Ludwig Tieck
Gedichte
Ludwig Tieck

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34. SienaIn der Landschaft Toscana, südlich von Florenz, ostsüdöstlich von Livorno. Die Szene des Gedichts ist ein Gasthof, in dem sich ein Improvisator hören läßt.

    Wie ich wieder auf die Gasse trete,
Aus dem hell erleuchteten Saal,
Ist mir, als sei ich gewürdiget worden,
Eine Götterversammlung zu schau'n.
Oft schon vernahm ich in Rom
Des Improvisatoren Kunst,
Und mehr oder minder gerührt,
Erfreut, gelangweilt oft,
Verließ ich die Akademie.Im Italienischen jeder Ort, wo man sich zu gelehrten, litterarischen, künstlerischen Zwecken versammelt
Ein Aufruf zieht mich heut' in diese Zimmer,
Und ein Jüngling wandelt sinnend auf und ab,
Allgemach füllt sich der Raum,
Und Herren und ältliche Frauen,
Vor allen aber junge, blühende Mädchen
Schmücken die Sessel umher.
Vor mir prangen zwei Schönen,
Daß das Auge, geblendet
Von glänzenden Schultern, Nacken und Brust,
Scheu sich niederschlägt und immer wieder
Dem Quell der Vollendung entgegeneilt.
Aber welche Schönheit der Form!
Pallas wähn' ich und Juno zu schaun,
Des Olympus Götterbilder.
Und wie ich frage und scheu nur antworte,
Erglänzt im freundlichen Gespräch
Der edle Geist im geflügelten Wort,
Von glänzenden Lippen und Augen.

    Jetzt beginnt des Sängers Lied;
Der Kampf und Tod der thebanischen Brüder,
Eteokles und Polynikes,Bekanntlich Söhne des Ödipus, der seine eigne Mutter Jokaste geheiratet hatte. wird
Ihm zum Thema gewählt.
Leichte Akkorde des Flügels begleiten die Rede,
Und er hebt an:

    Erst, wie die Zwietracht sie entfernte,
Die Sprossen des schuldbelasteten Bettes,
Des eigenen Vaters Söhn' und auch Brüder,
Dann wie die Furie eifriger schon
In Haß und Wut den Widerwillen wandelt.
Endlich beginnt der tödliche Kampf,
Jeder bereit, den blutsverwandten Gegner
Zu den Schatten hinab zu senden.
Panzer und Schilde schirmen zuerst
Das Bruderherz gegen des Bruders Schwert,
Doch endlich fängt der Leib
Die roten Wunden auf,
Keiner will merken, wie mit dem Blut
Die Kraft ihm entströmt,
Jeder trotzt der eignen Schwäche und höhnt den Schmerz,
Facht doch des Feindes Augenglanz
Den matter brennenden Haß,
Daß er nicht erlösche.
Der tödliche Stahl hat schon sie durchbohrt,
Der jüngere stürzt zuerst,
Der ältere ihm nach, mit Lächeln im Antlitz,
Als hätt' er gesiegt:
Regungslos liegen sie da,
Zwei atmende Leichen,
Kein Schwert erreicht das andere mehr,
Kein Arm mehr zuckt,
Die Blicke suchen sich feindlich im Todesdunkel,
Und nur der Wille noch schlägt und mordet,
Der Seufzer verwünscht noch;
Jetzt atmen sie das letzte Röcheln,
Und die beiden Blutströme
Rinnen ineinander,
Nur eine Röte:
Ist es neuer Kampf und nach dem Tode Wut,
Ist es die Sühne des Bruderherzens?

    Es wuchs die Stimme mit jedem Vers,
Begeistrung erhob den trunknen Jüngling,
Sein Auge Feuer, Wohllaut sein zitternder Mund,
Nicht sann er mehr, nicht kannt' er
Die Flammen, die aus seinem Busen sprühten.
Und aller Augen im Saal
Erglänzten hell wie die seinen,
Und Thräne fiel auf Thräne
Aus den schönsten nieder.

    Wie? Auch Pallas und Juno weinen?
Da sah ich in ein liebliches Bad,
In welchem Amor die Flügel netzte,
Da senkt' er seinen Pfeil ins Thränenlächeln,
Und ich mußte entfliehn;
Denn niemals soll ein Sterblicher
Den Kampf mit Göttern wagen.


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