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Fragezeichen über der Zukunft

Daß auf das große Mack-Fragezeichen über der Zukunft sehr bald eine günstige Antwort erfolgen werde, das hat Marianne natürlich nicht einen Augenblick angenommen. Aber sie hat auch nicht gedacht, daß überhaupt keine Antwort kommen und das Fragezeichen zu einer dauernden Einrichtung werden würde.

Ihr erster Weg führt sie zum Herrn Landesschulinspektor Fieber. Sie hat ihn bisher noch nicht aufgesucht, obzwar er ein Freund ihres verstorbenen Vaters gewesen ist. Er war es wenigstens eine Zeitlang, aber da scheint ja dann zuletzt ein Bruch in die Freundschaft gekommen zu sein, damals, kurz ehe die Mutter vom Vater weggegangen ist. Genau weiß das Marianne nicht mehr, sie war damals noch zu jung, ein kleines Mädel, die Erinnerung ist nur ein nebelhaftes Wolkengeschiebe. Marianne Mack hat sich auf ihre Zeugnisse verlassen, sehr gute Zeugnisse über ihre Lehrbefähigungsprüfungen, nein, wozu also den Herrn Landesschulinspektor Fieber bemühen?

Nun hat sie diese wunderschönen Zeugnisse schon dreimal zurückbekommen: es ist keine Stelle frei; es scheint, der Beruf ist überfüllt. Es stehet nämlich von denen Lehrern geschrieben: wachset und mehret euch, aber nicht das gleiche stehet geschrieben von denen Stellen zu lehren. Mit so schönen Zeugnissen kann man aber doch auch als Erzieherin in ein Haus gehen. Das fällt dann so aus wie bei Doktor Klimsch.

Und nun kommt es Marianne so vor, als sei es mit den vortrefflichsten Zeugnissen allein nicht getan, und es müsse jemand da sein, der ein wenig nachhilft. Vielleicht, daß die Erinnerung des Herrn Landesschulinspektors Fieber ein wenig deutlicher ist als die ihre und daß darin die schönen Zeiten vor dem Bruch den Ausschlag geben.

Am sechsten Tag hat Marianne Glück. Da hat der Herr Landesschulinspektor Fieber keine Lehrerbesprechung und keine Dienstreise. Er empfängt Fräulein Marianne Mack.

Ein stattlicher Mann, man könnte sagen, ein wenig stark, mit einem dünnen Lächeln um die schmalen Lippen. Er mustert Marianne aufmerksam, aber die Brillengläser funkeln so stark, daß man kaum weiß, wohin er schaut.

Also, sie sei die kleine Marianne, die Tochter seines alten Freundes Mack; Mein Gott, wie die Zeit vergeht! Er weiß es noch genau, wie die kleine Marianne mit Puppen gespielt hat. Eine große Puppenstube hatte sie, jawohl, und vielleicht zwei Dutzend Puppen, er weiß das noch genau. Ja, damals war das Haus Mack noch ein wohlhabendes Haus. Und von dem ganzen großen Vermögen ist nichts geblieben, gar nichts, alles weg? Du lieber Himmel, sein alter Freund Mack hätte nicht spekulieren sollen, das habe er ihm immer gesagt.

»Der Vater hat nicht spekuliert«, erwidert Marianne mit Nachdruck, »er ist durch einen unredlichen Geschäftsteilhaber um alles gekommen.«

»Soso! Ach, es ist kein Verlaß auf die Menschen, jeder zweite ist ein Betrüger! Und die Mutter, was ist es denn mit der?«

Von der Mutter hat Marianne keine Nachricht. Jemand hat einmal erzählt, sie sei wieder zum Theater gegangen. Aber nun weiß Marianne gar nichts mehr von ihr, sie weiß nicht einmal, ob ihre Mutter noch lebt.

»Ihre Mutter war eine schöne Frau«, sagt Herr Fieber, »Sie sind ihr sehr ähnlich. – Soweit ich mich entsinne«, fügt Herr Fieber hinzu.

Die Brillengläser werfen Strahlenbündel, sie blitzen wie die Lichter eines Autos, das in rascher Fahrt auf Marianne zukommt. Der Herr Landesschulinspektor mustert sie eingehend. Sie ist reizend, das kann man nicht leugnen. Aber er ist drauf und dran, ihr zu sagen, daß man nicht so anrückt, so herausfordernd nett angezogen, wenn man sich um eine Stelle als Lehrerin bewirbt. Da geziemt es sich – ja, der beleibte Mann am Schreibtisch weiß jetzt sehr genau, was sich geziemt, nach fünfundzwanzig Dienstjahren und zehn Jahren als Landesschulinspektor und mehrfachem Gesinnungswechsel.

Die Zeugnisse und das Gesuch möge Marianne also dalassen, und er werde sich nach Kräften einsetzen, obzwar er gleich sagen müsse, daß es seine Schwierigkeiten haben werde, weil der Andrang geradezu toll sei.

Die Erinnerung scheint den Herrn Landesschulinspektor also nicht eben stürmisch überwältigt zu haben, gesteht sich Marianne vor der Tür. Es wird immerhin gut sein, gleich einige andere Wege zu unternehmen, für den Fall, daß der Andrang gar zu toll wäre.

Da wäre ja noch der Vormund, der Herr Zahnarzt Doktor Sternschnupp, aber den läßt Marianne gleich wieder in die Versenkung rutschen. Den kleinen geretteten Rest des väterlichen Vermögens, von dem ihr Studium bestritten wurde, hat er ja redlich verwaltet, da ist nichts zu sagen. Aber als dann die Tante Emma starb und er ihr den Vorschlag machte, zu ihm zu ziehen, da waren seine Erläuterungen zu diesem Anerbieten so seltsam handgreiflich geworden, daß es Marianne nicht schwer geworden war, es abzulehnen.

Marianne stürzt sich also nun auf den Anzeigenteil der Zeitung. Er hat freilich ein ganz einseitiges Gesicht, dieser Anzeigenteil; es ist merkwürdig, wie viele Stellen gesucht und wie wenige angeboten werden. Und auch sie kommen für ein junges Mädchen, das etwas auf sich hält, nur in Auswahl in Betracht. Immerhin will Marianne nichts unversucht lassen. Sie wandert in entlegene Gassen, sie steigt viele Dutzende von Stockwerken auf und ab, sie drückt die Klinken vieler hochmütiger, abweisender Türen nieder, die ihr von vornherein ins Gesicht sagen: Bemühe dich erst nicht!

Und es ist auch wirklich immer schon jemand vor ihr dagewesen, wie das die Leute nur machen? Wenn Marianne vom noch druckfeuchten Morgenblatt spornstreichs wegläuft, immer war schon jemand vor ihr da. Oder die Stelle ist so, daß es nicht geht, daß es wirklich nicht geht. Gewisse Sachen sind für ein Mädel eben einfach unmöglich.

Und dabei schwindet das Geld dahin. Du lieber Gott, ein Monatsgehalt, auf drei Monate gestreckt, schließlich kommt doch der letzte Schilling dran.

Bevor es soweit ist, nimmt Marianne zwei der kärglichen Tageshäuflein und macht noch einen Versuch. Sie vermehrt die Zahl der Stellengesuche um eines und bietet sich selber aus. Was kann sie? Sie kann alles, was man lernt, um Lehrerin sein zu können, sie versteht etwas von Kindererziehung, sie kann vollkommen Französisch und Englisch, sogar etwas Tschechisch, was halt so in der gemischtsprachigen Heimat hängengeblieben ist, sie kann recht gut Klavier spielen ...

Aber Erzieherinnen, die Französisch und Englisch sprechen, gibt es offenbar in rauhen Mengen, nach Tschechisch scheint keine sehr rege Nachfrage zu sein, und Klavierspielen ... ach du meine Güte, wer lernt denn heute noch Klavierspielen? Man dreht an einem Knopf, die kleine Scheibe leuchtet auf, und man fängt sich von irgendwoher Musik ein, der ganze Äther wimmelt ja von Musik.

Marianne Mack fragt am Schalter der Zeitung vergebens, ob etwas für M. M. 20 gekommen sei. Nichts ist gekommen. Drei Tage lang fragt Marianne, dann gibt sie es auf, wer in aller Welt kümmert sich jetzt noch um ein drei Tage altes Stellengesuch.

Und dann ist das Geld wirklich zu Ende.

Übrigens erhält sie am selben Tag, an dem sie das letzte Häuflein Groschen zu sich steckt, ein Schreiben vom Landesschulrat mit dem Bescheid, daß leider derzeit keine Stelle frei sei, daß man aber Fräulein Marianne Mack als Bewerberin vorgemerkt und daß man inzwischen bis auf Abruf ihre Zeugnisse zurückbehalten habe. Der Andrang scheint also wirklich sehr toll gewesen zu sein, und da ist es wohl gleichgültig, in welcher Schublade ihre Zeugnisse ruhen, in der ihren oder in der des Landesschulrates.

Nun ist Marianne soweit, irgendeinen Unsinn zu machen. Jemand sucht ein schlankes junges Mädchen von gefälligem Äußeren zu künstlerischen Darbietungen. Marianne ist jung, sie ist schlank, sie ist noch schlanker geworden in diesen letzten Hungerwochen, und sie glaubt auch, im Besitz eines gefälligen Äußeren zu sein. Es fragt sich, woraus die künstlerischen Darbietungen bestehen.

In einem verwahrlosten Vorstadthaus, dem man ansieht, daß es von ausdauernden Umsonstmietern bewohnt wird, steigt Marianne die ausgetretenen Treppenstufen hinan. Von den Wänden ist der Bewurf abgefallen, es riecht nach Kohl und angebrannter Milch, schmutzige Kinder spielen auf den Gängen.

Auf Tür 37 im dritten Stock ist eine kleine Blechtafel mit gestanzten Buchstaben befestigt, wie man sie früher in Automaten auf Bahnhöfen selbst herstellen konnte. »Siegfried Kondor« steht darauf, »Professor der Bauchredekunst und höheren Magie«. In dieses Gebiet fallen also offenbar die künstlerischen Darbietungen, für die ein junges Mädchen gesucht wird.

Ein alter Herr öffnet, ein freundlich aussehender alter Herr mit einem schneeweißen Bart und mit langem, zurückgekämmtem, schneeweißem Haar. Er macht einen netten, gutmütigen Eindruck, dieser alte Zauberer mit seiner weißen Künstlermähne.

»Ich komme wegen der Anzeige ...«, sagt Marianne.

»Ja ... ja«, und der alte Herr führt sie durch die dunkle Küche in ein nur wenig helleres Wohnzimmer. Außer den nötigsten altersschwachen Einrichtungsstücken stehen da noch allerhand absonderliche Dinge herum, kleine Tischchen und Schränke, und Pistolen liegen da und Zylinderhüte, und das sind wohl alles des Herrn Kondors Zaubergeräte. Und die zwei Turteltauben in dem Käfig sind die geheimnisvollen Wundervögel, die plötzlich aus dem Zylinder herausflattern, wenn Herr Kondor die Pistole abschießt.

»Es waren schon einige Bewerberinnen da ...«, sagt Herr Kondor.

Natürlich, es war also schon wieder jemand vor Marianne dagewesen.

»Worum handelt es sich eigentlich?« fragt Marianne.

Der alte Zauberer betrachtet Marianne sehr genau vom Kopf zu den Füßen. Nicht begehrlich mit gestielten Männeraugen, sondern streng sachlich auf ihre Eignung für die vorläufig noch unbekannten künstlerischen Darbietungen hin.

»Ja, ich brauche eine junge Dame für eine Programmnummer. Sehen Sie diesen Würfel da ...« Er schiebt einen Holzwürfel vor Marianne hin, eigentlich eine Kiste, oben offen, außen und innen mit buntem Papier beklebt und mit vielen unregelmäßig angebrachten Löchern in den Seitenwänden. »Und nun nehme ich diese eisernen Spieße hier und stecke sie kreuz und quer durch diese Löcher ...« Es sind vielleicht fünfzehn solcher Spieße mit scharfen Spitzen, sie bohren sich durch die eine Seitenwand ein und kommen zur andern heraus, scheinbar ganz regellos, und das ganze Innere des Würfels ist von einem Wirrwarr von Eisenstäben erfüllt.

»Was soll denn ich bei dieser Programmnummer?« fragt Marianne.

»Sie sollen in dem Würfel drin sitzen«, sagt der alte Zauberer augenzwinkernd.

In diesem Würfel? Da hat doch kein Mensch darin Platz, wenn er leer ist ... und gar wenn die Spieße hindurchgesteckt sind, das ist doch unmöglich ...«

Der Zauberer kichert vergnügt: »Oh, es geht, es geht ganz gut. Es ist gar kein Schwindel. Sie sitzen wirklich drinnen, nur ein kleiner Trick ist dabei. Sie müssen eine ganz bestimmte Haltung einnehmen. Im Anfang ist es etwas unbequem, aber man gewöhnt sich daran. Die Spieße gehen an Ihrem Körper vorbei, und Sie sitzen mit angezogenen Beinen dazwischen. In ein paar Tagen haben Sie es weg. Meine letzte Dame im Würfel ist leider ein wenig dick geworden ... aber ich denke, Sie haben die richtige Gestalt dazu, schlanke Hüften, einen geschmeidigen Körper ... wir können es gleich versuchen, wenn Sie wollen.«

Der alte Zauberer geht mächtig ins Zeug; er ist ganz Feuer und Flamme, noch nie hat er eine Dame von so gefälligem Äußeren in seinem Würfel sitzen gehabt.

Gleich? Nun, das käme etwas plötzlich, meint Marianne, und sie müsse sich immerhin an diesen Gedanken erst gewöhnen; ihre bisherige Verwendung liege von diesem Gebiet ziemlich weitab.

»Ich will Sie ja nicht drängen«, sagt der alte Herr etwas betrübt und streicht die weiße Künstlermähne zurück; ganz rührend hilflos sieht er aus, dieser Meister über eine verstaubte und verblichene Zauberwelt. »Ich fände sehr bald eine andere ... es melden sich sicher heute noch einige Damen ... aber ich will bis morgen auf Sie warten, überlegen Sie sich's.«

Marianne verspricht, daß sie sich's überlegen wolle.

Aber an der Tür, da hängt Herr Siegfried Kondor noch einen Köder an den Angelhaken: »Und wenn Sie sich eignen, so könnten Sie ja auch bei anderen Nummern mitwirken. Es macht sich immer gut, wenn man eine junge Dame als Gehilfin hat. Zum Beispiel schieße ich das Ei von Ihrem Kopf ... ganz ungefährlich natürlich! Darüber ließe sich doch reden ...«

Neue lockende Möglichkeiten also, fabelhafte Aussichten auf ein Wunderland, gleich neben den Schießbuden und der Grottenbahn im Prater.

Marianne trottete stadtwärts, zur Straßenbahn reicht's nicht, sie hat noch fünfzig Groschen, soviel kostet ein Mittagessen im vegetarischen Speisehaus »Iduna«. Suppe und Kohlschnitzel, genug für vierundzwanzig Stunden. Und es zeigt sich, daß es gut ist, die letzten Groschen gerade für ein Mittagessen im Speisehaus Iduna anzuwenden.

Denn wie Marianne mit ihrem Teller von der Speiseausgabe kommt, wer sitzt am selben Tisch, an dem sich Marianne niederläßt? Magda Kaspar, Landsmännin aus Olmütz. Schulfreundin, Studentin der Chemie, ein oder zwei Jahre jünger als Marianne. Zwei Jahre nach dem Kalender und zwanzig jünger an Erfahrungen. Wenn zwei dasselbe tun, so ist es nicht dasselbe. Wenn Magda Kaspar hier sitzt, so ist es sicher nicht deshalb, weil sie nur mehr fünfzig Groschen hat, sondern aus Grundsatz. Schon als Kind hat sie immer geweint, wenn sie einen Kälberwagen auf dem Weg zum Schlachthof gesehen hat.

Und sie freut sich, sie freut sich aufrichtig über dieses Zusammentreffen, die gute treue Seele. Nein, so was, Magda ist heute nur zufällig hier, weil sie gerade in dieser Gegend zu tun hatte, sie ißt sonst im vegetarischen Speisehaus Ceres – und nun trifft sie gerade heute und hier Marianne Mack. »Und wie geht es dir?«

Wie es Marianne Mack geht? Nun, selbstverständlich geht es Marianne blendend.

»Bist du noch bei dem Doktor ... ich glaube, Klimsch heißt er?«

Nein, bei Doktor Klimsch ist Marianne nicht mehr, sie hat kündigen müssen, es war mit den Kindern gar zu arg. Sie war einige Zeit stellenlos, aber nun hat sie Aussicht auf einen neuen Posten. Morgen schon soll sie ihn antreten.

Äußerlich ist Marianne gar nichts anzumerken. Sie ist ebenso schneidig angezogen wie immer mit all den Zutaten eines jungen Mädchens von Welt. Man müßte schon sehr genau hinsehen, um an gewissen kleinen Spuren zu merken, daß Marianne nicht den allerletzten Schrei der Mode mitmachen kann, ja daß ihre Kleidung den ersten Glanz bereits verloren hat.

So genau kann das ja Magda Kaspar mit ihren kurzsichtigen Augen gar nicht ausnehmen. Aber sie hat so etwas wie ein zweites Gehör, sie hat ein Ohr für Zwischentöne, für das, was gar nicht ausgesprochen wird.

Und nun müßte ja Marianne eigentlich sagen: Dieses ist mein letztes Mittagessen. Und ich muß mich morgen entweder entschließen, einem kindischen alten Mann, der in einer verschollenen Welt lebt, sein Brot verdienen zu helfen, oder ich muß damit anfangen, meine Sachen ins Versatzamt zu tragen. Ich kann ja meinen Wintermantel ganz gut entbehren, es geht mit dem Herbstmantel auch, wenn ich darunter eine Strickweste anziehe.

So müßte Marianne sprechen, wenn sie aufrichtig wäre. Aber wie kann sie Magda Kaspar gegenüber aufrichtig sein, die ja das Haus Mack noch gekannt hat, als es in Glanz und Gloria stand und Marianne die Prinzessin darin war. Sie schweigt also darüber. Dennoch muß Magda mit ihrem zweiten Gehör etwas von diesem Geschwirr innerer Stimmen vernommen haben, denn sie fragt mißtrauisch: »Was für ein Posten ist denn das?«

»Ach«, sagt Marianne obenhin, »ich weiß noch gar nicht, ob ich ihn überhaupt annehme.« Wer kein zweites Gehör hat, der möchte glauben, daß sie ein ganzes Kartenspiel von Posten in Händen habe. Und dann lenkt sie ab: »Und was hast du den Sommer über gemacht?«

Ja, wenn diese Frage an Magda gerichtet wird, dann kann sie loslegen. Diesen Sommer? Diesen Sommer sind ganz große Dinge geschehen, ob denn Marianne nichts davon gelesen hat, es hat ja sogar in den Zeitungen gestanden. Auf dem Grünseekamm ist eine Schutzhütte gebaut worden, aus eigener Kraft der Ortsgruppe, nur für gewisse Arbeiten haben die Zimmerleute kommen müssen. Und Magda ist dabei gewesen. Mit Valerie Mayrhofer hat sie den jungen Leuten gekocht. Fabelhaft schön und lustig ist das gewesen.

Es ist gut, daß Magda so kurzsichtig ist und nicht sehen kann, wie Marianne die Nase rümpft. Für Berge hat Marianne nun einmal gar nichts übrig.

Magda fällt aus einem Entzücken ins andere. Diese Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge und diese Farbenspiele überhaupt und die zarte Blumenwelt des Almbodens, lauter Wunder. Und immer diese gewaltigen Bergriesen rundum, das Hochgrindeck, die Gabelspitze, das Totenhorn und noch ein Dutzend andere. Und diese gemütlichen Hüttenabende. Der Bircher Schnacksele mit seinen Gsangeln, also zum Wälzen manchmal. Sogar die Regei hat über ihrem Strickstrumpf manchmal das Gesicht verzogen, als ob sie lachen müßt'. Dann hat sie aber nur um so grimmiger dreingeschaut. Und jetzt steht die Hütte fertig, es handelt sich nur um die Inneneinrichtung, die muß erst noch zusammengebettelt werden. Der Saliger meint ...

»Der Saliger?« beugt sich Marianne vor.

»Ach natürlich, der Saliger ... hab' ich das noch nicht gesagt? Unser Landsmann Saliger ... der ist doch Obmann der Ortsgruppe und hat das Ganze geleitet, vom Kopetzky, den kennst du ja auch, sind die Pläne, der Lobgesang wird Hüttenwart, aber der Saliger hat die Leitung, und er meint ...«

Es gibt der Magda Kaspar einen Ruck, und sie verstummt. Sie schaut in diesem Augenblick geradezu dumm aus. Manche Leute haben das so an sich, daß sie gerade dann dumm aussehen, wenn ihnen etwas Gescheites eingefallen ist. Und Magda hält das, was ihr eben eingefallen ist, für etwas besonders Gescheites. Aber Vorsicht, um Gottes willen, nur Vorsicht, kein Wort davon, damit Marianne nichts merkt. Magda kennt die Schulfreundin zur Genüge, sie kennt ihren unbändigen Stolz. Sie weiß, daß sie mit zusammengebissenen Zähnen nein sagen würde, wenn sie merkt, daß jemand Vorsehung spielen will. Und das ist hier nötig, denn Magda gibt sich natürlich keiner Täuschung hin, was es mit dem Posten auf sich hat, von dem die Marianne redet.

»Ja«, sagt Magda behutsam, »der Saliger meint, daß die Hütte noch vor Weihnachten eröffnet werden kann, und dann kann ja gleich der Wintersport angehen dort oben.«

Marianne schüttelt sich bei dem Gedanken daran. Sie hat auch für Schnee und Eis und Winterkälte nichts übrig.

Dann sind die beiden Mädchen mit dem Essen fertig und müssen gehen, denn hinter ihren Stühlen haben sich schon wieder andere angestellt und warten auf die Plätze.

»Kommst du mit mir?« fragt Magda, »ich muß ins Laboratorium.«

Ach nein, Marianne hat zu tun, sie kann nicht mitgehen. Sie hat genug von dieser Schwärmerei von den Bergen, vom Schlafen im Heu, vom Bircher Schnacksele und vom Saliger.


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