beizubringen, und schloß mit der Aufforderung, dem Mahle selbst mit beizuwohnen.

Ist dies erlaubt? fragte Fürchtegott.

Die Brüder sehen es sogar gern, erwiderte der Kaufmann. Wir erblicken mit Recht in solchen Theilnehmenden Gleichgesinnte, Menschen, die unser Streben billigen, uns selbst als Brüder umarmen. Und das heutige Liebesmahl ist vorzugsweise interessant, schloß Wimmer. Zwei Missionäre, vor Kurzem nach des Heilandes Willen durch das Loos mit zwei jungen Schwestern verheirathet, nehmen Abschied von der Gemeinde, um schon morgen auf unbestimmte Zeit in ferne Länder zu gehen. Einer, der Aeltere, ein Bäcker seines Gewerbes, ist nach Paramaribo bestimmt. –

Nach Paramaribo? fiel Fürchtegott ein.

Ja, ja, nach Paramaribo in Südamerika, wiederholte Wimmer. Es ist freilich eine weite Reise bis dahin, aber dem Schwachen, der sich Gottes Leitung vertraut und der Gnade unseres Heilandes, wird Alles, auch das Schwerste, leicht und süß. Der Jüngere wird den Indianern am Fuße der unwirthbaren Felsengebirge das Christenthum predigen. Es ist gar rührend und erbaulich, liebe Brüder, die Gottes Stimme folgen, in Demuth und Ergebenheit aus unserer Mitte scheiden zu sehen. Wäre ich nicht so alt und hinfällig, wahrlich auch ich könnte mich noch entschließen, als Prediger der Liebe in die Wüste unter Barbaren und Menschenfresser zu gehen.

Obwohl dem frömmelnden Wesen entschieden abhold, das dem bei weitem größten Theile der damaligen Herrnhuter anklebte, versprach sich Fürchtegott doch eine Unterhaltung eigenthümlicher Art bei solchem Mahle. Außerdem übte das Wort »Paramaribo«, so wenig bewandert er in der Geographie Amerika's war, einen geheimnißvollen Zauber auf ihn aus, und als müsse er etwas ganz Unerhörtes erleben, oder als könne ihm ein unerwartetes großes Glück in der Versammlung der frommen Herrnhuter erblühen, ergriff er den Vorschlag seines väterlichen Freundes mit Lebhaftigkeit.

Wimmer schien über diese Bereitwilligkeit des jungen Ammer, mit ihm das Liebesmahl der Brüder zu genießen, sehr erfreut, pries von Neuem das Glück eines christlichen, stillen, der Milde und Liebe gewidmeten Lebens, und verschwieg nicht, daß er wünsche, auch er möge zu der Ueberzeugung kommen, daß nur innerhalb der Herrnhuter Brüdergemeinden die wahre und segenbringende Nachfolge Christi zu finden und zu erreichen sei. Fürchtegott war zwar ganz entgegengesetzter Meinung, er hütete sich aber, dem eifrigen Herrnhuter zu widersprechen, da er dessen Ergebenheit und Zuneigung nicht entbehren konnte, wollte er wirklich das Ziel erreichen, das ihm Tag und Nacht in tausend farbig schimmernden Gestalten vor Augen schwebte.

Der Beginn des Liebesmahles war auf Abends fünf Uhr festgesetzt. Wimmer fürchtete seinen jungen Freund bis dahin nicht genügend unterhalten zu können und fragte deßhalb, ob es ihm wohl angenehm sei, inzwischen einige Baulichkeiten des Brüderortes kennen zu lernen? Fürchtegott ging gern auf diesen Vorschlag ein. Ihm waren bisher nur die Aeußerlichkeiten des städtisch erbauten Dorfes, von dessen inneren Einrichtungen dagegen gar nichts bekannt.

Du triffst es gut, sagte Wimmer, mit seinem Gaste durch die rein gefegten Straßen schreitend. Wie du in allen Dingen Glück hast, so ist es dir auch günstig bei geringfügigen Sachen, woraus ich schließe, daß dich Gott in seiner Weisheit zu Großem bestimmt hat! – Ich werde dich in das Brüderhaus führen, mein Lieber, damit du eine Vorstellung bekommst von der brüderlichen Eintracht und hohen Milde, die uns Alle verbindet und zu gottgefälligem Leben anspornt. Du findest die Brüder heute alle beisammen, und da Niemand verpflichtet ist, sein Geschäft zu betreiben, obwohl auch Niemand daran verhindert wird, so können wir, ohne Störung zu verursachen, sämmtliche Werkstätten besuchen.

Es wird dir bekannt sein, fuhr der Herrnhuter nach einer Pause fort, daß alle unverheirathete Brüder, wenn sie nicht, wie es bei mir der Fall ist, durch ihren Geschäftsbetrieb daran verhindert werden oder doch eine abgesonderte Wohnung vorziehen sollten, unter einem Dache leben. Gebet und Arbeit beginnt man zu gewissen Stunden in liebevoller Gemeinschaft, auch die Ruhe nach gethaner Arbeit behält den Charakter geselliger Verbrüderung. Ganz in gleicher Weise leben die unverheiratheten Schwestern, denen wir, sollte die Zeit es erlauben, auch noch einen Besuch machen können. – Ja, mein junger Freund, die weisen Gründer unserer Gemeinde, die eigentlich von jeher die wahren Nachfolger der Apostel und Evangelisten, also die unverfälschtesten, treuesten Jünger Christi waren – denn der Ursprung der mährischen Brüder verliert sich in das graueste Alterthum – diese weisen Männer haben erreicht, was den egoistischen Papisten durch Gründung ihrer Klöster niemals möglich geworden ist. Unsere Brüder- und Schwesterhäuser sind die natürlichsten Versorgungsanstalten, welche Gemeinsinn, Liebe zu einem Leben voll Milde und Thätigkeit, und Streben nach körperlicher, geistiger und sittlicher Bildung erfinden konnten. Von dem verwirrenden, Geist und Herz beunruhigenden und den ganzen innern Menschen nur zu sehr zerstreuenden Geräusch der Welt geschieden, bleiben unsere Brüder und Schwestern dem Leben doch immer zugewandt. Nicht in Müssiggang, in trägem Hinbrüten, sondern in nützlicher Thätigkeit, die Jeder nach Neigung und Talent sich frei wählen kann, suchen wir die Bestimmung des Lebens zu erfüllen. Wir schließen uns weder ab von der Welt, noch fliehen wir den Umgang der Geschlechter. Nur wer den Beruf in sich fühlt, oder wer durch Krankheit des Körpers, durch Abspannung der Kräfte seines Geistes verhindert ist, der Welt seinen Tribut zu zahlen, nur der lebt still, gepflegt von der Liebe seiner Brüder, dem Gebet, der Prüfung und Vorbereitung auf seine irdische Auflösung. Und wie schön, wie tief und wahr ist die Einrichtung, daß Brüder und Schwestern sich nur durch Gottes heilige Gnadenwahl ehelich verbinden!

Fürchtegott warf die Bemerkung dazwischen, daß bei dieser allerdings bequemen Einrichtung das Herz doch wohl zuweilen zu kurz kommen möge.

Glaube das nicht, junger Freund, erwiderte Wimmer. Nichts ist leichter zu täuschen, zu hintergehen, als das Herz; kein Glied des menschlichen Körpers ist verdorbener und größerer Schlechtigkeiten fähig, als diese unruhig klopfende Muskel! Wir armen blöden Thoren halten uns für beglückt, für beseligt, wenn ein paar muntere Mädchenaugen unser Blut rascher aufwallen machen; wir nennen's Neigung, fühlen wir diese angenehmen Bebungen des Herzens sich wiederholen, und steigert sich der anfangs nur flüchtige Reiz zu süßer gegenseitiger Dauer, so schwören wir, daß es Liebe sei, und ein Bund für's Leben ist gewöhnlich die Folge davon. Arme verblendete Thoren! – Wer zählt die unseligen Ehebündnisse, deren reizender Deckmantel die sogenannte Liebe war und die doch ein koketter Augenwink knüpfte? Wer kann mir die Zahl der unglücklichen Frauen nennen, denen falsche, erheuchelte Männerliebe das Herz brach, das Leben zur Hölle machte? – Und doch behaupten Alle, die Liebe und nur sie allein sei Ursache und Zweck des lebenslänglichen Bundes gewesen! Ich sage dir, lieber junger Bruder, es gibt keine Liebe außer der Gnade Gottes! Jene Liebe der Welt, jene profane, sündhafte Liebe, welche aus sinnlichem Reiz den Mann zum Weibe, das Weib zum Manne zieht, ist verwerflich und findet vor Gott kein Erbarmen. Im Himmel, spricht die Schrift, werden Ehen geschlossen, d. h. durch Gottes unmittelbare Wahl und Gnade. Wer nicht in dieser Gnade ist, der lebt auch nicht in der wahren Liebe. Darum bestimmt bei uns das Loos, das wir unter Gebet und Anrufung Gottes ziehen, die Wahl der Gattin, und noch nie hat man gehört, daß eine so geschlossene Ehe Unglück nach sich gezogen hätte. In Sitte und Ehrbarkeit leben die Gottgewählten neben einander, so lange der Heiland es will. Aufregung und Leidenschaft bleiben ihnen fern, die Milde nur und die Demuth behüten Haus und Familie.

Von Liebesqualen war der junge Ammer noch nicht gepeinigt worden, wenn er aber seiner Schwester und ihres bis jetzt sorgsam geheim gehaltenen Verhältnisses mit Albrecht Seltner gedachte, wollte es ihm doch scheinen, als ob der kluge Herrnhuter mit seinen Ansichten von Macht, Glück und Reiz der Liebe nicht ganz auf dem rechten Wege sei. Daß es keine Leidenschaft geben solle, wollte dem Jünglinge, in dessen Brust ein ganzes Heer unklarer Leidenschaften tobte, nicht einleuchten, und daß ein Blick aus schönen Augen nothwendig unglückliche Ehen nach sich ziehen solle, hielt er für eine arge Verleumdung des schönen Geschlechtes. Ihm hatten, das wußte Fürchtegott bestimmt, bis jetzt freundliche Blicke hübscher Mädchen immer sehr wohl gethan, selbst ein rascheres Klopfen seines Herzens hatte er dabei gefühlt, außer unruhigen Träumen aber keine nachtheiligen Folgen davon bemerkt. Dagegen erneuerte sich immer wieder das wohlthuende Gefühl angenehmen Reizes, so oft er mit junger Mädchenwelt zusammentraf. Er glaubte daher dem predigenden Herrnhuter nicht Unrecht zu thun, wenn er dessen Verketzerungen der Liebe für Grillen eines melancholisch gewordenen alten Junggesellen hielt, an denen Neid und Aerger wohl gleichen Theil haben mochten.

Der Eintritt in das von Außen sehr unscheinbare Brüderhaus machte den belehrenden Gesprächen Wimmer's ein Ende. Der angesehene Kaufherr ward mit größter Zuvorkommenheit von dem Brüderältesten begrüßt, der sich sofort selbst zum Begleiter anbot. Fürchtegott konnte mit Muße die ebenso einfachen als zweckmäßigen Einrichtungen betrachten. Reinlichkeit, Verschmähung jeglichen Schmuckes und Solidität: nach diesen drei Principien schien das Leben der Brüder geordnet zu sein. Höher Gebildete würden vielleicht einen auffallenden Mangel an Geschmack oder richtiger an feinerem Kunst- und Schönheitssinne bemerkt haben. Die fehlenden Zierden an häuslichen Geräthen und Möbeln hätte man allenfalls entbehren können, daß aber alle Zimmer, zumal die zu gemeinschaftlichem Gebrauch bestimmten, nur mit grauweißem Kalk ausgestrichen waren, ohne irgend eine in dieser endlosen flachen Wüste angebrachte Schattirung, beleidigte das Auge. Fürchtegott selbst fand es nur wunderlich und machte gegen Wimmer eine darauf bezügliche Bemerkung.

Wir Brüder verschmähen alle Eitelkeit der Welt, versetzte der Herrnhuter. Schmucklos, wie unser Herz vor Gott sein soll, muß es auch unsere irdische Hütte sein.

Als sie den Betsaal betraten, begleiteten sie mehrere Brüder. Auch hier störte den jungen Ammer, obwohl er sich keine Rechenschaft darüber geben konnte, dies langweilige Grauweiß, das sich sogar bis auf Bänke und Sessel erstreckte. Die Tracht der Brüder paßte allerdings zu diesem farblosen Anstrich. Sie bildeten in ihren grauen Röcken den Schatten und bewegten sich wirklich etwas gespensterhaft in dem ansehnlichen Raume.

Mein Gott, sprach Fürchtegott mit beklommenem Herzen zu sich selbst, wenn die wahre Frömmigkeit, wenn gottgefälliges, brüderliches Zusammenleben in dem besteht, was ich hier sehe, so muß unser lieber Herrgott ein außerordentlicher Verehrer der gähnendsten Langeweile sein. Wenn ich hier zwischen diesen vier weißen Wänden, unter diesen stillen, lammfromm und auch etwas albern aussehenden, schattenhaften Gestalten beten sollte, würde ich ohne allen Zweifel ein Langschläfer. Bei Gott, ich fühl' es ordentlich, wie mir die Augen innerlich schon zufallen, und wie Alles um mich her eine laute Aufforderung zu herzhaftem Gähnen zu werden beginnt!

Besser gefiel es dem jungen Ammer in den verschiedenen Werkstätten. Hier waren auch die Brüder menschlich zugänglicher, nicht umflossen von dem trüben Dunstschein, der sie jederzeit umgab, wenn sie von Religion und Gottanbetung sprachen. War diese tiefe Demuth, dies Aufgehen in süßer Heilandsliebe bei Vielen auch nicht gemacht, so erschien es dem Nichtherrnhuter doch immer wie angelernt. Es mit Natur und Wesen so zu verschmelzen, daß ein harmonisches Ganze daraus entstand, wollte nur sehr Wenigen gelingen.

Ueber Technik, über Handwerksvortheile, über künstlerisches Bilden und Formen sprachen alle Brüder, je nachdem sie dieses oder jenes Geschäft betrieben, klar verständig und mit jenem edlen Stolze, den gesundes Nachdenken immer gibt. Fürchtegott verweilte deßhalb längere Zeit in den Arbeitszimmern der Drechsler, Tischler, Böttcher. Nirgends hatte er noch so gelungene Arbeiten, nirgends so vortreffliche Instrumente gesehen. Ueberall herrschte eine musterhafte Ordnung, die selbst durch Betreibung des Geschäftes nicht unterbrochen ward. Es leuchtete ihm jetzt ein, wie die Herrnhuter sich den Ruf der geschicktesten Arbeiter erwerben und erhalten konnten. Ihre Gesetze verbieten den Handel, insofern er zum Schacher wird. Ein mäßiger, zu Mühe, Arbeit und Aufwand im Verhältniß stehender Gewinn ohne Aufschlag, ist den Brüdern gestattet, und da Niemand durch sie betrogen wird, so setzen auch die Käufer kein Mißtrauen in die Preise ihrer Waaren.

Mehr noch als die Werkstellen der Holzarbeiter, setzten Fürchtegott die Ateliers der Gürtler, Uhrmacher, Gold- und Silberarbeiter in Erstaunen. Was er schon bei den Tischlern bemerkt hatte, daß sie nämlich mit weit mehr Geschmack und dabei mit größerem Verstande die Holzarten wählten, als ihre Mitgenossen in andern Orten: dies fand er bei den Goldarbeitern in noch höherem Grade. Die Fassung edler Steine war immer geschmackvoll, ansprechend und dabei doch solid, größere Gebilde des edlen Metalles konnten sogar für wirkliche Kunstwerke gelten. Es wäre kaum zu begreifen gewesen, wie Menschen, die in ihrem Anzuge und in ihren Wohnungen so ganz allen Geschmackes baar erscheinen, in den Gebilden ihrer Hände den damals höchsten Anforderungen geläuterten Kunstsinnes entsprechen konnten, hätte man jenen Ungeschmack nicht ihren sonderbaren Ansichten vom Zweck und Wesen des Christenthums zu Gute halten müssen.

Unbemerkt waren dem aufmerksamen Beobachter rasch ein paar Stunden vergangen. Fürchtegott verließ das Brüderhaus mit ungeheuchelter Achtung vor der Geschicklichkeit, der Ordnungsliebe, dem Rechtlichkeitssinne der Herrnhuter. Es freute ihn, sich gewissermaßen diesem geräuschlos wirkenden Bunde trefflicher Männer durch seine Verbindung mit Wimmer beizählen zu können, und wenn er schon weder Trieb noch Neigung in sich laut werden fühlte, der Gemeinde als Bruder anzugehören, so ließ sich doch das Bedürfniß, in ihr geheimes Leben und Wirken tiefer einzudringen, nicht ganz abweisen.

Es dämmerte bereits stark, als Fürchtegott in seiner Art vollkommen befriedigt und zu mannigfachen Gedanken angeregt, die Wohnung seines Gastfreundes wieder betrat. Einzelne Bewohner des Ortes waren ihnen unterwegs schon begegnet, die alle still, demüthig, ernst gestimmt zum Liebesmahle gingen. Wimmer legte schnell sein braunes Festtagsgewand an und führte den jungen Ammer nach dem mitten in der Niederlassung befindlichen Versammlungsorte.


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