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Es kommen allerhand Leute auf die Jahnhütte.
Der Kümmerer hat die Post aus Annaberg mitgebracht. Unbekannte und Bekannte melden sich an, es sieht nach Hochbetrieb aus.
Marianne hat Wäsche gewaschen, sie steht oben auf dem Hügel über der Hütte und hängt die großen Stücke auf die Leinen, damit sie in Sonne und Bergwind bleichen und trocknen.
Jemand jodelt lungenkräftig am Waldrand unten, und das kann nur der Bircher Schnacksele sein. Aber Marianne schaut sich gar nicht um, sie zupft die Leintücher zurecht und steckt sie mit den Wäscheklammern an.
Nach einer Weile kommt der Kümmerer, schaut zu und raucht seine Pfeife: »Also jetzt ist er da!« sagt er.
Die Marianne muß erst die Wäscheklammern aus dem Mund nehmen: »Wer denn?«
»No wer? Der Saliger natürli. I hob doch gestern die Karten aufibracht.«
»So!« sagt die Marianne gleichgültig. Endlich aber wird sie mit dem wäscheaufhängen fertig und steigt zur Hütte hinunter.
Der Saliger, der Bircher Schnacksele und Herr Siegfried Rummel sitzen auf dem Aussichtsbänkchen, und auf dem Tisch vor ihnen stehen drei Bierflaschen.
»Also laß dich anschauen, Marianne«, sagt der Saliger, »gut schaust du aus. Sehr gut!«
Er nimmt ihre Hand und beschaut sie außen und innen, er mustert Marianne von oben bis unten. »Lächerlich«, sagt er zum Schnacksele, »was ist denn das für ein Blödsinn?«
»Ich hab' dir's doch gleich gesagt«, erwidert der Schnacksele, »und gewiß war der Brief von niemand anderem als von dieser albernen Gans ... von dieser unausstehlichen Person ... prost, Marianne!« sagt er und trinkt ihr zu.
Marianne hat keine lange Leitung, sie ahnt, wer mit dieser albernen Gans gemeint sein könnte. Indem kommt Magda Kaspar aus der Hütte und freut sich furchtbar, Marianne wiederzusehen, und schiebt ihren Arm unter den Mariannes, und nun gehen die zwei miteinander ein Stück den Hang hinauf und haben sich mächtig viel zu erzählen.
Der Saliger ist nun mit allem fertig, und seinen Doktor hat er auch gemacht. Vorgestern hat er promoviert, die ganze Ortsgruppe war dabei. Ja, wenn der Saliger einmal etwas anpackt, so wird es auch eine ganze Sache, darauf kann man sich verlassen! Und eine Stellung hat er auch schon, er geht zur Industrie, ins Rechtsbüro eines großen Eisenwerkes. Andere junge Leute müssen, wenn sie fertig sind, jahrelang herumlungern, sie klopfen an ein paar Dutzend Türen und hören überall das gleiche: kein Bedarf! Aber vor Saliger springt eine Tür gleich von selbst auf, wie durch Zauberei: Bitte schön, wollen Sie nur eintreten, wir haben schon auf Sie gewartet! »Der Saliger, der hat's in sich«, sagt Magda und leuchtet dabei über das ganze Gesicht. Sie bewundert auf der ganzen Welt niemand so sehr als Saliger, er ist zäh und entschlossen, und darum fliegt ihm auch alles von selber zu.
Sie sitzen oben neben dem großen Felsblock auf der Bank, die der Kümmerer dort angebracht hat. Marianne hat die Hütte die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen. »Und wo steckt denn die Valerie?« fragt sie jetzt.
»Die Valerie?«
»Nun ja ... es hat doch die ganze Zeit über geheißen, daß sie mittun wird, wenn der Saliger nun das Totenhorn angeht.«
»Ach, die Arme«, sagt Magda ehrlich betrübt, »denk dir ... das Pech, das sie hat. Sie war natürlich auch bei der Promotion dabei, und wie sie nachher die Treppe hinuntergeht, rutscht sie irgendwie aus und stürzt und bricht sich die Kniescheibe, ganz greulich. Und nun liegt sie in Gips und kann nicht mit dabei sein ...«
»Da kann sie einem leid tun«, sagt Marianne, »ich dachte, sie wäre mitgekommen ... Der Franz hat sie ja angekündigt.«
»Ach, wo sie doch jetzt in Gips liegt ... das wird wochenlang dauern. Der Saliger aber gönnt sich gerade nur die paar Sommerwochen Ferien, im Herbst will er ja in die Gesellschaft eintreten ... übrigens, es ist Valeries Onkel gewesen, der ihm die Stellung verschafft hat. Aufsichtsrat oder was er dort ist.«
»So«, meint Marianne, »es ist doch immer gut, wenn man so hochmögende Verbindungen hat.«
Jetzt kommen der Saliger, der Schnacksele und der Kümmerer den Hang hinauf. Saliger hat ein funkelnagelneues Zeißglas, so ein richtiges Wunderglas, einen »Zuwizarrer«, wie der Kümmerer meint, weil es einem die Berge so zuwizarrt, daß man glaubt, jeden Stein mit den Händen greifen zu können. Von hier oben übersieht man die Totenhorn-Südwand in ihrer ganzen grauenhaften Erhabenheit, und die drei fangen auch gleich an, den Weg zu suchen, auf dem sie erstürmt werden kann. Sie sind nicht einer Meinung, der Kümmerer ist für den Einstieg links von dem großen Riß, der die Wand von oben bis unten spaltet. Saliger und Schnacksele halten dafür, daß es rechts besser gehen möge.
»Na«, sagt Saliger und reicht Marianne das Glas, »schau auch einmal durch. Das hat mir Valerie zur Promotion geschenkt.«
Marianne setzt das Glas flüchtig an die Augen. Ganz schreckbar nahe sind die Abstürze und Schroffen und Überhänge, an die sich Saliger wagen will.
»Ich danke«, sagt Marianne und gibt das Glas zurück, »ein sehr gutes Glas.«
»Das glaub' ich«, lacht Saliger, und dann machen sie sich wieder an die Untersuchung der Wand, »wir werden ihr schon beikommen«, sagt Saliger mit Nachdruck, »rechts herum wird es gehen.«
Magda und Marianne sind hier überflüssig, sie stören nur, diese Beratung ist Männersache. Und Marianne verstehe ohnehin nichts von solchen Dingen, meint Magda. »Nun, wie fühlst du dich hier oben?« fragt Magda, »du hast doch früher gar nichts für die Berge übriggehabt!«
»Ich habe mich daran gewöhnt!«
Da drückt Magda Mariannes Arm, denn sie hat ja hier ein wenig Vorsehung gespielt und war immer etwas bange, daß die Sache am Ende schief gehen könnte. Nun freut sie sich, daß alles in Ordnung ist, und ist dankbar dafür; sie hat ein Gemüt, das immer gern für irgend etwas dankbar ist.
Wie Marianne dann ein wenig später mit dem Milchkrug von der Alm bei dem Aussichtstischchen vor der Hütte vorbeikommt, sagt Siegfried Rummel, der noch immer dort sitzt: »Das ist also jetzt derjenige, welcher ...«
Marianne bleibt stehen: »Was meinen Sie denn?«
Rummel deutet mit dem Kopf nach dem Hügel, auf dem sich jetzt Saliger scharf gegen den Himmel abhebt. Saliger zeigt mit erhobenem Arm nach irgendeiner Stelle der Wand. »Steht er nicht da wie der Bergführer auf dem Saussure-Denkmal in Chamonix?« Sie soll nur wissen, daß er auch sein Stück Welt kennt, nicht nur den Kundenkreis seiner Firma in den großen Städten, sondern auch sonst noch einiges.
»Nun, ich beginne einzusehen, daß ich hier keine andere Aussicht habe als die auf die Berge.«
»Wenn Sie auf etwas anderes gerechnet haben, so können Sie ruhig wieder absteigen. Aber vielleicht machen Sie doch einen Versuch ... Sie können sich ja anschließen, wenn Saliger die Totenhorn-Südwand angeht.«
»Ich danke«, sagt Rummel kalt, »ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich schon anständige Berge gemacht habe. Aber ich bin kein Turmkraxler, und der ganze Schwindel mit den Mauerhaken kann mir gestohlen werden ...«
Marianne nimmt den Milchkrug, den sie solang auf den Tisch gesetzt hat, wieder auf: »Ich würde an Ihrer Stelle darüber erst dann reden, wenn ich einmal dabeigewesen bin ...«
Was nützt Herrn Rummel jetzt seine schneidige Ausrüstung aus dem ersten Wiener Sportgeschäft, was nützen ihm seine großen Reisen und früheren Bergbesteigungen, was nützt ihm seine große Belesenheit und allgemeine Bildung. Nichts, gar nichts, hier ist er der Niemand, und die andern sind die Helden, und hier dreht sich alles um die Totenhorn-Südwand.
Es ist nur sonderbar, daß Marianne, wenn sie es mit Saliger zu tun hat, gar nichts von Bewunderung und Hochachtung merken läßt, die sie etwa dem Unternehmen entgegenbringt.
Am Abend sitzen sie wieder zum Kriegsrat beisammen, Saliger, der Schnacksele und der Kümmerer. Magda Kaspar sitzt dabei, mit weit aufgerissenen Augen und angehaltenem Atem, und horcht auf jedes Wort wie auf eine göttliche Offenbarung. Für sie ist der Sturm auf die Totenhorn-Südwand das größte alpine Unterfangen aller Zeiten. Marianne aber geht ab und zu und horcht gar nicht hin; sie hat eine schnippisch-überlegene Miene aufgesetzt, als handle es sich um ein Kinderspiel, das ungemein wichtig genommen wird, und dem der erwachsene Mensch keine Beachtung zu schenken braucht.
Heute ist Kriegsrat, die richtige Arbeit geht erst morgen an, der heutige Abend ist der letzte, an dem das Bierverbot nicht gilt. Der Bircher Schnacksele hat einen wunderschönen Durst mitgebracht und sitzt mit der Zeit hinter einem Verhau aus leeren Bierflaschen. Seine Wangen glühen wieder wie Alpengipfel über dem Latschengestrüpp seines Andreas-Hofer-Bartes, und seine lustigen Äuglein funkeln.
»Jetzt geh her da«, ruft er Marianne an, »und setz dich zu uns.«
»Es sind noch andere Gäste da als ihr«, antwortet Marianne. Drüben sitzen sie, ein ganzer Tisch voll Durchgangswanderer, Leute, die morgen wieder weiter wollen, und sie beschäftigen Marianne mit ihren Wünschen zur Genüge. Sie haben erfahren, was die drei dort planen, und schauen nun scheu und andächtig hinüber. Kleine Leute, die sich bescheiden zur Seite halten müssen, wenn die Helden der Berge beraten.
»Wissen Sie«, sagt Herr Rummel, der sich zu ihnen gesellt hat, »man hat mich aufgefordert, mitzumachen. Man hätte sich vielleicht ganz gern meine Erfahrungen zunutze gemacht, denn ich habe meine Erfahrungen mit den Bergen, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, vielleicht mehr als irgendein anderer hier. Aber ich habe auch meine Grundsätze, und der oberste Grundsatz ist, der Mensch versuche die Götter nicht! Hab' ich nicht recht? Das Unmögliche zu versuchen, ist nicht mehr Sport, das ist Blödsinn. Es ist Selbstmord, und schließlich hat man doch auch eine gewisse Verpflichtung gegen sich selbst und seine Angehörigen ...«
»Jetzt geh her da, Marianne«, ruft der Schnacksele noch einmal, »und erzähl, wie war das mit dem Stier?«
Der Kümmerer hat natürlich die Geschichte von dem Stier erzählt, und nun möchte sie der Schnacksele noch von Marianne selbst hören. Aber Marianne hat keine Zeit, sie muß ab- und zugehen, und wie die Gesellschaft drüben endlich aufbricht, ist es zehn Uhr, und die Hüttenruhe ist da.
Jetzt sitzt nur mehr der Schnacksele auf der Ofenbank und möchte noch eine Flasche Bier, die allerletzte.
»Nix da!« sagt Marianne, »jetzt ist's zehn, und jetzt wird geschlafen.«
»Grausamkeit, dein Name ist Weib!« seufzt der Schnacksele und erhebt sich schwer.
»Du, Schnacksele«, fragt Marianne so nebenbei, »wie war das doch mit dem Brief?«
»Brief?« gähnt der Schnacksele, »was für ein Brief?«
»Na, der Brief doch ... von dem ihr gesprochen habt ... du hast da was von einer albernen Gans gesagt ...«
»Jawohl«, bestätigte der Schnacksele, »ist sie auch ... Denn warum? Schreibt da Briefe ... eine Anklageschrift ... hochnotpeinlich, sozusagen amtlich an die Gruppenleitung ... noch eine hohe Ehre für sie, wenn ich alberne Gans sage. Denn warum? Schau so einer Gans ins Auge ... und du wirst mehr Seele entdecken als bei diesem Frauenzimmer ...«
»Du meinst wohl diese Frau Rotter?«
»Gesegnet sei dein helles Köpfchen! Wen sonst? Natürlich kein Name unter dem Brief ... eine richtige Beschwerde, daß du in einem unmöglichen Aufzug herumläufst und den Leuten durch deine Zudringlichkeit zur Last fällst und dergleichen. Lavendel! Lächerlich ... Das mag ja einmal gewesen sein. Wenn man dich jetzt so anschaut und die Nase hinhält ... nichts als gute Luft und vielleicht ein bissel Milch und Ziege und Rauch und überhaupt Berg um und um ...«
Marianne reckt sich und stellt die abgespülten Gläser auf den Wandbord. »Und Franz ... also Saliger?« fragt sie so nebenbei.
»Ja, der Herr Obmann ... der hat zuerst eine Amtsmiene gemacht ... er hat dich ja zuletzt in deiner verflossenen Lavendelzeit gesehen. Aber wir sind alle für dich strammgestanden. Denn warum? Weil wir dich besser kennen ... und besonders Valerie ... sie hat gemeint, anonyme Briefe wirft man in den Papierkorb ... auch wenn da steht: ›Eine im Namen vieler‹ ...«
»So? Valerie?« sagt Marianne und streichelt Caruso, der aufsteht und einen Katzenbuckel macht, »aber jetzt vorwärts, Schnacksele ...«
»Also bitte«, murrt der Schnacksele, »zu einer Flasche Bier hätte es noch gereicht ... denn warum?«
Aber Marianne gibt keine Antwort mehr. Sie dreht einfach die Karbidlampe aus und knipst ihre Taschenlampe an, und damit ist endgültig Schluß.