Ludwig Tieck
Gedichte
Ludwig Tieck

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32. Der Morgen.

    Wieder durchwandl' ich
In früher Morgenkühle
Den Berg und klettre hinauf und ab,
Ganz den Segen fühlend der Natur.
Da tönt von oben
Seltsamen Klanges
Das Lied einer Hirtenpfeife,
Und alsbald seh' ich in Sprüngen
Nach dem Takte tanzend
Die muntre Ziegenherde
Von der Felsentreppe niedergaukeln,
Mit klugem Aug' und feinem Fuß
Die Sprünge sicher messend.
Der Führer der Schar,
Ein brauner, kleiner Knabe,
Musiziert ernst mit voller Kraft
Und freut sich seiner Scholaren.
Doch wie er nieder hüpft
Und den Fremden gewahrt,
Steckt er alsbald,
Sein Lied abbrechend,
Die Flöte schnell und scheu in die Hirtentasche.
Ich red' ihn an, und errötend
Lüftet er den Hut, und blondes Haar
Rollt sich um die braunen Wangen;
Er atmet schwer und blickt von der Seite scheu.
»Zeige mir«, bitt' ich, »die Pfeife,
Die ich noch nie von dieser Form gesehn,
Sowie ich auch noch nie
So wunderlichen Ton vernommen.«
Er hält mit beiden Händen fest
Die Hirtentasche geschlossen
Und ruft mir ein dreistes Nein entgegen.
Was ich überrede und schmeichle,
Alles vergebens,
Der Kleine beharrt auf seinem Eigensinn;
Mein Geschenk verweigert er fest
Und steht auf dem Sprung,
Seinen Ziegen zu folgen,
Die von den nächsten Klippen
Fragend zu ihm herübersehn. –
»So sage mir mindestens,
Warum ich die Pfeife nicht betrachten darf?« –
Und er mit großen Augen:
»Wer eine solche Flöte,
So schön und herrlich,
Einmal in Händen hat,
Gibt sie niemals zurück.« –
Mit dem scheuen Worte
Rennt er über die Steine fort,
Und erst in der Ferne
Tief unten im Thal
Erklingt sein muntres Morgenlied von neuem.


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