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Man muß auf alles gefaßt sein

Ein tüchtiger Schankbursch wie der Schorsch Tschurtschenthaller im »Goldenen Adler« zu Leoben ist ein Mann von Ansehen und Geltung und hat seine Beziehungen. Das Biereinschenken ist auch eine Kunst, aber es verlangt vor allem eine ehrliche und biedermännische Gesinnung.

Es gibt Schankburschen, die denken nur an den eigenen Vorteil. Aus so einem Faß sollen soundso viel Glas Bier verzapft werden, und wenn nun der Schankbursch ein abgedrehter Strick ist, dann richtet er es so ein, daß er bei jedem Glas Bier dem Gast einen oder zwei Finger breit abzwackt und aus dem Faß um soundso viele Glas Bier mehr herausschlägt. wenn der Wirt auch ein Strick ist, dann muß der Schankbursch dafür mit ihm teilen; wenn der Wirt aber großmütig ist und durch die Finger sieht, dann ist es ungeteilt des Schankburschen Gewinn.

Beim Schorsch Tschurtschenthaller im »Goldenen Adler« trifft weder das eine noch das andere zu. Er hat eine biedermännische Gesinnung und zapft das Gösser in die Krüge und Gläser, wie es vor Gott und den Menschen recht und in Ordnung ist. Da steht er, dreht die Pipe auf und zu, und es kommt niemand um Fingersbreite zu kurz. Ein angesehener und hochachtbarer Mann, ein Mann voll Gesinnung, auch in anderen, nicht ungefährlichen Belangen.

Es gibt Zeiten, zu denen ein Schankbursch alle Hände voll zu tun hat und sich in keine Unterhaltungen einlassen kann. Dazwischen liegen wieder andere, ruhigere Zeiten, da man ganz gut ruhige und besinnliche Gespräche führen kann, wenn jemand kommt und an der Schank ein Stehbier trinkt. Viele Leute kommen so und bringen allerhand Neuigkeiten mit, am Bierschank und im Haarschneideladen kann man am ehesten erfahren, was in der Welt vorgeht. Allerlei erfährt man so, was auch andere Leute wissen, aber wenn man durch biedermännisches Einschenken beliebt ist, bisweilen auch etwas, was die anderen noch nicht wissen.

»Ja«, sagt der Gendarmeriepostenführer Pfleiderer, »ob halt der andere auch so anständig einschenken wird?«

»Welcher andere?« erkundigt sich der Schorschl.

Der Pfleiderer bläst den Schaum von seinem Bierglas zurück, setzt an und zieht. »No ... der andere halt«, sagt er, »der was morgen statt deiner hier Bier ausschenken wird.«

»So«, meint der Schorschl, »alsdann morgen wird a anderer statt meiner do Bier ausschenken? Warum denn?«

Der Gendarm hat sich zuvor vorsichtig umgesehen, ob er auch wirklich mit dem Schorschl allein im Gastzimmer ist. Jetzt legt er die Handgelenke kreuzweise übereinander: »Halt darum!«

»So ... a geh weiter!«

»Spaß ohne!«

»Und wann denn?«

»Heut nacht ... um zwa.«

»I alloan?«

»Naa ... auch der Doktor Saliger. Und dösmal is es für enk a schiache G'schicht, hab' i g'hört.«

»Trinkst no oans, Postenführer?« fragt der Schorschl.

»Naa, dankschön ... und schau halt, daß d' beizeiten weiterkommst.«

Dem Schorschl Tschurtschenthaller ist nichts anzumerken, er wäscht die Biergläser mit der Bürste und stülpt sie über die Trockenhölzer. Dann putzt er die Messingklinken an dem großen Eisschrank und macht Ordnung unter dem Schanktisch. Ab und zu kommt ein Durstiger und trinkt ein Stehseidel, und um vier Uhr bringt der Briefträger die Post, eine Ansichtskarte für die Kathi und zwei Preisverzeichnisse für den Wirt und die Zeitung.

»Trinkst ein Viertele?« fragt der Schorschl, wie alle Tage.

So eilig hat es der Perlmoser mit der Post nicht, daß er nicht Zeit für ein Viertel hätte. Darüber stürzt die Welt in Leoben nicht ein, wenn die Leute ihre Post um eines Vierteles Länge später bekommen.

»Wenn's grad sein muß«, sagt der Perlmoser, wie alle Tage.

Der Perlmoser trinkt sein Viertele, und der Schorschl wirft inzwischen einen Blick in die Zeitung.

»Schau, schau«, sagt er, »in Graz haben s' wieder siebzehn verhaftet ... wegen illegaler Betätigung ...«

»Ja, jetzt treiben s' es wieder arg mit'm Verhaften«, meint der Perlmoser.

»Kommst d' nacher beim Doktor vorbei?« erkundigt sich der Schorschl.

»Naa ... dort war i heunt schon, warum denn?«

»No so ... i moan halt, es wär gut, wannst no amol beim Doktor vorbeikämst.« Und der Schorschl beugt sich vor, kneift das eine Auge zu und zwinkert mit dem anderen.

»Ja, so ...«, sagt der Perlmoser, »na i könnt ja grad na amol beim Doktor vorbeikemma.«

»Na, und sagst eam halt, daß er, wann er aus der Fabrik hoamkimmt, auf a Sprüngerl zu mir schaun soll. I hab was für eam. Dös bestellst eam, gelt?«

»I wir's ausrichten«, verspricht der Perlmoser, läßt den Rest des Vierteles unter dem buschigen Schnauzbart verschwinden und setzt seinen Weg fort.

Es ist im Goldenen Adler wie alle Tage, die Dämmerschoppenzeit kommt, der Schorschl dreht die Pipen auf und zu, dann kommt die Abendschoppenzeit, im Schanigarten sitzen Leute, und hinten im Grasgarten rennen die Kellnerinnen mit den Biergläsern und den Tellern von Tisch zu Tisch. Ein wunderschöner, milder Sommerabend, den will man gern im Freien zubringen, nicht wahr. Auch der Doktor Saliger und Frau Valerie sitzen unter den Bäumen im Grasgarten des Goldenen Adlers. Sie essen manchmal auswärts. »Laß die dumme Kocherei!« sagt Saliger zu seiner kleinen Frau, »die Wirte wollen auch leben. Im Wirtshaus zu essen, ist Dienst an der Gemeinschaft.« Viele Bekannte hat der Doktor Saliger unter den Gästen des Goldenen Adlers, viele Blicke begrüßen ihn, und viele Hände zucken ein klein wenig in kaum merkbarer Bewegung empor.

Es sitzt sich schön unter den Bäumen des Grasgartens, das Gösser, das der Schorschl einschenkt, ist von ganz hervorragender Güte. Dann, nach dem zweiten Glas, geht der Doktor ins Haus und kommt auch am Schanktisch vorbei.

»Viel zu tun heut?« fragt er den Schorschl.

Der Schorschl läßt sich nicht stören, er macht seinen Dienst, mit fünf Gläsern in jeder Hand rast die Mali davon, und nun ist einen Augenblick niemand am Schanktisch als der Doktor.

»Was gibt's?« flüstert der Doktor.

»A Vogerl is dag'wesen und hat mir was 'pfiffen.«

»So? was denn?«

»Es is allerhöchste Zeit für ins zwoa.«

»Und die anderen.«

»Ins zwoa gilt's.«

»Und wann?«

»Heut nacht. I kimm nach der Sperrstund so um Mitternacht.«

»Gut.«

»Und laßt oll's verschwinden, Doktor, gelt? Gibst es in'n Brunnen.«

»Ist recht.«

Mehr ist nicht nötig, die Kathi klappert schon wieder mit leeren Gläsern heran, und Saliger kehrt zu dem Tisch zurück, an dem ihn Frau Valerie erwartet. Sie schaut ihn angstvoll an, der Perlmoser hat ihr seine Botschaft ausgerichtet, und solche Botschaften kennt Valerie. Sie weiß um die gefährlichen Wege, die Saliger geht, aber nie hat sie ihn mit einem Wort zurückzuhalten versucht, aller liebenden Sorge zum Trotz, eine tapfere, kleine, opferbereite Frau.

»Es ist soweit!« antwortet Saliger auf ihre stumme Frage und lächelt dazu, als habe er etwas Lustiges zu berichten. Die Aufpasser brauchen nicht Verdacht zu schöpfen. »Heute nacht noch.«

»Heute nacht?« Und Valerie kann trotz aller Tapferkeit nicht verhindern, daß ihre Hände zu zittern beginnen; das Lächeln wird ihr gar nicht leicht.

»Es ist doch alles bereit?«

Ja, es ist immer alles bereit für eine Stunde plötzlichen Aufbruches. Der Rucksack ist gepackt, die Bergausrüstung befindet sich in dem kleinen Gartenhäuschen, man darf sich nicht überraschen lassen.

»Und wann wirst du wiederkommen?«

Saliger zuckt die Achseln und lächelt. Diese Zeit steckt voll jäher Wendungen und Ungewißheiten, man muß auf alles gefaßt sein, wie soll Saliger wissen, wann er wiederkommt? Saliger trinkt noch ein drittes Glas Bier und ißt einen Stehkäse, und dann geht er mit seiner tapferen kleinen Frau heim, ein friedfertiger Staatsbürger, der um seiner morgigen Arbeit willen rechtzeitig ins Bett muß.

Schorschl Tschurtschenthaller rumort noch bis zur Sperrstunde an seinem Schanktisch.

»Ja, richtig, Kathi«, sagt er, »a Karten is für dich kemma, vom Lenzei, gelt?«

»Und die gibst mir jetzt?« zürnt das Dirndl.

»Woaßt denn net, daß i auf'n Lenzei wegn deiner eifern tu. Sei froh, daß i dir s' überhaupt gib. Dö näxste reiß i auf Stückln.«

»Du bist mir der Wahre!« sagt die Kathi und schlägt mit der Karte nach dem Schorschl.

»Und wann di der Lenzei amol stehn laßt«, bedrängt sie der Schorschl und verdreht kalbsmäßig die Augen, »nacher bin i da, verstehst d'. Mirk dir's.«

»A graupeter Nixnutz bist, a graupeter«, sagt die Kathi und wird brennrot.

Und dann macht der Schorschl Schluß und verschwindet in seine Kammer. Eine Viertelstunde später meldet er sich am Gartenzaun hinter dem Landhaus des Doktor Saliger. Wie eine Amsel schekkert er, die nachts erwacht und vor einer schleichenden Katze warnt.

Drei Minuten später geht das Hintertürchen auf, und die dunkle Gestalt mit dem schweren Rucksack ist der Doktor Saliger. »Ist das Auto da?« Natürlich ist das Auto da, der Geheimdienst geht in Ordnung, ein geflüstertes Wort im Vorbeigehen, ein Wink, und es klappt alles. Man muß auf alles gefaßt sein und alle Möglichkeiten vorgesehen haben.

Sie haben eine halbe Stunde zu gehen, hinter der Donawitzer Gießerei wartet das Auto. »Bis zum Burgstaller Türkenkreuz«, befiehlt Saliger dem Fahrer, »über die Grenze geht's nimmer; dort haben sie längst Nachricht, ehe wir hinkommen.«

Der Schorschl nickt, das stimmt, das weiß er auch, und so bleibt wohl vorerst nichts anderes übrig, als die Zuflucht im Berg. Als sie beim Burgstaller Türkenkreuz ankommen, schlägt der Tag schon langsam die Augen auf. Einen halben Kilometer weiter vorne beginnt der Ort Burgstall, aber das Türkenkreuz liegt noch mitten im Wald, und von hier zieht sich der Ettnachgraben zwischen himmelhohen Wänden in die Berge hinein.

Er windet sich hinten um das Totenhorn herum und trennt dessen ungeheuren Block von dem seines Nachbarn, des Wildsteins. Die Klamm ist steil, zerrissen und weglos, um so besser, wenn der Zugang nicht mühelos ist. Die Jäger sind die einzigen, die hierherkommen, und die sind verläßliche Leute, kein einziger, der einen Kameraden verraten würde. Und weiter oben, wenn man die Baumzone verlassen hat, im kahlen, unzugänglichen Geklüft der Kalkwände unterhalb des kahlen Gipfels beginnt das verworrene Geflecht der Höhlenwelt, die der Schorschl auf seiner ersten Flucht erkundet hat. So sieht das Totenhorn von dieser Seite aus, die der Südwand gegenüberliegt: ein weitverzweigtes Labyrinth von unterirdischen Gängen, Hallen und Domen, in dem man sich wochenlang verborgen halten kann, bis man sich über die Grenze wagen darf.

Der Fahrer hat auf dem Rückweg beim Förster Reitmeier in der Au gehalten, der weiß jetzt, daß zwei in die Berge sind, und er wird sie schon nicht verhungern lassen.

Es klappt ganz wunderbar mit dem Geheimdienst, den sich ein Volk im Kampf um seine Freiheit aufgebaut hat.


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