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Es war schön da heroben

Von Klausen-Oberberg nach Annaberg verkehrt jetzt ein Autobus. Die Jahnhütte ist stark in Schwung gekommen seit dem großen Ereignis des vorigen Jahres und ist nun in aller bergbeflissener Menschen Mund. Sie beschäftigt die alpine Phantasie vieler Leute, und kühne Pläne fliegen um die Totenhorn-Südwand. Der Durchstieg ist jedoch bisher noch nicht wiederholt worden. Nun ist die hinterwäldlerische Gegend auch von der Köb entdeckt worden, sie hat aus der vermehrten Nachfrage ihre Folgerungen gezogen und läßt ihre Kraftwagen zwischen der Bahnstation und Annaberg laufen.

Es ist auch nicht mehr bloß ein Bahnbediensteter da, sondern deren zwei – außer dem Mann mit der roten Kappe –, und nun erregt auch ein Reisender mit Koffern kein Aufsehen mehr; im Gegenteil, es steht immer jemand bereit, für den Fall, daß ein Reisender fragen sollte, ob denn niemand da sei, der ihm den Koffer an den Autobus tragen könnte.

Ja, der Bahnhof Klausen-Oberberg ist auf dem richtigen Weg, seinen Anteil am Weltverkehr zu nehmen, und auch Annaberg hat sich mächtig entwickelt. Marianne Mack erfährt das gleich beim Aussteigen. Der Kraftwagen hält vor der Post. Sie liegt auf dem kleinen Dorfplatz, der Pfarrei gerade gegenüber, und um die Ankunftszeit des Wagens steht der Pfarrer immer auf der Treppe seines Hauses und schaut nach den Ankömmlingen aus. Es ist das eine neue Gewohnheit von ihm und geschieht nicht etwa aus müßiger Neugierde, sondern weil er hier unten sozusagen der Hausherr ist und meint, es schicke sich so.

Er deckt die Hand über die Augen, und dann macht er die paar Schritte über den Platz hinüber und begrüßt Marianne. »Daß man Sie auch einmal wieder sieht, Fräulein Mack!«

Damit hat es angefangen, denkt Marianne, hier unten mit dem Pfarrer hat es angefangen.

»Ein bissel schmal sind Sie geworden«, sagt der Pfarrer, »nun ja, die Schulstubenluft ... da oben auf dem Berg war es freilich anders.«

Marianne meint, ihr Beruf als Lehrerin fülle sie vollkommen aus und mache ihr Freude.

»Nun ja, nun ja ... freilich. Ist auch was Schönes. Aber für uns sind Sie nun einmal der Pionier der neuen Zeit. Sie haben unsere Bergeinsamkeit der Welt erschlossen. Wer hätte damals, als Sie im Schneesturm hier ankamen, gedacht, daß schon heuer ein Autoverkehr eingerichtet sein würde. Ja, ja, unsere Zeit geht mächtigen Schrittes voran. Es heißt, daß der Autoverkehr auch im Winter nicht eingestellt werden wird. Und wissen Sie schon, daß die Jahnhütte vergrößert wird?«

Davon hat Marianne noch nichts gehört, aber es war ja wohl auch schon im vorigen Jahr manchmal ein wenig enge dort oben.

»Wenn das so weitergeht, dann steht in einigen Jahren ein Berghotel auf dem Grünseekamm. Und auch hier ... der Lammwirt hat fünf Fremdenzimmer eingerichtet, natürlich keine Luxusräume, aber immerhin ... man kann jetzt ganz bequem bei ihm herbergen. Sie bleiben doch wohl über Nacht hier in Annaberg. Ich kann Sie ja leider nicht zu mir einladen ...«

»Ich danke Ihnen, Hochwürden ... ich will gleich aufsteigen.«

»So ... so ... nun ja«, räuspert sich der Pfarrer, »mit dem Übernachten bei mir ist es ja nun vorbei. Ich habe es ja gern getan ... hm ... aber meine geistliche Oberbehörde hat ein Haar darin gefunden. Man hat es mir verboten, Fremde im Pfarrhaus aufzunehmen. Reisende beherbergen, recht schön! ... aber es wäre doch ein zu weltlicher Betrieb, meint die Oberbehörde ... unschicklich für einen Pfarrer. Und nun ist ja auch der Lammwirt da ...«

»Ich erinnere mich gern an den Abend und die Nacht unter Ihrem Dach.«

»Ja?« sagt der Pfarrer erfreut, »ich habe es ja auch von Herzen gern getan. Und – aufrichtig gesagt: ich war auch traurig, daß ich es nun nicht mehr tun soll. Aber: wenn mir Gott diese eine Freude genommen hat, so hat er mir eine andere dafür gegeben. Haben Sie noch so viel Zeit, mit mir einen Sprung in meine Kirche zu machen? Sie sind gewiß noch oben, ehe es dunkel wird. Nur einen Augenblick ... ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

Marianne kann dem alten Herren seine Bitte nicht abschlagen, sie gehen über den Friedhof, und der Pfarrer öffnet die kleine Seitentür seiner Kirche. Es ist eine bescheidene, schlichte Dorfkirche mit alten geschnitzten Bänken und einer Kanzel, auf deren knolligen Wolkenballen, anzusehen wie überlebensgroße Bauernknödel, ein halbes Dutzend Engelsbuben sitzt. Ein Arm mit einem Kruzifix ragt seitwärts heraus. Der Pfarrer führt Marianne vor den Altar.

»Sehen Sie das Bild an!« sagt er stolz.

Es ist ein feines, stilles Bild, eine altmeisterlich gemalte Madonna mit einem länglichrunden Gesicht, das hell aus einer gefältelten Krause vorschaut. Sie lächelt zu dem Knaben nieder, den sie an der Hand hält, und der sich nach den Blumen zu seinen Füßen bückt. Es ist eine bunte Bergwiese, durch die Mutter und Kind schreiten, und im Hintergrund wachsen blaue zackige Berge empor.

»Mein Vorgänger«, sagt der Pfarrer, »war ein kunstfeindlicher Mann. Er soll eine ganze Anzahl schöner Werke an Museen verkauft haben, er hatte kein Verständnis für solche Dinge. Und nun habe ich auf dem Dachboden unter altem Gerümpel dieses Bild gefunden. Es war ganz verstaubt und vor Schmutz unkenntlich. Aber irgendwie war ich doch überzeugt, daß an diesem Bild etwas Besonderes sein muß ... es war eine Ahnung, ich bin ja auch kein Kunstgelehrter, aber das Bild ließ mir keine Ruhe. Ich habe es auf meine Kosten reinigen lassen ... und nun, da hängt es. Was sagen Sie?«

»Es ist ein wunderschönes, ganz frommes Bild«, bekennt Marianne ehrlich.

»Nicht wahr?« sagt der Pfarrer erfreut. »Kein Mensch hätte das unter dem Schmutz vermutet. Mir hat es eine innere Stimme gesagt. Eine Menge kunstverständiger Fremder haben es schon betrachtet, und sie waren alle begeistert. Den Meister kennt man nicht ... aber sehen Sie das Bild nur an, wie es gemalt ist. Und noch eine Besonderheit ist daran ... schauen Sie nun einmal die Berge an! Bemerken Sie nichts?«

»Nein«, sagte Marianne.

»Das sind doch unsere Berge hier«, trumpft der Pfarrer auf, »unsere Berge! Und der in der Mitte, das ist doch das Totenhorn. Gerade mit der Südwand schaut es her ... das Totenhorn. Ihr Berg!«

»Es kann wohl sein«, sagt Marianne leise, »ja, jetzt erkenne ich es.«

»Hier, also hier an Ort und Stelle hat es der Meister wohl gemalt. Vielleicht war es ein Votivbild für eine Rettung aus Bergnot ... ich bin ja sehr traurig gewesen, als man mir verboten hat, Fremde bei mir aufzunehmen ... aber dann bekam ich ja dieses Bild als Ersatz ... nun darf ich nicht mehr murren ...«

Ja, und nun glaubt Marianne auch zu verstehen, warum der Pfarrer auf der Treppe seines Hauses die Ankunft des Autobus abwartet. Er wartet wohl auf Fremde, denen er mit seinem Bild eine Freude machen kann, da er ihnen keine Gastfreundschaft mehr bieten darf.

»Ich verstehe es sehr gut«, sagt sie, »daß Ihnen dieses Bild viel bedeutet.«

Aber dann muß sie doch wohl gehen, wenn sie noch vor Nacht in der Jahnhütte sein will. Sie stellt ihren Koffer beim Lammwirt ein, und dann tritt sie den Aufstieg an. Sie steigt so rüstig, daß es noch heller Abend ist, als sie auf die Alm kommt. Die Almhütte liegt noch genau so schwarz und verräuchert wie früher in der weichgeschwungenen Mulde am Grünsee, aber die Jahnhütte ... nun, die ist wirklich drauf und dran, sich großartig auszuwachsen. Man hat ihr ein Stockwerk aufgesetzt, und außerdem hat man seitlich einen Anbau auszuführen begonnen, der wohl eine Veranda werden soll.

Die Regei ist gleich ihrer Almhütte gegen früher gänzlich unverändert. Sie kommt in ihren Männerhosen und mit dem Strohhut daher, sie stapft, einen gewaltigen Topf in den Händen, durch den Sumpf des Schweinekobens und schüttet die Abendmahlzeit in die Tröge. Man braucht sie nur anzusehen, um zu wissen, daß sie das neumodische Wesen in ihrer Nachbarschaft aufs äußerste mißbilligt und verachtet. Sie schaut auch nicht auf, als Marianne daherkommt; was gehen sie die Leute an, die auf die Jahnhütte wollen?

Erst als die Hunde zu toben beginnen, wird die Regei aufmerksam. Was ist denn mit den verrückten Kötern los? Sie strolchen den ganzen Tag auf der Almwiese herum, haben ihren Spaß mit den Kühen, manchmal verschwinden sie auch auf Stunden oder halbe Tage, dann machen sie Besuche in der Nachbarschaft, Gott weiß wo, oder jagen auf eigene Faust. Sie kommen wieder, liegen faul in der Sonne oder graben nach Feldmäusen. Caruso ist immer der Anführer, und Flock, mit seinen krummen Beinen, dem Gamsbart unter dem Kinn und dem Eichhörnchenschwanz, fügt sich willig seiner geistigen Überlegenheit.

Wenn sie da sind, und es kommt ein Fremder auf die Jahn-Hütte zu, dann fahren sie auf ihn los und bellen, als wollten sie ihn in Stücke reißen. Das halten sie wohl für ihre Pflicht, und die Regei tut nichts, ihnen bessere Manieren beizubringen; mögen sie die Fremden verbellen, soviel ihnen beliebt. Sie stürzen sich bellend auch auf das fremde Weibsbild, das da kommt, aber auf einmal wird aus dem Gekläff ein Heulen und Winseln, ein ausgesprochenes Freudengetöse, und als Regei aufschaut, da springt der Caruso wie irrsinnig nach dem Gesicht der Frauensperson und wimmert vor übergroßem Glück, und der Flock macht es ihm nach und hopst auf seinen krummen Beinen, so gut er kann.

Diese Rabenviecher ... was haben sie denn? warum tun sie nur gar so bekannt? Auf einmal weiß es die Regei. Das ist ja ... du lieber Himmel ... das ist ja die Fräul'n Marianne. Und da kommt sie auch schon, von den Hunden umsprungen, durch den Sumpf auf die Regei zu. Die Marianne ... und das ist so ziemlich der einzige Mensch, den Regeis Augen hier oben gern sehen. Der Kümmerer, der mag noch angehen, aber so wirklich freuen können sich die Augen der Regei nur, wenn sie Marianne erblicken.

»Daß d' wieder da bist«, sagt die Regei und macht ein Gesicht wie siebentausend Teufel, »kimmst halt nachschaun, gelt?«

»Ja, ich möchte mich noch einmal bei euch umschauen«, sagt Marianne.

»Siegst es ja, wie's da zugeht. Bauen tun s' halt und kimma dö Fremden immer mehr«.« Sie stößt den Kopf wütig gegen die Jahnhütte, auf deren neu aufgesetztem Stockwerk ein grünes Tannenbäumchen prangt, zum Zeichen der Vollendung.

Marianne muß die Hunde abwehren, sie hat um und um schon eine ganze Menge schmutziger Pfotenabdrücke auf dem Kleid. »Jetzt schaut's, daß weiterkimmt's, ös Rabenviecher«, schreit die Regei und greift nach dem Besen.

»Sie freuen sich halt«, meint Marianne und lächelt ein ganz klein wenig.

Die Regei schweigt eine Weile und schaut sich inzwischen Marianne gut an. »Und bleibst jetzn wieda da herobn bei inst? fragt sie.

Es wäre ihr ein Trost, wenn Marianne nun frisch und fröhlich ja sagen würde. Aber Marianne schüttelt den Kopf: »Ja, Regei, das geht wohl nun nicht mehr. Ich bin doch jetzt an einer Schule, und wenn die Ferien vorbei sind, warten die Kinder auf mich.«

»Ja ... ja«, denkt die Regei nach, »weilst halt jetzn a Fräul'n Lehrerin bist. I hab' glaubt, daß d' leicht jetzt wieder bei ins bleibst. G'fallt's d'r halt in der Stadt besser.«

Nein, das kann Marianne nicht auf sich sitzen lassen, daß es ihr in der Stadt besser gefallen soll. »Es war schon schön da heroben, schöner kann's schon anderswo nimmer sein.« Und sie sieht ganz so aus, daß man es ihr aufs Wort glauben muß. »Aber damit ist's ja jetzt leider vorbei.«

Ist das noch dieselbe Marianne, die einmal auf der Hütte die Hauserin war? Nicht die Marianne, die sie zuerst gewesen ist, die feine, die ihre Nase so hochmütig in die Luft gesteckt hat. Und auch nicht die, die sie nachher war, mit der braunen Haut und den Augen voll lichtem Himmel und weißer Wolken und Widerschein des Grünsees. Nein, das ist wieder eine andere Marianne, die der Regei noch unbekannt ist, gar nicht mehr so frisch und fröhlich wie dazumal, sondern ein trüber Tag, jawohl, ein grauer Regenhimmel. Diese Stadtmenschen, der Teufel soll sich in ihnen auskennen! Das Leben ist doch so einfach, im Sommer wird das Vieh auf die Alm getrieben, im Herbst wird es abgetrieben, es hat alles seine feste Ordnung mit Melken und Buttermachen und Schweinefüttern, die Stadt bringt die Menschen nur in Verwirrung.

»Ja, damit ist es jetzt vorbei«, sagt Marianne leise, »und ich bin nur da zum Abschiednehmen ... Na«, unterbricht sie sich, »und wieviel Kühe hast du denn heuer heroben?«

Sie erkundigt sich nach allem, nach dem Bauern, nach dem Stier, der schon ein tüchtiger Kerl geworden ist, nach dem Kümmerer, und die Regei gibt mürrische Auskunft. Sie hat etwas von Abschied gehört, und so dumm ist sie nicht, daß sie nicht verstünde, warum Marianne alldem nachfragt. Ist wohl nur, weil sie nicht selbst viel gefragt werden will.

Und dann geht Marianne, Caruso auf den Fersen, zur Jahn-Hütte hinauf.

Von Helene Böhmer, der Nachfolgerin, wird sie herzlich begrüßt. Die Helene hat die Hütte voller Gäste, einige schlafen sogar in den neuen Zimmern, obzwar sie noch gar nicht eingerichtet sind. Die Helene hat auch eine Hilfe, ein Bauernmädel aus Annaberg, allein könnte sie es wohl gar nimmer dermachen.

So unbändig sie sich freut, aber sie kann sich Marianne nicht nach Wunsch widmen, sie muß ab und zu laufen, sie hat nur gerade so viel Zeit, Marianne zu sagen, wie dankbar sie ist, daß Marianne gerade sie vorgeschlagen hat. Sie ist überaus glücklich, sich in diesem Wirkungskreis betätigen zu dürfen, sie hofft, daß ihr Bräutigam im nächsten Jahre auch seinen Urlaub auf der Hütte verbringen wird.

»Sie bleiben wohl einige Tage bei uns?« fragt sie und tut Preiselbeeren zu dem Rehbraten, den ein Herr Sektionsrat bestellt hat. »Es ist nur, damit ich mir's mit den Zimmern einteile.«

»Nein«, sagt Marianne, »morgen muß ich wieder fort.«

Sie bekommt ein gutes Zimmer, ganz allein für sich. Das kann Helene schon einrichten, aber es erleichtert sie immerhin, daß es nur für diese Nacht sein soll.

Marianne nützt freilich das Zimmer in dieser Nacht nicht sehr aus. Als Helene sich nach dem Abflauen des Betriebes nach Marianne umsieht, ist sie nicht zu finden. Jetzt, da die Hüttenruhe beginnt, hätte Helene endlich Zeit zu einem kleinen Plausch mit Marianne, und nun ist Marianne nirgends zu sehen.

Ja, Marianne sitzt um diese Zeit auf dem Hügel über der Hütte. Sie sitzt neben dem großen Felsblock auf der Bank, die einmal, vor Jahrtausenden, Mariannenruhe getauft worden ist.

Es ist eine stille, dunkle, milde Sommernacht. Zwei Stimmen halten Zwiesprache, die ferne, gedämpfte, das Urwelttosen des Wasserfalles, und die nahe, trauliche, menschenfreundliche, der Brunnen da unten. Der Himmel funkelt von unzähligen Sternen. Ob es wieder so viele sind wie in jener Nacht des Sieges über die Totenhorn-Südwand? Man kann es nicht wissen, wie viele Sterne aus dieser unzählbaren Schar inzwischen untergegangen sind, geborsten in einem ungeheuren Andrang eigener entfesselter Kräfte, zerschmettert im Zusammenprall mit anderen Weltkörpern. Vielleicht sind andere Sterne dafür wieder entstanden, herausgeschleudert aus riesenhaften Muttersternen, geboren aus der Zusammenballung von glühenden Gasnebeln. – Es ist wohl ein Irrtum, ein sehr menschlicher Irrtum, zu glauben, daß in dieser Sternenwelt alles unwandelbar und in der Ewigkeit verankert sei. In Wirklichkeit ist wohl auch diese Welt da oben voll Tumulte und Leidenschaften und Dämonen der Vernichtung, genau wie die kleine Menschenwelt. Und sicher ist auch das Böse dort oben ebenso mächtig und mächtiger als das Gute.

Dort drüben liegt das Totenhorn, ein schwarzer Klumpen unter dem Sternenhimmel, die Südwand, auf der sich Mariannes Schicksal entschieden hat.

Hätte Marianne vielleicht jetzt in Leoben ihre Rechnung vorweisen sollen? Hat ihr Saliger vielleicht ein festes Versprechen gegeben? Ein herrlicher Auftritt, wenn sie dort an den Weinschank herangetreten wäre, mit Mahnungen und Forderungen und Verlangen nach Rechenschaft wie ein verlassenes Dienstmädchen. Sie hat offenbar etwas für selbstverständlich gehalten, was der andere keineswegs für selbstverständlich gehalten hat. Ein bedauerlicher Irrtum – ihrerseits. Jawohl.

Marianne sitzt auf der Bank und starrt die Totenhorn-Südwand an, und es ist ihr, als gewöhnten sich ihre Augen an das Dunkel, und als trete jetzt im Sternenlicht das Bild der Wand immer deutlicher hervor. Sie kann ungefähr den großen Riß erkennen und die Pfeilerköpfe und die weißen Firnfelder. Vielleicht ist auch gar nichts anders geworden, das Sternenlicht ist gar nicht so stark, daß man irgend etwas erkennen könnte. Es ist vielleicht nur ein innerer Vorgang. Der Berg ist nach wie vor eine klumpige Masse Schwärze, und was Marianne sieht, ist eine Art Gespenst, das Gespenst der Totenhorn-Südwand, das sie selbst beschworen hat.

Ein rasender Schmerz zerfleischt sie mit eisernen Krallen. Sie weiß erst jetzt, wie sehr sie Saliger geliebt hat und wie sie von ihm erfüllt war. Es ist ihr, als trete ihr dies nun erst in seinem ganzen Umfang und seiner ganzen Schwere ins Bewußtsein. Und nun ist dort, wo die blühende Welt dieser Liebe war, eine gähnende Leere, ein Abgrund.

Marianne sitzt in der Nacht dem Gespenst der Totenhorn-Südwand gegenüber und hegt Mordgedanken. Es ist nötig, unerläßlich nötig, diese Liebe zu ermorden und die Leiche in den Abgrund zu schleudern, aus dem es keine Wiederkehr gibt. Sie verwünscht diese Liebe und alles, was mit ihr zusammenhängt und -hing. Sie verwünscht vor allem diese Totenhorn-Südwand, auf der die große Täuschung ihren Anfang genommen hat. Mag sie mit Unglück und Verderben verflucht sein, Mißlingen soll auf ihr ruhen und Vernichtung von ihr ausgehen. Alles, was Marianne an Ingrimm und Wut und Haß in sich hat, schleudert sie gegen die Wand, strahlt es in sie hinein und durchtränkt den starren Fels mit ihrem Groll und ihrer Bitterkeit.

Plötzlich lacht sie so laut auf, daß Caruso, der auf der Bank neben ihr liegt, erschreckt auffährt. Er stemmt die Pfoten gegen ihren Schoß und schnuppert beunruhigt an ihrem Gesicht herum. »Lächerlich!« sagt Marianne, »nicht wahr, Caruso, lächerlich? Da glaube ich, ich bringe etwas Lebendiges um, und werfe doch nur eine Leiche ab, eine verwesende Leiche, die ich mit mir herumgeschleppt habe. Aus damit.«

Wie lange hat Marianne nun hier auf der Bank Mariannenruhe gesessen? Sie weiß es nicht, es ist auch gleichgültig. »Nun wollen wir schlafen gehen, nicht wahr, Caruso?«

Einen Rest der Sommernacht verbringt Marianne nun doch im Bett, aber wie ihre wachen Augen, die sich nicht für eine Sekunde geschlossen haben, das erste Morgenlicht erspähen, steht sie wieder aus. Sie geht, von Caruso, der nicht von ihrer Seite weicht, begleitet, zum Grünsee hinüber. Aus dem Bodennebel heben sich die Leiber der ruhenden Ruhe wie rostbraune Erdhügel, und die Wasserfläche des Sees ist dünn verschleiert. Die Südwand ist von der Ostseite her von einem kalten, unerbittlichen Licht bestrahlt, das an jede Falte und jeden Vorsprung einen blauen Schatten klebt. Riesenhaft bäumt sich die Wand vor Marianne empor. Sie legt den Kopf zurück, sie mißt mit spöttisch verzogenem Mund die Höhe und ruft sich den Weg, ihren Schicksalsweg, ins Gedächtnis zurück. Dann wandert sie weiter im Geröll des Schuttkegels zwischen dem Ufer des Sees und dem Fuß der Wand. Die Sonne klimmt stetig über die Kämme im Osten und umgibt Marianne mit einer rosafarbenen Lichtflut.

Da trifft aus dem Schatten zu ihren Füßen ein nadelspitzer Lichtblitz Mariannes Auge. In einer kleinen Grube unter einem geröllbedrohten Latschenbusch liegt ein Ding, das sich einen Bruchteil des Morgenlichtes eingefangen hat und Mariannes Auge zuwirft. Marianne bückt sich und zieht das Ding aus seinem Versteck, Marianne lacht kurz auf.

Ist es nicht auch wirklich zum Lachen, daß dieses Ding, das sich da zu Mariannes Füßen gemeldet hat, Saligers Fernglas ist? Es fiel vor Jahrtausenden von der Wand herab. Fiel in weichen Schnee, blieb unversehrt und sank dann mit dem schmelzenden Schnee zu Boden, unter einen Latschenbusch, der es verdeckte, auf daß es zu dieser Stunde von Marianne gefunden würde.

Und nun hält es Marianne in der Hand, dieses Fernglas, Valeries Geschenk an Saliger, und wendet es hin und her. Es ist unversehrt geblieben, nur ein wenig Rost hat sich an den Metallteilen angesetzt, aber die beiden Gläser starren Marianne an, zwei große, spiegelnde, geheimnisvolle Augen. Sie geht langsam zum Seeufer hinunter, schaut noch einmal in diese gläsernen Augen, dann holt sie weit aus und wirft das Glas im hohen Bogen in den See.

Caruso hält den Wurf wohl für ein vergnügliches Spiel, er watet bellend ins seichte Wasser und schwimmt dann im Tiefen eine Weile suchend im Kreis herum. Aber er kommt zu spät, das Ding, das da hinausgeschleudert wurde, ist längst versunken und ruht nun wohlversorgt in der Umarmung des Grünsees.

War es darum, daß Marianne zu dieser Stunde hierherkommen mußte? Es wird wohl so sein, und nun kann sie ja zur Hütte zurückkehren.

Helene ist schon unter vollem Dampf. Sie hat den Betrieb in Gang gesetzt und füttert die Frühaufsteher ab, die sich bald auf den Weg machen wollen.

»Waren Sie schon am Grünsee?« fragt sie Marianne im eiligen Vorbeisausen. »Wer hat die Eier bestellt?«

Für Marianne ist hier nichts weiter zu tun. Ihre Zeit ist gekommen, es handelt sich nur mehr darum, ohne Aufsehen zu entwischen. Caruso ist ein Hindernis, er würde es sich nicht nehmen lassen, Marianne überallhin zu begleiten, er wäre imstande, bis Annaberg und vielleicht noch weiter mitzulaufen.

»Komm, Caruso!« lockt Marianne und geht zum Ziegenstall hinüber. In der Dämmerung stehen vier Ziegen, es finden sich hier oben offenbar viele Liebhaber für Ziegenmilch ein. Die Tiere wenden Marianne die bärtigen Köpfe zu und meckern leise.

Mariannes Fuß stößt an etwas an, und das ist ein kleines Schüsselchen mit Milch. Ach, hat also Helene den Brauch übernommen? Vielleicht hat auch ihr der Kümmerer etwas vom Hüttenmanndl erzählt? Und Helene stellt ihm fromm und gläubig sein Schüsselchen mit Milch hin, auf daß es der Jahnhütte günstig gestimmt sei. Wozu braucht die Jahnhütte ein Hüttenmanndl? denkt Marianne, wozu braucht die Jahnhütte Glück? Sie stößt das Schüsselchen mit dem Fuß um, daß die Milch über den Lehmboden rinnt, und dann tritt sie mit dem Absatz die Schüssel entzwei. Die Scherben knirschen unter ihrem Schuh.

So, nun ist ja Marianne hier wohl vollends fertig. Sie wartet einen Augenblick, bis Caruso im hintersten Stallwinkel herumschnuppert, dann ist sie mit einem Schritt bei der Tür draußen und schließt sie hinter sich ab. Und nun rasch, ehe Caruso durch Kratzen und Winseln auf sich aufmerksam macht.

Sie geht den Hüttenhügel hinauf, an der Bank Mariannenruhe vorüber, jenseits den Hang hinunter und umkreist die Alm in weitem Bogen. Ihren kleinen Rucksack hat sie gleich morgens umgehängt, sie nimmt von niemandem Abschied, von niemandem, auch nicht von der Regei.


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