William M. Thackeray
Die Geschichte von Pendennis / Band 2
William M. Thackeray

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Sechstes Kapitel

Alte und neue Bekanntschaften

Erhoben durch die Idee, das Leben kennen zu lernen, ging Pen in hundert wunderliche Londoner Orte. Er gefiel sich in dem Gedanken, daß er sich allen Arten von Menschen anpaßte – so sah er denn Kohlenträger in ihren Schänkstuben, Boxer in ihren Gasthofszimmern, wackere Bürger, die sich in den Vorstädten oder auf dem Flusse belustigten, und hätte gern mit berühmten Taschendieben die Gläser angestoßen oder mit Hausdieben und Einbrechern einen Topf Ale getrunken, wenn ihm der Zufall die Gelegenheit verschafft hätte, die Bekanntschaft dieser Gesellschaftsklasse zu machen. Es war prächtig, den Ernst anzusehen, mit dem Warrington dem Tutbury Pet oder dem Brighton Stunner im Champion's Arms lauschte, und das Interesse zu erblicken, das er an der Kohlenträgergesellschaft in Fox-under-the-Hill nahm. Seine Bekanntschaft mit den Schänken der Metropole und ihrer Nachbarschaft und mit den Besuchern ihrer verschiedenen Trinkstuben war ungeheuer groß. Er war der persönliche Freund des Wirtes und der Wirtin, und am Schänktische wie im Klubraum gleich willkommen. Er liebte, wie er sagte, ihre Gesellschaft mehr als die seiner eigenen Gesellschaftsklasse, deren Benehmen ihn verdroß und deren Gespräch ihn langweilte. »In der Gesellschaft,« pflegte er zu sagen, »ist jeder derselbe, trägt denselben Rock, ißt und trinkt und redet dieselben 110 Dinge; ein junger Stutzer im Klub redet und sieht gerade so aus wie der andere, ein Fräulein auf einem Balle ähnelt ganz genau der anderen, wogegen hier alles Charakter hat. Ich rede gern mit dem stärksten Menschen in ganz England, oder dem, der in ganz England das meiste Bier vertragen kann, oder mit jenem fürchterlichen Republikaner von einem Hutmacher, der da meint, Thistlewood sei der größte Charakter in der Geschichte. Ich liebe Branntwein mehr als Claret. Mir gefällt ein sandiger Fußboden in Carnaby Market besser als ein gekalkter in Mayfair. Ich ziehe Snobs vor, das gestehe ich zu.« Tatsächlich war dieser Gentleman ein sozialer Republikaner, und es kam ihm, wenn er mit Jack und Tom konversierte, niemals in den Sinn, daß er in irgendeiner Hinsicht besser wäre als sie, obgleich vielleicht die Ehrerbietung, die sie ihm zollten, ihm heimlich gefallen mochte.

Pen folgte ihm also zu diesen verschiedenen menschlichen Zufluchtsorten mit großer Freude und großem Eifer. Aber er war beträchtlich jünger und darum pompöser und stattlicher als Warrington, tatsächlich wie ein verkleideter junger Prinz, der die Armen aus seines Vaters Königreich besuchte. Sie achteten ihn als einen vornehmen Jungen, einen feinen Kerl, einen regelrechten jungen Aristokraten. Er hatte irgendwie ein Air von kaiserlicher Leutseligkeit, einen königlichen Freimut und eine Majestät, obwohl er nur gesetzlicher Erbe von zwei Pence und einen halben Penny war, und bloß von einem Pflasterkasten abstammte. Wenn derartige Stellungen für uns vorhanden sind, so finden wir uns in dieselben sehr leicht hinein und sind stets recht bereit, 111 eine vornehme Miene denen gegenüber einzunehmen, die so gut sind wie wir. Pens Herablassung in dieser Zeit seines Lebens zu beobachten war etwas sehr Schönes. Unter Leuten von Fähigkeit verliert sich diese Anmaßung und Impertinenz schon in früher Jugend, aber es ist spaßhaft, den Dünkel eines sonst edelangelegten und gescheiten Burschen zu beobachten; es liegt etwas fast Rührendes in solcher jugendlichen Zurschaustellung von Einfalt und Torheit.

So pflegten denn diese jungen Herren, nachdem sie des Morgens ziemlich fleißig studiert, und ich fürchte nicht bloß ihr Jus, sondern auch Politik und allgemeine Geschichte und Literatur, die für das Fortkommen und die Belehrung eines jungen Mannes ebenso notwendig waren, als das bloße trockene Jus, nachdem sie ferner mit leidlicher Emsigkeit über Briefe, Revüen, Elementarbücher des Rechts, und vor allem über der Zeitung gesessen hatten, bis die Essensstunde ziemlich nahe war, sich in sehr guter Laune und Appetit in die Stadt hineinzustürzen, voll Sehnsucht, eine ebenso lustige Nacht zu verleben, als sie einen angenehmen Vormittag verbracht hatten. Es war eine fröhliche Zeit, mit vierundzwanzig Jahren, wo jeder Muskel von Geist und Leib in gesunder Tätigkeit, wo die Welt noch neu war, und man sich durch dieselbe bewegte, angespornt von guter Laune und der wonnevollen Befähigung zum Genusse. Wenn wir uns später jemals jung fühlen, so ist es mit den Kameraden aus dieser Zeit; die Melodien, die wir in unseren alten Tagen summen, sind die, welche wir damals lernten. Bisweilen lebt vielleicht der festliche Glanz dieser Periode in unserem Gedächtnisse wieder auf; aber 112 wie verwahrlost der Freudengarten geworden ist, wie verwelkt die Blumengewinde aussehen, wie dünn und alt die Gesellschaft ist, und was für eine Menge Lichter erloschen sind, seit diesen Tagen! Graue Haare haben sich eingestellt gleich dem hereinströmenden Tageslichte – dem Tageslichte mit dem Kopfweh. Die Freude ist zu Bett gegangen mit der Schminke auf ihren Wangen. Nun, mein Freund, wollen wir durch den Tag wandeln, nüchtern und traurig, aber freundschaftlich.

Ich möchte wissen, was Laura und Helene gesagt haben würden, hätten sie, was sie nicht selten getan haben würden, wenn sie wach und in London gewesen wären, Herrn Pen und Herrn Warrington gesehen, wie sie in der ersten Morgenfrühe, wo die Brücken sich im Sonnenaufgang zu röten begannen und die ruhigen Straßen der Stadt in der Dämmerung sich zu erhellen anfingen, nach einer ihrer bei wildem Zechgelage durchschwärmten Nächte über die wiederhallenden Trottoirs nach dem Tempel heimrasselten – wilde Nächte, aber doch nicht so ruchlos, wie solche Nächte bisweilen sind, denn Warrington war ein Weiberfeind und Pen, wie wir schon gesagt haben, zu stolz, um zu gemeinen Liebesgeschichten herunterzusteigen. Unser junger Prinz von Fairoaks vermochte nie zu jemand vom anderen Geschlechte zu sprechen, ohne einen achtungsvollen Bückling zu machen, und fuhr vor jedem groben Worte oder solcher Gebärde mit instinktivem Zartgefühl zurück, denn obschon wir ihn sich in eine Närrin haben verlieben sehen, wie dies Bessere und Schlechtere als er schon getan haben, und wie er dies wahrscheinlich selbst mehr als einmal in seinem Leben tat, so betrachtete er sie 113 doch, solange die Täuschung währte, stets als eine Göttin und war bereit, ihren gehorsamen Diener zu machen. Die Männer verehren die Frauen kniend – wenn sie auf die Beine kommen, gehen sie weg.

Das war es, was ein Bekannter von Pen in seiner harten derben Weise zu ihm sagte, – ein alter Freund, mit dem er in London wieder zusammengetroffen war – kein anderer, als der ehrliche Herr Bows vom Theater von Chattery, der jetzt als Pianofortespieler beschäftigt war, um das hervorragende Sängertalent zu begleiten, das allnächtlich das Publikum in Fieldings Gasthaus im Covent Garden entzückte, wo der kleine Klub abgehalten wurde, der das »Küchenstübchen« hieß.

Eine Menge von Pens Freunden besuchten diese höchst lustigen Zusammenkünfte. Fieldings Gasthaus war ein Vergnügungsort gewesen fast schon von der Zeit an, wo der berühmte Verfasser von »Tom Jones« als Magistratsperson in der benachbarten Bow Street den Vorsitz geführt; sein Platz wurde gezeigt, und auf dem Stuhle, der der seine gewesen sein sollte, saß der Vorsitzende noch jetzt bei nächtlichen Gelagen. Der würdige Cutts, der Wirt von Fieldings Gasthaus, nahm diesen Posten gewöhnlich ein, wenn ihn nicht die Gicht oder irgendeine andere Krankheit plagte. Sein heiteres Aeußere und seine schöne Stimme leben vielleicht noch im Gedächtnisse eines oder des anderen meiner männlichen Leser; er pflegte im Laufe der gesanglichen Zusammenkünfte reichlich Lieder zum Besten zu geben, und diese Lieder gehörten zu der Sorte, die man »Britische Rumwasser-Sängerschule« nennen kann – so z. B. der ›Gute alte englische Gentleman‹, ›Lieber Tom, dies 114 braune Naß‹, usw. – Lieder, in denen sich Pathos und Gastfreundschaft vermischten und das Lob guten Branntweines nebst geselliger Freundschaft von einer Baritonstimme besungen wurden. Die Reize unserer Frauen, die heroischen Taten unserer Heerführer zu Lande und zur See werden in den Gesängen dieser Schule oft gepriesen, und manches Mal in meiner Jugend habe ich bewundert, wie Cutts, der Sänger, nachdem er uns durch Beschreibung der Art und Weise, wie der tapfere Abercrombie seine Todeswunde empfangen, allesamt in patriotische Begeisterung hineingesungen oder uns dazu gebracht hat, wie er zu weinen, was er in reichlichem Maße selbst tat, wenn er uns mit zitternder Stimme sagte, wie des Herbstes fallendes Blatt »dem alten Mann einen Todesgruß verkündigte, daß er sterben müsse« – wie also Cutts, der Sänger, sich plötzlich in Cutts, den Schänkwirt, verwandelte, und ehe der Applaus, den wir zum Dank für seine herzrührende Melodie mit den Fäusten auf den Tisch trommelten, verhallt war, laut rief: »Nun, meine Herren, bestellen Sie sich, was Sie bedürfen, der Kellner ist im Zimmer – John, ein Glas Champagner für Herrn Green. Nicht wahr, mein Herr, Sie hatten Würstchen und Kartoffelbrei bestellt? John, bediene den Herrn.«

»Und ich würde Ihnen verbunden sein, wenn Sie mir auch ein Glas Punsch gäben, John, und darauf achteten, daß das Wasser gut kocht,« pflegte dann nicht selten eine Pen wohlbekannte Stimme zu rufen, die den jungen Mann, als er sie zum ersten Male hörte, erröten und in die Höhe fahren ließ – die Stimme des verehrungswürdigen Kapitän Costigan nämlich, der sich 115 jetzt in London niedergelassen hatte und einer der Grundpfeiler der Liedertafel in Fieldings Gasthaus war.

Des Kapitäns Benehmen und Unterhaltung brachten sehr viele junge Leute dorthin. Er war ein Original, und sein Ruf hatte sich bald nach seiner Ankunft in der Metropole und besonders nach der Heirat seiner Tochter ausgebreitet. Er war mit dem eben an der Tagesordnung befindlichen Freunde (der stets sein Nachbar am Trinktische war) stark in ein Gespräch über »meine Tochter« vertieft. Er erzählte von ihrer Heirat und von den dieser Zeremonie vorausgehenden und nachfolgenden Ereignissen, von den Wagen, die sie sich hielte, von der Bewunderung, die Mirabel für sie und ihn fühlte, von den hundert Pfund, die er zu jeder beliebigen Zeit auf seinen Schwiegersohn erheben könnte, wenn ihn jemals die Notwendigkeit dazu drängte. Und nachdem er bemerkt, daß es sein fester Entschluß wäre, sie den nächsten Sonnabend zu erheben, »ich geb' Ihnen mein heiliges Ehrenwort, nächsten Sonnabend, den vierzehnten, wie mir bei Coutts das Geld in demselben Augenblick eingehändigt werden wird, wo ich den Scheck präsentier'«, – pflegte der Kapitän nicht selten sich eine halbe Krone von seinem Freunde als Darlehn auf jenen Tag des griechischen Kalenders zu erbitten, wo er »auf die Ehre eines Offiziers und Gentleman diese kleine Verpflichtung berichtigen werde.«

Sir Charles Mirabel hatte nicht jene enthusiastische Zuneigung zu seinem Schwiegervater, deren sich letzterer bisweilen rühmte (obwohl Cos in anderen Stadien der Gemütsbewegung mit den Tränen in den Augen auf die Undankbarkeit des Kindes seines Busens und den 116 schmutzigen Geiz des reichen alten Mannes, der sie geheiratet hatte, zu schimpfen pflegte); aber das Paar hatte gegen Costigan nicht unfreundlich gehandelt, sie hatten ihm eine kleine Pension ausgesetzt, welche regelmäßig bezahlt und von dem armen Cos mit noch größerer Regelmäßigkeit im voraus vertan wurde; und die Periode der Zahlungen war seinen Freunden in Fieldings Gasthaus stets sehr wohl bekannt, denn dorthin kehrte der wackere Kapitän dann unabänderlich mit Banknoten in der Hand zurück und rief mitten in das volltönende harmonische Singen hinein, ob ihm niemand wechseln könnte. »Ich denke, Sie werden sehen, daß diese Note in der Bank von England nicht zurückgewiesen werden wird, Cutts, mein Junge,« pflegte Kapitän Costigan zu sagen. »Bows, ein Gläschen gefällig? Brauchen sich heut abend nichts abgehen zu lassen, und ein Glas Punsch wird Sie con spirito spielen lassen.« Denn er ging unbändig frei mit seinem Gelde um, wenn er's bekam, und man sah ihn kaum die Hosentasche zuknöpfen, ausgenommen, wenn das Moos herausgeflossen war oder allerdings dann und wann, wenn ein Gläubiger vorbeikam.

In einem dieser Momente voll Jubel und Freunde fand Pen seinen alten Freund an der Sängertafel des »Küchenstübchens« in Fieldings Gasthaus, hin und herschwankend und für jeden seiner Bekannten, der im Zimmer erschien, Gläser mit Rumwasser bestellend. Warrington, der mit dem Bassisten auf »du und du« stand, ging nach diesem Teile der Gaststube hin, und Pen folgte seinem Freunde auf den Fersen.

Pen fuhr zurück und wurde rot, als er Costigan erblickte. Er war eben von Lady Whistons 117 Abendgesellschaft gekommen, wo er zum ersten Male nach langer langer Zeit mit der Tochter des Kapitäns wieder zusammengetroffen war und mit ihr gesprochen hatte. Er schritt mit ausgestreckter Hand auf den alten Mann zu, um ihn recht freundlich und herzlich zu begrüßen, denn er bewahrte in seinem Herzen noch immer eine starke Erinnerung an die Zeit, wo Costigans Tochter ihm sein Alles auf der Welt gewesen. Denn obwohl dieser junge Herr etwas launenhaft in seinen Neigungen gewesen sein und seine Gefühle gelegentlich von einer Frau auf die andere übertragen haben mag, so achtete er doch immer die Stelle, wo die Liebe geweilt hatte, und verlangte, gleich dem türkischen Sultan, daß man der Dame Ehre erwiese, der er einst sein königliches Schnupftuch zugeworfen.

Der betrunkene Kapitän erwiderte Pens Händedruck mit aller Kraft einer Hand, die durch das stete Emporheben von Lasten an Branntwein und Wasser sehr zittrig geworden war, sah Pen scharf ins Gesicht und sagte: »Gütiger Himmel, ist's möglich? Mein lieber Junge, mein lieber Bursche, mein lieber Freund«; und dann fuhr er, mit einem Blicke voll benebelter Neugier, offen heraus: »Ich kenne Ihr Gesicht, mein lieber lieber Freund, aber, weiß Gott, ich hab' Ihren Namen vergessen.« Fünf Jahre beständigen Punschtrinkens waren verflossen, seit Pen und Costigan sich zum letzten Male gesehen hatten. Arthur hatte sich ziemlich verändert, und man darf den Kapitän sicherlich entschuldigen, daß er ihn vergessen hatte; wenn jemand in der unmittelbaren Gegenwart die Dinge doppelt sieht, können wir wohl erwarten, daß sein Blick in die Vergangenheit recht neblig ist. 118 Pen sah seinen Zustand und lachte, obwohl er vielleicht etwas verstimmt war. »Erinnern Sie sich meiner denn nicht, Kapitän?« sagte er. »Ich bin Pendennis – Arthur Pendennis, von Clavering.«

Der Klang der freundlichen Stimme des jungen Mannes stellte Cos' branntweinumnebeltes Gedächtnis wieder her, und er begrüßte Arthur, sobald er ihn erkannte, mit einer lauten Salve von Freundschaftsbeteuerungen. Pen war sein »teuerster Junge, sein wackerer junger Freund, sein edler Gesellschafter, dem er in seinem tiefsten Herzen stets einen Platz bewahrt hatte, seit sie sich getrennt hatten; wie es seinem Vater ginge, nein, seiner Mutter und seinem Vormunde, dem General, nein, dem Major. »Ich vermute nach Ihrem Aussehen, daß Sie Ihr Besitztum angetreten haben, und, weiß Gott, Sie werden Ihr Geld wie ein Mann von Geist vertun – dafür will ich mich verbürgen. Nein! Noch nicht Besitzer des Ritterguts? Wenn Sie mal eine Kleinigkeit brauchen, hören Sie, dann ist hier der arme alte Jack Costigan, der eine oder ein paar Guineen in der Tasche hat – und, beim Himmel! Arthur, mein teurer Junge, du sollst mir nie Mangel leiden. Was willst du haben? John, komm her und gib hübsch Achtung; gib diesem Herrn ein Glas Punsch, ich werde bezahlen. – Ihr Freund? Ich habe ihn schon gesehen. Erlauben Sie mir, mein Herr, daß ich mir die Ehre nehme, mich Ihnen bekannt zu machen, und Sie ersuche, ein Glas Punsch von mir anzunehmen.«

»Ich beneide Sir Charles Mirabel nicht um seinen Schwiegervater,« dachte Pendennis. »Und was macht mein alter Freund, Herr Bows, Kapitän? Haben Sie 119 irgendwelche Nachricht von ihm, und sehen Sie ihn noch dann und wann?«

»Kein Zweifel, daß er sich recht wohl befindet,« sagte der Kapitän, indem er mit seinem Gelde klimperte und die Melodie eines Liedes – »Die kleine Doodeen« – pfiff, wegen dessen Vortrag er in Fieldings Gasthaus berühmt war. »Mein lieber Junge – ich hab Ihren Namen wieder vergessen – aber meiner ist Costigan, Jack Costigan, und ich sollte mich freuen, wenn Sie so viele Gläser Punsch auf meinen Namen nehmen wollten, als Ihnen nur beliebt. Sie kennen meinen Namen, und ich schäme mich desselben nicht.« Und so schnabbelte der Kapitän weiter.

»Es ist heute Zahltag beim General,« sagte Herr Hodgen, der Bassist, mit dem Warrington tief in ein Gespräch verwickelt war, »und er hat schon ein schönes Teil mehr als halb im Oberstübchen. Er hat's schon mit seiner ›Kleinen Doodeen‹ versucht und damit Fiasko gemacht, kurz bevor ich ›König Tod‹ sang. Haben Sie schon mein neues Lied ›der Leichenräuber‹ gehört, Herr Warrington? – mußte es in St. Bartholomäus neulich abends da capo singen – ist expreß für mich komponiert. Vielleicht möchten Sie oder Ihr Freund einen Abdruck des Liedes, mein Herr? John, sei doch mal so gut und lange mir den ›Leichenräuber‹ her, ja? – Es gibt ein Porträt von mir, Herr, wie ich es singe – im Kostüme des Leichenräubers – wirklich recht ähnlich.«

»Danke Ihnen,« sagte Warrington; »hörte es neunmal – kenne es auswendig, Hodgen.«

Hier begann der Gentleman, der an dem Pianoforte saß, sein Instrument zu spielen, und als Pen nach 120 der Richtung der Musik hinsah, erblickte er denselben Herrn Bows, nach dem er eben erst gefragt hatte, und dessen Existenz Costigan momentan vergessen hatte. Der kleine alte Mann saß vor dem vertrommelten Piano (das seiner Konstitution durch oftes nächtelanges Aufsitzen jämmerlich geschadet hatte, und, sozusagen, mit einer zugleich heiseren und schwachen Stimme sprach) und begleitete die Sänger oder spielte mit Gefühl und Geschmack in den Pausen des Gesanges.

Bows hatte Pen gesehen und sofort wiedererkannt, als der letztere ins Zimmer getreten war, und hatte die eifrige Wärme bemerkt, mit der der junge Mann Costigan wiedererkannt hatte. Er begann jetzt eine Weise zu spielen, deren Pen sich sogleich als eine derjenigen erinnerte, die vom Chore der Landleute im »Fremden« gesungen zu werden pflegte, grade ehe Frau Haller hereinkam. Es durchschauerte Pen, als er es hörte. Er entsann sich, wie sein Herz einst zu klopfen pflegte, wenn diese Weise gespielt wurde und bevor die göttliche Emilie die Bühne betrat. Niemand, mit Ausnahme Arthurs, nahm irgendwelche Notiz von dem Spiele des alten Bows, es wurde inmitten des Geklappers der Messer und Gabeln, des Rufens nach halbgesottenen Eiern und Lebern und des Trampelns der Gäste und Kellner überhaupt kaum gehört.

Pen ging auf den Spieler zu und schüttelte ihm freundlich die Hand, als er sein Spiel beendigt, und Bows grüßte Arthur mit vieler Hochachtung und Herzlichkeit. »Was, Sie haben die alte Melodie wirklich nicht vergessen, Herr Pendennis?« sagte er; »ich dachte mir's doch, Sie würden sich darauf besinnen. Ich glaube, es 121 war die erste derartige Melodie, die Sie je spielen hörten – nicht wahr, junger Herr? Sie waren damals noch ein ganz junges Bürschchen. Ich fürchte, mit dem Kapitän geht's sehr schlimm heute nacht. Er läßt sich allemal an seinem Zahltage so gehen, und ich werde eine Teufelsqual haben, ihn nach Hause zu schaffen. Wir wohnen zusammen. Wir treiben des Geschäftchen noch immer zusammen, Herr, wenn auch Fräulein Em – wenn auch Lady Mirabel sich aus der Firma zurückgezogen hat. – Und so erinnern Sie sich wirklich an die alten Zeiten? War sie nicht eine Schönheit, Herr? – Ihre Gesundheit, und ich bin Ihr gehorsamer Diener,« – und er tat einen Zug aus dem zinnernen Kannenmaß voll Porter, welches neben ihm stand, während er spielte.

Pen hatte oft Gelegenheit, die Bekannten seiner Jugend später wiederzusehen und seine Beziehungen zu Costigan und dem alten Musikus zu erneuern.

Während sie so in freundschaftlichem Gespräche dasaßen, kamen und gingen in dem Gasthause Leute von allen Arten und Lebensstellungen, und Pen hatte das Vergnügen, so viele verschiedene Personen jeder Art zu sehen, wie der eifrigste Beobachter es nur wünschen konnte. Gesunde Handwerker und Pächter vom Lande, in Geschäften nach London gekommen, kamen und ergötzten sich an dem heiteren Singen und dem Essen des »Küchenstübchens«, Scharen junger Lehrlinge und Gehilfen kamen, nachdem sich die Läden über dem Schauplatze ihrer Arbeit geschlossen, hierher, zweifelsohne um frische Luft zu schöpfen, liederliche junge Studenten der Medizin, großprahlig, renommistisch, in schreiende Farben gekleidet, und (muß man es wirklich eingestehen?) 122 etwas schmutzig, saßen hier und rauchten und tranken und applaudierten lärmend den Liedern; junge Stutzer von der Universität waren ebenfalls hier zu finden mit jener unbeschreiblichen vornehmen Ziererei, die man nur zu den Füßen der Alma Mater lernt; ferner hübsche junge Gardisten und duftende Stutzer von den Klubs in St. James Street; ja, sogar englische und irische Senatoren und selbst Mitglieder des Oberhauses.

Der Bassist hatte mit seinem Liede vom »Leichenräuber« ein ungeheures Aufsehen gemacht, und die ganze Stadt lief hin, zuzuhören. Ein Vorhang flog auf, und Herr Hodgen erschien in der Rolle des Leichenräubers, der auf einem Sarge saß und eine Flasche Branntwein, einen Spaten und ein Licht, das in einem Totenschädel steckte, vor sich hatte. Das Lied wurde mit einem wahrhaft bewundernswert entsetzlichen Humor gesungen. Des Sängers Stimme sank so entsetzlich tief herab, daß ihr Rollen tief in die grauenerfüllte Seele des Hörers hineindonnerte, und beim Chorus klirrte er mit seinem Spaten und ließ ein höllisches »Ha! ha!« erschallen, das sogar die Gläser auf dem Tische wie vor Schrecken erbebten. Keiner der übrigen Sänger, nicht einmal Cutts, wie dieser hochherzige Mann selbst gestand, konnte es mit dem Leichenräuber aufnehmen, und er pflegte sich daher gewöhnlich in Frau Cutts Privatgemächer oder hinter den Schänktisch zurückzuziehen, ehe dieses verhängnisvolle Lied ihn aus dem Felde schlug. Des armen Cos' Liedchen »Die kleine Doodeen«, das Bows reizend auf dem Piano begleitete, wurde nur vor wenigen Bewunderern gesungen, die nach dem Gesange des gräßlichen 123 Auferstehungsmannes noch dazubleiben Lust hatten. Das Zimmer leerte sich gewöhnlich nach demselben oder verblieb nur im Besitz einiger weniger, aber ausdauernder Freudenjäger.

Während Pen und sein Freund hier einmal des Nachts, oder vielmehr des Morgens, zusammensaßen, traten zwei Habitués des Hauses beinahe zusammen ein. »Herr Hoolan und Herr Doolan,« flüsterte Warrington Pen zu, indem er diese Herren grüßte, und in dem letzteren erkannte Pen seinen Freund von der Eilkutsche wieder, der damals, wo Pen ihn eingeladen hatte, nicht mit ihm hatte speisen können, indem er, wie er mit seinem besten Danke Herrn Pendennis gesagt hatte, durch seine Berufspflichten gezwungen wäre, an Freitagen Einladungen zu Tische abzulehnen.

Doolans Zeitung, die »Morgendämmerung«, lag auf dem Tische, arg mit Porter befleckt und Wange an Wange mit Hoolans Blatt, das wir den »Tag« nennen wollen; die »Morgendämmerung« war liberal – der »Tag« war ultrakonservativ. Viele unserer Journale sind von irischen Gentlemen geleitet, und deren tapfere Brigade besorgt in England den Federkrieg, grade so, wie ihre Voreltern sich in Europa herumzuraufen pflegten und unter manch einer Flagge kämpfend einander gegenüberstanden, um gute Freunde zu sein, sobald die Schlacht vorüber war.

»Nieren, John, und ein Glas Doppelbier,« sagte Hoolan. »Wie geht's Ihnen, Morgan? Was macht Frau Doolan?«

»'s geht ziemlich gut, danke, Mick, mein Junge – weiß Gott, sie ist aber auch daran gewöhnt,« sagte 124 Doolan. »Wie geht's der Dame, die sich die Ihre nennt? Vielleicht komme ich Sonntag auf einen Sprung herunter und trinke auf der Kilburnstraße ein Glas Punsch.«

»Bringen Sie aber den kleinen Patrick nicht mit, Morgan, denn unser kleiner Georg hat die Masern bekommen,« sagte der freundliche Mick, und nun geriet ihr Gespräch ohne weiteres auf Geschäftssachen – auf fremde Posten – wer ihr Korrespondent in Paris wäre und wer von Madrid schrieb – über die Ausgaben, die das »Morgenblatt« für Absendung von Kurieren, über die Vorbereitung des »Abendsterns« usw. habe.

Warrington lächelte, nahm die »Morgendämmerung«, die vor ihm auf dem Tische lag, und zeigte auf einen der Leitartikel in diesem Blatte, der folgendermaßen anfing: – »Wie in früherer Zeit große Schurken, welche irgendein ruchloses Werk vorhatten, – einen Feind aus dem Wege zu räumen, eine Menge falschen Geldes in Umlauf zu setzen, eine Lüge zu verbreiten oder eine Mordtat zu begehen, – einen professionellen Falschschwörer oder Meuchelmörder beauftragten, das Werk zu vollbringen, zu dessen Vollführung sie selbst entweder zu berüchtigt oder zu feige waren, so mietet unser berüchtigter Zeitgenosse, ›der Tag‹, Prügelhelden aus der Schenke, um niederträchtige Lügen gegen rechtschaffene Individuen auszustoßen, und ruft Halsabschneider zu Hilfe, um den guten Ruf derer zu morden, die ihn bekämpfen. Ein schwarzvermummter Bösewicht (dem wir aber die Maske vom Gesichte reißen werden), der sich mit dem Lügennamen ›Kleeblatt‹ unterzeichnet, ist gegenwärtig einer der Hauptbanditen und Eisenfresser in unseres Zeitgenossen Etablissement. Er ist der Eunuch, der die Seidenschnur 125 bringt und auf Befehl des ›Tages‹ stranguliert. Wir können diesen feigen Sklaven entlarven, und wir werden es tun. Der Angriff, den er gegen Lord Bangbanagher gemacht hat, weil er ein freisinniger irischer Peer ist, und ebenso gegen die Tafel der Armenpfleger des Bangbanagher Vereins, ist« usw.

»Wie gefiel der Artikel bei Ihnen, Mick?« fragte Morgan; »wenn der Kapitän seine Hände hineinsteckt, so zermalmt er doch entsetzlich drauf los. Er schrieb den Artikel in zwei Stunden – in – na – Sie wissen ja, wo – während der Junge drauf wartete.«

»Unser Prinzipal meint, das Publikum kümmre sich nicht einen Pfifferling um diese Zeitungszänkereien, und hat dem Doktor gesagt, er solle nicht antworten,« sagte der andere. »Die beiden verständigten sich darüber in meinem Zimmer. Der Doktor hätte gern losgelegt, denn er sagt, es wäre solche leichte Arbeit und erforderte kein Studieren auf den Gegenstand, aber der Prinzipal legte ihm einen Riegel vor.«

»Der Geschmack an der Beredsamkeit ist am Aufhören, Mick,« sagte Morgan.

»Ja, wahrhaftig, Morgan,« meinte Mick, »das waren schöne Aufsätze, als der Doktor im »Phönix« schrieb, und er und Condy Rooney jeden Tag Feuer und Flammen nach einander spien.«

»Und zwar ebensowohl mit Pulver und Blei, als auf dem Papier,« sagte Morgan. »Auf Ehre, der Doktor fehlte zweimal, und Condy Rooney schoß seinen Mann in den Fittich.«

»Sie sprechen von Doktor Boyne und Kapitän Shandon,« sagte Warrington, »die zwei irische Gegner sind, 126 die sich in der ›Morgendämmerung‹ und dem ›Tag‹ miteinander herumbalgen, da Doktor Boyne der Kämpfer für die protestantische Sache und Kapitän Shandon der liberale Redner ist. Sie sind, glaube ich, die besten Freunde der Welt, trotz ihrer Gegnerschaft in den Zeitungen, und obschon sie über die Engländer schreien, daß sie ihr Vaterland verunglimpfen, so verunglimpfen sie es doch bei Gott in einem einzigen Artikel mehr, als wir uns die Mühe nehmen würden, in einem Dutzend Bänden zu tun. Wie geht's Ihnen, Doolan?«

»Ergebener Diener, Herr Warrington – Herr Pendennis, ich freue mich, die Ehre zu haben, Sie wiederzusehen. Die nächtliche Reise auf dem Dache der Eilkutsche war eine der angenehmsten, deren ich mich je in meinem Leben erfreute, und es war Ihre Munterkeit und hochgebildete Unterhaltung, die den Ausflug so reizend machte. Ich habe oft an diese glückliche Nacht gedacht, mein Herr, und mit meiner Frau darüber gesprochen. Ich habe auch Ihren eleganten jungen Freund, Herrn Foker, hier nicht selten gesehen, mein Herr. Er ist ein gelegentlicher Gast in dieser Wirtschaft, und sie ist auch wirklich eine ganz gute. Herr Pendennis, als ich Sie zuerst sah, war ich an der Wochenschrift ›Tom und Jerry‹ angestellt; jetzt aber habe ich die Ehre, Unterredakteur der ›Morgendämmerung‹ zu sein, einer der bestgeschriebenen Zeitungen des Königreiches« – und er verbeugte sich kaum merklich gegen Herrn Warrington. Seine Ausdrucksweise war gewählt und gemessen, seine Verbeugung orientalisch tief, sein Ton, als er mit den beiden Engländern sprach, ganz verschieden von dem, in dem er mit seinem Landsmann sprach. 127

»Was der Teufel macht der Kerl für Komplimente!« grollte Warrington mit einem höhnischen Lächeln, das er sich kaum die Mühe gab, zu unterdrücken. »Pah – wer kommt hier? – Der ganze Parnaß ist heut Nacht auf den Beinen, hier kommt Archer. Wir werden einen Spaß haben. Nun, Archer, ist das Parlament aus?«

»Bin nicht dort gewesen. Bin da gewesen, wo ich notwendig war,« sagte Archer mit geheimnisvoller Miene. »Verschaff mir was zu essen, John – etwas Herzhaftes. Ich hasse eure vornehmen Herrn, die einem nichts zu essen geben. Wäre es in Apsley House gewesen, so wär's eine ganz andere Geschichte gewesen. Der Herzog weiß, was ich mag, und sagt zu seinem Kammerdiener: ›Martin, du wirst etwas kaltes Rindfleisch, nicht zu scharf gebraten, eine Kanne voll weißes Ale und etwas braunen Sherry wie gewöhnlich in meinem Studierzimmer bereit halten; Archer kommt heut abend her‹. Der Herzog selbst ißt nicht zu Abend, aber er hat seine Freude daran, jemanden ein herzhaftes Mahl genießen zu sehen, und er weiß, daß ich zeitig esse. Hol mich der Henker, ein Mensch kann doch nicht von der Luft leben.«

»Lassen Sie mich Ihnen meinen Freund, Herrn Pendennis, vorstellen,« sagte Warrington mit großem Ernst. »Pen, dies ist Herr Archer, von dem du mich schon sprechen hörtest. Sie müssen Pens Onkel, den Major, kennen, Archer, Sie, der Sie alle Welt kennen?«

»Speiste vorgestern mit ihm in Gaunt House,« antwortete Archer. »Wir waren unserer vier – der französische Gesandte, Steyne, und wir beiden Bürgerlichen.«

»Ei, aber mein Onkel ist doch in –« wollte Pen eben herausplatzen, aber Warrington trat ihm unter dem 128 Tische auf den Fuß, zum Zeichen, daß er still sein möchte.

»Es war wegen derselben Angelegenheit, wegen welcher ich heute im Palast gewesen bin,« fuhr Archer, ohne Umschweife zu machen, fort, »und wo man mich vier Stunden in einem Vorzimmer aufgehalten hat, wo nichts war, als die ›Times‹ von gestern, die ich auswendig weiß, da ich drei von den Leitartikeln selbst schrieb, und obschon der Lord Kämmerer viermal hereinkam und einmal die königliche Teetasse nebst Untertasse in der Hand hielt, sagte er nicht ein einziges Mal zu mir: ›Archer, wäre Ihnen wohl eine Tasse Tee gefällig?‹«

»Ei, was haben sie denn vor?« fragte Warrington, und indem er sich zu Pen wandte, fügte er hinzu: »Du weißt vermutlich, daß sie, wenn es bei Hofe nicht richtig ist, allemal nach Archer schicken.«

»Und es ist auch etwas nicht richtig,« sagte Herr Archer, »und da die Geschichte in ein paar Tagen in der ganzen Stadt herum sein wird, so mache ich mir kein Gewissen daraus, sie zu erzählen. Bei dem letzten Wettrennen zu Chantilly, wo ich Brian Born für meinen alten Freund, den Herzog von St. Cloud, ritt, sagte der alte König zu mir: ›Archer, ich bin verdrießlich über St. Cloud. Ich habe seine Heirat mit der Prinzeß Marie Eunégonde arrangiert, der europäische Frieden hängt davon ab; denn Rußland will den Krieg erklären, sofern diese Heirat nicht stattfindet, und der junge Narr ist so toll verliebt in Madame Massena, Marschall Massenas Frau, daß er tatsächlich bei dieser Heirat nicht mittun will. Nun denn, Herr, ich sprach mit St. Cloud, und nachdem ich ihn dadurch, daß ich das Rennen und außerdem ein schönes Stück Geld gewann, in recht 129 gute Laune versetzt hatte, sagte er zu mir: ›Archer, sage dem Regenten, daß ich mir's überlegen will!‹«

»Wie drücken Sie ›Regent‹ auf französisch aus?« fragte Pen, der sich auf seine Kenntnis dieser Sprache etwas zu Gute tat.

»Oh, wir sprechen Englisch – ich lehrte es ihn, als wir Knaben waren, und ich rettete ihm zu Twickenham das Leben, wo er aus einem Nachen fiel,« sagte Archer. »Ich werde niemals die Miene der Königin vergessen, als ich ihn aus dem Wasser brachte. Sie gab mir diesen Diamantring und ruft mich bis auf den heutigen Tag noch immer Charles.«

»Madame Massena muß schon ein ziemlich altes Frauenzimmer sein, Archer,« sagte Warrington.

»Höllisch alt – alt genug, um seine Großmutter zu sein, ich sagte ihm das auch,« antwortete Archer sogleich. »Aber solche Liebschaften mit alten Weibern sind verteufelt usw. Das ist's, was dem König fehlt, und was die arme Königin so entsetzlich verletzt. Sie verließen Paris am letzten Dienstagabend und wohnen in diesem gegenwärtigen Augenblicke in Jannays Hotel.«

»Hat denn etwa eine Heirat in der Stille stattgefunden, Archer?« fragte Warrington.

»Weiß nicht, ob oder ob nicht,« erwiderte Herr Archer; »alles, was ich weiß, ist, daß ich vier Stunden im Palaste habe warten müssen, daß ich nie einen Mann in so aufgeregtem Zustande sah, als den König von Belgien, wie er herauskam, um mit mir zu sprechen, und daß ich verteufelt hungrig bin – und daß hier das Abendessen kommt.«

»Er ist heute Abend ziemlich nett gewesen,« sagte 130 Warrington, als die beiden zusammen heimgingen, »aber ich habe ihn viel kräftiger aufschneiden und eine ganze Stube voll Gäste in fortdauerndem Staunen erhalten sehen. Nimmt man jedoch seine Lügereien aus, so ist dieser Mann sowohl verständig als auch rechtschaffen – ein guter Geschäftsmann, ein ausgezeichneter Freund, bewunderungswürdig als Gatte, Familienvater und Sohn.«

»Weshalb macht er jenen tiefen Bückling in so wunderlicher Weise?«

»Eine liebenswürdige Verrücktheit von ihm,« antwortete Warrington. »Er verletzte nie irgend jemand durch sein Geschwätz, noch redete er Böses von jemand. Er ist übrigens auch ein echter Politiker und würde nie ein Wort schreiben oder eine Handlung tun, die gegen seine Partei wären, wie dies doch so manche von uns tun.«

»Von uns! Wer sind diese Wir?« fragte Pen. »Welchem Berufe gehört Herr Archer an?«

»Der Zunft vom Gänsekiel – der Presse, mein Junge,« sagte Warrington, »dem vierten Stande.«

»Gehörst du denn auch der Gilde an?« fragte Pendennis.

»Darüber wollen wir ein anderes Mal sprechen,« antwortete der andere. Sie gingen bei dieser Unterhaltung den Strand entlang und an einem Zeitungsbureau vorüber, das in allen Fenstern helles Licht zeigte. Berichterstatter kamen aus dem Hause oder eilten in Fiakern zu ihm hin; in den Redaktionszimmern brannten Lampen, und oben waren die Setzer am Werke, die Fenster des Gebäudes strahlten über und über von Gaslicht. 131

»Sieh dahin, Pen,« sagte Warrington. »Da ist sie, – die große Maschine – sie schläft nimmer. Sie hat ihre Gesandten in jedem Viertel der Welt – ihre Eilboten auf jeder Straße. Ihre Offiziere marschieren mit Heeren dorthin, und ihre Beauftragten gehen in den Kabinetten von Staatsmännern aus und ein. Sie sind allgegenwärtig. Jenes Journal hat in dieser Minute in Madrid einen Agenten, der dort Geld austeilt, und einen anderen, der auf dem Covent Garden-Markt sich nach den Kartoffelpreisen erkundigt. Sieh, hier kommt der Expreßbote mit den Auslandnachrichten im Galopp herein. Sie werden imstande sein, der Downing Street morgen Neuigkeiten mitzuteilen, die Fonds werden steigen oder fallen, Vermögen wird gewonnen oder verloren werden; Lord B. wird aufstehen und mit der Zeitung in der Hand und mit dem Blick auf den edeln Marquis eine lange Rede halten; und Herr Doolan wird von seinem Abendessen im Küchenstübchen weggerufen werden, denn er ist Redakteur fürs Ausland und muß die Korrespondenz auf seinem Zeitungsbogen sehen, ehe er zu Bette geht.«

Unter diesen Gesprächen gelangten die beiden Freunde in ihre Zimmer, als eben die Morgendämmerung anzubrechen begann. 132



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