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So ein schlechtes Wetter hat auch seine Vorteile, und der Schorschl Tschurtschenthaller meint, daß dieses heutige Hundewetter ausnehmend geeignet ist, um über die Grenze zu gehen. Heute sitzen die Gendarmen und die Finanzer in ihren Löchern.
So ein Troglodytendasein möge in der älteren Steinzeit ganz behaglich gewesen sein, erklärt Saliger dem Schorschl, aber er für seine Person hätte derzeit genug davon, und nun sei er für Abwechslung. Was das sind, die Troglodyten, das weiß der Schorschl nicht, vielleicht haben in der älteren Steinzeit die damaligen Illegalen so geheißen, was aber die Abwechslung anlangt, so gibt der Schorschl dem Doktor vollkommen recht.
Also los! Jetzt ist es Zeit.
Über den Weg sind sie sich völlig im klaren. Zum Totenhorngipfel und durch die Südwand führt Saliger. »Do hab'n sich ja scho a paar Leut darstöß'n!« bemerkt der Schorschl, aber nicht etwa, weil er Bedenken hätte, sondern weil so etwas einen Berg erst recht schmackhaft macht.
»Wir kommen schon durch!« sagt Saliger kurz.
»Naa«, lacht der Schorschl, »wir machen denen Vaterländischen dö Freud net.«
Wie es dann weitergeht, weiß der Schorschl dann sehr genau. Ins Weißbachtal überi, zur Rifflscharte aufi und durchs Grobe Grieß umi. »Und auf dö erste Moß Bayrisch freu i mi scho narrisch.«
Die Ausrüstung ist vorhanden, die braven Jäger und Holzknechte haben mit den Lebensmitteln Stück für Stück in die Neunmannshöhle gebracht. Sie heißt so, weil einmal neun Mann, die sie erforscht haben, durch einen Deckeneinsturz fünf Tage lang darin gefangen gewesen sind. Saliger und Schorsch haben eine Wohnung daraus gemacht, ach du lieber Gott, Wände und Decke, wie sie das Wasser ausgehöhlt hat, eine zugige Angelegenheit, eine Art Selchkammer, man kann doch den Rauch nicht frei abziehen lassen wie durch einen Schornstein. Wer wohnt denn da eigentlich? hätte vielleicht ein Gendarm auf seinem Postengang fragen können.
Nun also, danke schön für alles, und wir gehen jetzt!
Gemütlich ist anders, aber das nützt nichts. Auf der Gipfelfläche tobt der Sturm und wirft mit ganzen Händen voll nassen Schnees um sich. Saliger muß eine ganze Weile suchen, ehe er den richtigen Ausstieg findet. Es ist schwere Arbeit in dem glitschigen Felsen, aber sie lassen sich Zeit, sie übereilen nichts, sie wollen den Vaterländischen keine Freude machen.
Dann später wird es besser, das Schneetreiben hört auf, je tiefer sie kommen, desto mehr geht es in Regen über, und als sie zu der eisgepanzerten Steilwand kommen, die Saliger noch als eines der übelsten Stücke im Gedächtnis hat, wird es lichter über ihren Köpfen.
Und mitten in diesem übeln Stück hängt ein Mensch. Saliger, der voraus ist, hat ihn zuerst entdeckt. »Hallo!« ruft er hinunter, denn hier gibt es kein Versteckenspielen, hier gibt es nicht Verfolgte und Verfolger, hier gibt es nur den Menschen im Kampf mit dem Berg. Der Mensch gibt keine Antwort. Er müßte doch zumindest den Kopf heben, wenn da in der Eispanzerwand ein Anruf von oben kommt. Und wenn er es nicht tut, so kann er es wahrscheinlich nicht. Offenbar kommen da Saliger und Schorschl gerade zurecht.
Unendlich behutsam arbeiten sie sich hinunter und nehmen links und rechts von ihm festen Stand. Der Mann hat den Fuß in einer Trittschlinge und hängt mit dem Seil in einem Schnapphaken, und das ist sein Glück, denn er weiß nicht viel von sich. Und Saliger sieht auch sogleich, was los ist. Auf dem Kopf in dem fahlblonden Haar hat er eine faustgroße, blutige Beule, da ist ihm ein Stein aus der Wand auf den Schädel gesprungen, und der Kopf liegt mit der Stirn am Felsen.
Da muß der Nothelfer Weinbrand her.
Saliger reibt dem Mann die Stirn, feuchtet ihm die Lippen an und flößt ihm einige Tropfen ein. »Hallo, Sie!« ruft er ihn an, da die Augenlider zu zucken beginnen. Und nun macht der Mann die Augen auf, und sein Blick ist leer und fern.
»Was machen Sie denn da?« fragt Saliger, und das ist eigentlich eine ganz überflüssige Frage bei einer Begegnung mitten in der Totenhorn-Südwand.
Der Mann gibt sich furchtbare Mühe, verdreht die Augen, schluckt und würgt, und endlich kann er eine Antwort geben: »Hinauf«, sagt er.
»Was: hinauf?« brummt Saliger, »reden Sie kein Blech. Seien Sie froh, wenn Sie herunterkommen.«
Sie machen nicht viel Umstände mit ihm, und der Mann kann ja auch keinen nennenswerten Widerstand leisten. Er muß es sich gefallen lassen, daß er ans Seil genommen wird, es ist ja nicht das erstemal, daß hier ein Mann zum einstigen Lager zwei abgeseilt wird.
Nun sitzt er da und tastet nach der Beule auf seinem Kopf.
»Steinschlag?« fragt Saliger.
»Ja.«
»Hätte schlimm ausgehen können.«
Eine wässerige Sonne bescheint die Männer in der Felsnische des Lagers zwei.
»Wer sind Sie denn?« fragt Salinger und reicht dem Mann das Weinbrandfläschchen. Der Mann trinkt einen Schluck, und dann sagt er: »Haberdietzl!«
Soso! Haberdietzl! Ach was nicht gar: Haberdietzl? Also Haberdietzl, der Mann mit den Wasserskiern, der Mann, der Marianne Mack zur Frau hat. Nun, das ist wohl eine sonderbare Fügung, daß gerade Saliger gekommen ist, als Mariannes Mann in der Wand hing mit einer faustgroßen, blutigen Beule auf dem Kopf. Soll damit wohl ein Unrecht wieder gutgemacht werden, dessen sich Saliger manchmal bewußt geworden ist?
Der Schorschl weiß nichts von Fügung und Wiedergutmachung. Er horcht in den Nebel hinaus, der unter dem Lichtdruck der Sonne immer weiter zurückweicht. Er hat das Signal in der Wand gehört, das die Retter meldet.
Haberdietzl hat es auch gehört. Er rafft sich auf und sagt: Jetzt kann ich wieder ... ich muß hinauf.«
»Was Ihnen nicht einfällt!« meint Saliger gemütlich, »Sie sind wohl von der Sorte Schnacksele. Nein, Sie bleiben jetzt, bis Sie geholt werden. Kommen Sie ein anderes Mal wieder.«
Zwei Menschen tauchen in der Eisrinne auf, die zum Lager zwei führt, ein Mann und eine Frau, »Heute ist ja großes Begängnis in der Wand«, sagt Saliger, indem er Marianne die Hand zum letzten Spreizschritt reicht.
Sie sieht ihn nicht an, sie sieht niemanden an als Haberdietzl, sie sagt auch nichts, sie klammert sich nur an Haberdietzl und schluchzt.
»Hm!« räuspert sich Saliger, der Schorschl trinkt den Rest des Weinbrands aus, der Schnacksele zündet sich rasch eine Zigarette an, irgendwie muß man über einen solchen Augenblick hinwegkommen.
Jetzt klimmt die zweite Seilmannschaft in der Eisrinne auf. »Ist er da?« schreit der Lobgesang.
»Ja«, ruft der Schnacksele zurück, »aber wir können euch nicht bitten, näher zu treten. Wir sind ausverkauft. Nicht einen einzigen Stehplatz haben wir mehr.«
»Himmellaudon, der Saliger«, brüllt der Lobgesang aus der Eisrinne herauf.
»Brüll nur so, daß man es bis Annaberg hört«, wettert Saliger zurück. »Ich bin inkognito hier.«
»Erstaunlich ist nur«, meint der Schnacksele nachdenklich, »wie er so ganz allein bis hier hinaufgekommen ist.«
Aber Saliger läßt es nicht zu, daß Haberdietzls Wagnis gemindert wird: »Er war ja noch viel höher oben ... schon in der Eispanzerwand, wenn der Steinschlag nicht gewesen wär' ...«
Und nun kann auch Marianne endlich zwischen Schluchzen und Lachen stammeln: »Daß ich dich wiederhab' ... daß ich dich wiederhab' ...«
»Was ist denn?« murmelt Haberdietzl, wie mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen.
Aber der Schnacksele sieht ein, daß etwas geschehen muß. »Also bitte, alles weitere unten«, tut er grimmig, »wir haben hier nicht genug Platz für große Gemütsbewegungen.« –
Zwei Posten sind aufgestellt worden, der Lobgesang oben bei der Bank Mariannenruhe, der Kümmerer unten bei der Alm. Man muß vorsichtig sein. Es könnte immerhin jemandem einfallen, auf der Jahnhütte nachzusehen, ob sich nicht der Saliger dort eingefunden hat. Es läge nicht so aus der Welt, daß es einem Gendarmenhirn einfiele, da man doch Saligers Beziehungen zur Jahnhütte kennt.
Nun zeigt es sich, wie gut es ist, daß die Jahnhütte in Verruf gekommen ist und daß sie von Fremden gemieden wird. Man ist ganz unter sich, man braucht nicht die Köpfe zusammenzustecken und zu flüstern, es ist niemand da, vor dem man sich in acht nehmen müßte. Von den beiden Posten behütet, entfaltet sich ein kleines, strahlendes Fest. Wiedersehen und Rettung und noch allerhand in einem.
Der Schnacksele führt das große Wort. »Jetzt machen wir einen Wurstelprater«, sagt er und sucht unter den Grammophonplatten herum. Dann legt er eine auf, und es erklingt feierlich und getragen der Einzug der Götter in Walhall. »So, und jetzt nehmen Sie die zweite Klampfen«, ruft er Zangerl zu. Es sind jetzt zwei Klampfen auf der Hütte für den Fall großen Andrangs.
»Was soll ich denn dazu spielen?« fragt der Zangerl entsetzt.
»Was Sie wollen, es soll doch ein Wurstelprater sein.«
Dem Zangerl fällt nichts anderes ein als die Ballade vom Ritter Hadubrand. Der Schnacksele spielt und jodelt den Erzherzog-Johann-Jodler, Zangerl singt den Hadubrand, und das Grammophon spielt den Einzug der Götter in Walhall, alles zugleich, seit der Völkerwanderung hat es keinen so schönen Wurstelprater gegeben.
»Um Gottes Willen«, fleht Marianne und hält sich die Ohren zu.
Das Getöse hat Haberdietzl gerade noch gefehlt, wo er ohnehin noch nicht so weit ist, sich völlig auszukennen. Mühsam genug bringt er alles in eine vorläufige Ordnung. Marianne und der Schlag auf den Kopf und der Saliger, aber so viel hat er jetzt heraus, daß dieser Saliger nicht mehr zu fürchten ist. Seine Rolle ist ausgespielt, man kann es nicht anders sagen nach dem, was sich oben im Lager zwei zugetragen hat, obzwar kein Platz für große Gemütsbewegungen war. Zu dem Hieb auf den Kopf ist noch eine gewaltige Erschütterung des Herzens gekommen, und die hat den inneren Menschen Haberdietzl wieder zurückgerüttelt.
»Auf Befehl der Königin«, sagt Schnacksele, »wird der Wurstelprater eingestellt«; nur das Grammophon darf weiterspielen, den Fehrbelliner Reitermarsch, aber ganz gedämpft.
Jetzt weiß Haberdietzl auch endlich was sich schickt. »Ich habe Ihnen noch gar nicht gedankt«, sagt er und schaut Saliger fest in die Augen.
»Ach was! Reden Sie nicht ... wo es doch ohnehin wahrscheinlich wir gewesen sind, die Ihnen den Stein aufs Dach geschmissen haben.«
Helene Böhmer hat einen märchenhaften Grog gebraut. Sie kann das, sie ist berühmt dafür, Zangerl rückt sein Glas an das Haberdietzls und flüstert leise: »Schade, daß die Prügelstrafe in den Schulen abgeschafft ist«, sagt er.
Ach, mit Haberdietzl ich noch nicht viel anzufangen, im Herzen ja, da herrscht bereits einigermaßen Ordnung, aber mit dem Kopf muß man noch etwas Nachsicht haben, »Willst du sie wieder einführen?« fragt er.
»Nicht für die Schüler«, sagt Zangerl, »sondern für idiotische Lehrer.«
Nein, für einen Kopf mit einer faustgroßen Beule ist das zuviel, und Haberdietzl kann nichts tun, als ihn schütteln, obwohl das weh tut.
»Ja, schau nur«, sagt Zangerl unbarmherzig, »du hast deine fünfundzwanzig reichlich verdient. Ja, du! Wie hast du das Marianne nur antun können ... bei ihrem Zustand.«
»Zustand?«
»Na ja! Hab' ich dir nicht immer gesagt, daß du die Augen aufmachen sollst?«
Da macht Haberdietzl die Augen auf und schaut Marianne mit einem großen, scheuen, ehrfürchtigen Blick an, und Marianne wird sehr rot und wendet sich dem Schorschl zu, der von den illegalen Troglodyten aus der älteren Steinzeit erzählt.
»Marianne!« flüstert Haberdietzl und berührt ihre Hand.
Sie steht auf und geht hinaus, und Haberdietzl geht hinter ihr drein.
»Was ist mit denen?« fragt der Schnacksele.
»Ach nichts!« Ein kleines Ehedrama, letzter Akt.«
Nach einer Weile kommt Haberdietzl allein zurück, ein anderer Haberdietzl, hoch aufgerichtet, leuchtend, mit einer faustgroßen Beule im fahlblonden, zurückgekämmten Haar; aber sie stört weiter gar nicht die Gesamterscheinung eines Menschen, der eben von einem hohen Berg zurückkommt, auf dem er mit Gott gesprochen hat. Er muß aber auf dem Rückweg auch durch Helene Böhmers Keller gekommen sein. Denn der andere Haberdietzl, der da Eintritt, trägt unter jedem Arm eine Weinflasche.
»Das ist das Beste, was sie hat«, sagt er, indem er die Flaschen auf den Tisch stellt, »Förster Kirchenstück. Aus der Rheinpfalz.«
»Verschwender!« knurrt der Schnacksele selig. »Aus dem feindlichen Ausland?«
»Wie lange noch?« meint Saliger, »und es wird unser Wein sein.«
Darauf trinken sie, und nur der Zangerl weiß, daß sie noch auf etwas anderes trinken. Von Hüttenruhe ist heute nicht die Rede. Die Posten werden abgelöst, und nun wachen der Schnacksele und der Zangerl über die Fröhlichkeit der Runde.
Um zwei aber steht der Schorschl auf und sagt: »Zeit is!«
»Jo«, stimmt der Kümmerer bei, »jetztn müaßt's gehn. In der Fruah, wann's an der Grenz seid's, kimmt wieder a Regen ... dös is guat für enk.«
Händeschütteln und Aufbruch ohne viele Worte.
Zangerl kommt den zweien, die den Hügel über der Hütte hinansteigen, entgegen. »Es wartet jemand oben auf Sie«, sagt Zangerl, »Heil und Segen auf den Weg.«
Auf der Bank Mariannenruhe sitzt jemand, undeutlich sichtbar im hinter Schleiergewölk zerfließenden Mondschein. »Geh nur voraus!« sagt Saliger zu Schorschl und bleibt bei Marianne stehen.
»Du bist jetzt glücklich?« fragt er, obzwar die Frage höchst überflüssig ist.
»Ja!« erwidert Marianne einfach, »es ist nun alles gut.« Und das ist wie eine Lossprechung, die sich Saliger noch holen wollte.
Er zögert noch, und dann fragt er unsicher: »Möchtest du mir eine Bitte erfüllen?«
»Geh zu Valerie und sag ihr, daß ich glücklich entkommen bin.«
»Kann ich das schon sagen?«
»Du kannst es ... wie könnte es anders sein, nach alledem ...«
Marianne versteht, was Saliger will. Er will, daß sich auch die beiden Frauen die Hände reichen, so wie er jetzt Mariannes Hand in die seine nimmt.
Sie horcht auf das leise Geräusch seiner Schritte, bis es im Schweigen der Nacht, in dem nur die Stimmen des Wasserfalles und des Brunnens miteinander Zwiesprache halten, untergeht.
Gewaltig steht die Südwand des Totenhorns vor Marianne im immer dichter sich verschleiernden Mondlicht. Die Wand des Unheils, die nun entsühnt ist. Das Schicksal ist noch einmal herausgefordert worden, und es ist gegen Marianne gnädig gewesen. Es hat sie freigesprochen.
»Haben Sie nicht ein Schüsselchen mit Milch?« fragt Marianne Helene Böhmer, die noch mit Aufräumen beschäftigt ist.
»Wozu?« Aber dann weiß Helene Böhmer auch ohne Antwort, wozu Marianne das Schüsselchen mit Milch braucht.
Bis Annaberg begleitet der Kümmerer die drei. Und als sie in den Autobus einsteigen, zieht er Marianne am Ärmel zurück. »Du, Marianne, hörst«, raunt er und zwinkert verschmitzt mit den Augen, »i glaub', 's Hüttenmanndl is wieder da! Es hat eam jemand heunt nacht a Schüsserl Milch hing'stellt, und in der Fruh war's austrunken.«
Bis Leoben begleitet noch Zangerl die beiden. Aber dann ist endgültig Schluß. Dann läßt er sie allein. In zwei Wochen geht ohnehin wieder die Schule an. Während Haberdietzl und Marianne ihren Besuch bei Valerie machen, hat Zangerl Zeit, durch Leoben zu schlendern.
Er kommt gerade zurecht, um den Auflauf vor dem »Goldenen Adler« zu sehen, die vielen Leute, die das Auto mit dem roten Kreuz umstehen. Polizei ist da, sie boxt sich mit den Neugierigen herum: »Weg da ... gehen S' auseinander.«
»Was ist denn geschehen?« fragt Zangerl einen Polizisten.
Die Polizei hat es nicht nötig, höflich zu sein: »Ich woaß net«, schnauzt der Mann Zangerl an, »es hat si aner umbracht, aufg'hängt oder erschossen ... und jetzt schauen S', daß weiterkommen.«
Aber da wird schon die Bahre aus dem Haus gebracht, ein Körper liegt darauf, das Gesicht mit einem Tuch bedeckt, wie er in den Wagen gehoben wird, verschiebt sich das Tuch, und Zangerl erkennt den Mann. Ein blasses, verzerrtes Totenantlitz mit Bartstoppeln um den Mund starrt aus verwunderten Augen zum Himmel: Rotter!
Also doch! Nun war es also doch so gekommen, wie der Kümmerer gesagt hatte. Der hatte allerhand seltsame Reden geführt von Zufällen und Unfällen, und daß es wohl nicht lange dauern werde, bis Frau Rotter ihren Mann nachgezogen habe. Da liegt er nun, der große Alpinist, Sieger über unzählige Gipfel, Dreitausender, Viertausender, Fünftausender – Gott weiß, vielleicht waren im Kaukasus oder in den Anden auch Sechstausender dabei. Er hat ihnen den Fuß auf den Nacken gesetzt, der Stürmer, der Überwinder einer Schar trotziger Bergriesen, und nun hat ihn die tote Frau geholt, die in der Totenhorn-Südwand abgestürzt ist, dieses kümmerliche, boshafte Wesen hat seine Lebenskraft gebrochen. Es hat ihn veranlaßt, sich eine Kugel durchs Herz zu schießen, wahrscheinlich durchs Herz, denn das ist ja wohl die Stelle des Herzens, wo das Tuch den dunklen Fleck hat. Und er muß sich wohl, als er auf die Schwelle trat, über irgend etwas gewundert haben. In seinen Augen ist der Ausdruck des Erstaunens unverkennbar, wohl darüber, daß etwas anders ist, als er es erwartet haben mag. Zangerl weiß ja nicht allzuviel von dieser großen Kanone Rotter, nur gerade, was ihm Marianne und andere erzählt haben; um ein wärmeres Verhältnis anzubahnen, fand sich in diesen letzten Tagen auf der Jahnhütte nicht Gelegenheit und Stimmung. Aber nun ergreift es ihn doch sehr, dieses Stück einst so sieghafte Leben erledigt und vernichtet zu sehen.
Ein Glück nur, daß Marianne dieser Anblick erspart geblieben ist, daß sie nicht sieht, wie man das Tuch wieder über das Gesicht zieht, wie die Bahre in den Wagen geschoben wird, und wie das Auto mit dem roten Kreuz davonfährt, um dem Leben den Tod so rasch als möglich aus dem Weg zu räumen.
Zangerl wandert der Vorstadt zu, wo Saligers Haus zwischen spätsommerlichen Gärten steht.
Er bummelt langsam an den Zäunen hin, schaut in jeden Garten hinein, und nach einer Weile kommen ihm auch schon Haberdietzl und Marianne entgegen.
Beider Mienen sind still und gesammelt, sie zeigen die Genugtuung von Menschen, die eine warme Begegnung mit einem anderen Menschen hinter sich haben. Es ist, als hätten sie die Weihe empfangen, die einem reinen und guten Willen zuteil wird. Daß aber auf Haberdietzls Gesicht auch ein gewisser Stolz geschrieben steht, kann Zangerl nicht entgehen.
Denn Valerie hat mit dem Scharfblick der Frau sogleich gesehen, was mit Marianne los ist, und hat ein ganz klein wenig freundschaftlichen Neid nicht verbergen können. Das ist nun etwas, was Frau Marianne vor Frau Valerie voraus hat, und es wäre ebenso unbillig, ihr das klein wenig Neid als Haberdietzl seinen großen Stolz zu verdenken.
»Alles in Ordnung?« fragt Zangerl.
»Jawohl, alles in Ordnung!« bestätigt Haberdietzl hochzufrieden. Es bleibt kein ungelöster Rest zurück.
»Und jetzt muß ich euch etwas zeigen!« sagt Zangerl.
Er hat vorhin bei seinem Bummel durch die Stadt eine Entdeckung gemacht, und die muß er nun den Freunden mitteilen. Er braucht sie bloß bei dem Gasthaus zu den »Drei Kronen« vorbeizuführen. Da steht es in fußgroßen Buchstaben am Einfahrtstor angeschrieben, daß hier das achte Weltwunder zu sehen ist, des genialen Erfinders Othmar Haberdietzl weltberühmte Wasserskier, auf denen es ihrem Erbauer gelungen ist, ohne jede Begleitung, trotz eines wütenden Sturmes, den Kanal zwischen Frankreich und England zu überqueren. Zu sehen nur kurze Zeit und zu einem für jedermann erschwinglichen Eintrittspreis.
»Um Gottes Willen!« stöhnt Haberdietzl, packt Marianne am Arm und beschleunigt den Schritt, »da ist gewiß auch Herr Rummel irgendwo in der Nähe. Schnell fort.«
»Jetzt läuft er vor seinen eigenen Wasserskiern davon«, spottet Zangerl.
Haberdietzl bleibt stehen und erhebt drohend die Faust: »Sag noch einmal Wasserskier – – und ich zermalme dich!«
»Schon gut!« lacht Zangerl. »Also Schluß damit! Aber nun bin ich neugierig, was das nächste ist, das du erfinden wirst.«