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Marianne sitzt noch beim dünnen Tee, da kommt der Postbote und bringt eine Geldanweisung. Ein kleiner Schrecken fällt in die von gestern und nach dem schlaflosen Rest der Nacht noch müde Seele! Aber es stimmt, das Geld ist für Fräulein Marianne Mack, die Anweisung lautet auf sie, kein Zweifel. Ein namhafter Betrag, ungefähr das Doppelte des einstigen Monatsgehaltes bei Doktor Klimsch, eine Riesensumme für Marianne Mack. Der Absender: Archibald Douglas! Wer ist Archibald Douglas? Marianne kennt keinen Archibald Douglas – o ja, doch, der kommt doch in einer Ballade vor, sangbar gemacht durch Karl Löwe. Eine unbekannte Anschrift, ein Deckname also, aber für wen?
Irrtum ausgeschlossen, wer auch Archibald Douglas sein mag, Marianne Mack ist die postalisch befugte Empfängerin, sie muß das Geld behalten.
Gewissensbisse nagen an ihr. Gut, sie muß das Geld nehmen, aber sie tut es mit Vorbehalt. Wenn sie so viel verdient hat, daß sie etwas zurücklegen kann, und wenn sie einmal dahinterkommt, wer dieser Archibald Douglas ist, dann wird sie es selbstverständlich zurückzahlen – zuviel Wenns für eine glatte Sache.
Und gerade heute kommt Geld, das festigt den Boden unter Mariannes Füßen, gibt ihr ein Dach über dem Kopf, ein ganzes Haus baut dieses Geld, mit einem Ausblick aus den Fenstern auf freie Landschaft. Luft ist wieder da. Und gerade jetzt, nachdem sie gestern Franz Saliger zugesagt hat, als Wirtschafterin die Hütte auf dem Grünseekamm zu betreuen.
Nun könnte sie ja hingehen und Saliger sagen: Ich pfeif' dir drauf! Nein, nicht: ich pfeif dir drauf, aber: ich danke dir schön für deinen guten Willen oder so etwas.
Aber was würde da Saliger sagen? Er würde sagen: Ich hab' mir's ja gleich gedacht, und vielleicht wieder etwas von altmodisch und dergleichen.
Du kannst machen, was du willst, du kannst in einen anderen Menschen nicht hineinschauen. Der Mensch kann es ja kaum selber in sich, und so weiß auch Marianne nicht ganz genau, warum sie eigentlich so daran festhält, in ihrem Äußeren den jungen Damen zu gleichen, die durchaus glauben, zur Buntheit des Straßenbildes beitragen zu müssen. Mit Marianne ist es nun vielleicht so, daß sie all diese Dinge nicht preisgeben will, weil sie meint, damit auf das letzte Stück ihres Einst zu verzichten, da sie eine Fabrikantentochter gewesen war und eine Art von Prinzessin. Als alles noch Sonne und Blütenzauber war, hat sie darauf keinen Wert gelegt, nein, da konnte sie in einfachen Kleidern herumlaufen, es wußte daheim doch ohnehin jeder, wer sie war. Aber als dann der Zusammenbruch kam und das Verlassen der Heimat und der Tod des Vaters und das Brotstudium und dies alles, da ist es wohl so gekommen, daß Marianne es für nötig hält, zwischen sich und der fremden, feindlichen Welt Schranken aufzurichten. Sich ergeben hinzukauern und über den Niedergang zu seufzen und in bescheidenes Grau einzutauchen und Aschenbrödel zu spielen – nein, Herrschaften, da kennt ihr Marianne Mack schlecht! Das liegt Marianne Mack nicht. Lieber hungern als klein beigeben und sich sinken lassen. Nun erst recht nicht! Nun kann man ja sagen, daß es nicht auf das Aussehen ankomme, sondern auf die Leistung. Und das stimmt auch. Und natürlich hätte es Marianne vorgezogen, sich durch eine Leistung in der Welt auf den richtigen Platz zu stellen. Und wie ist das dann, wenn die Welt auf Mariannes Leistungen so ganz und gar nicht erpicht ist? Irgendwohin muß man sein Selbstbewußtsein doch retten, nicht wahr? So ist das mit Marianne Mack.
So ist das wohl mit Marianne Mack, und jedenfalls scheint es ihr angemessener, auf einem Fuß zu leben, der mit einem Stöckelschuh bekleidet ist, als auf einem mit breitem Absatz und Nägeln in der Sohle.
Und jetzt will Marianne Mack beweisen, daß sie trotz alledem sehr wohl imstande ist, eine Schutzhütte in Ordnung zu halten. Saliger hat ihr sozusagen einen Verweis erteilt, und nun ist es erst recht ganz selbstverständlich, daß sie ihre Front nicht um einen Zoll zurücknimmt.
Pünktlich am ersten November kommt das Gehalt, und nun schwimmt ja Marianne für ihre Verhältnisse in Geld. Nun könnte sie sich ja für den Winter in den Bergen ausrüsten. Aber sie löst nur den Wintermantel aus, das ja, und kauft ein paar Schneeschuhe; Schneeschuhe kauft man ja auch für die Stadt. Das ist alles.
Ende November wird sie durch einen Brief des Hüttenwartes Lobgesang daran erinnert, daß sie ihren Dienst am ersten Dezember anzutreten habe. Eine Fahrkarte bis Klausen-Oberberg liegt bei.
Bis Klausen-Oberberg sitzt es sich recht gut in dem geheizten Abteil mit den zwei Bilderzeitschriften und dem Band Raabe-Novellen, die Marianne mitgenommen hat. Es macht auch Spaß, heimlich zu beobachten, wie der Geschäftsreisende gegenüber seine Kalbsaugen herauswälzt. Aber seine Anläufe zu einer Unterhaltung werden nur zu einer Kette von Mißerfolgen.
»Gnädiges Fräulein fahren gewiß zum Sport in die Berge?«
»O nein.«
»In welcher Angelegenheit dann, wenn ich fragen darf?«
»Beruflich.«
Marianne liest im Raabe weiter, mag der Jüngling nun die ihm zugeworfene harte Nuß knacken.
»Ein zeitiger Winter heuer.«
»Hm!«
Nein, es ist mit Marianne nichts anzufangen, es macht nicht den mindesten Eindruck auf sie, daß der schmissige Jüngling Skiläufer ist und heuer Winterurlaub nimmt. Auch seine Ansichten über die Wiener Theater sind Marianne offenbar gleichgültig. Er hat noch, keine zehn Worte aus ihr herausgequetscht, da steigt sie in Klausen-Oberberg aus, der junge Mann darf ihr den Koffer nachreichen, das ist alles, was er durchgesetzt hat. Aber er winkt noch aus dem Fenster, und jetzt, da er in Sicherheit ist, wirft er Marianne noch eine Kußhand zu, der Frechling.
Nun steht sie allein auf dem zugigen Bahnsteig, niemand außer ihr ist ausgestiegen, und Marianne schaut sich nach jemand um, der ihr den Koffer tragen könnte. Du lieber Himmel, in Klausen-Oberberg, dort trägt jeder Reisende sein Gepäck selber auf dem Rücken. Dem Bahnbediensteten, der die Karten abnimmt, dauert es zu lang, bis Marianne den Bahnhof verläßt. Er kommt herbei und streckt die Hand aus.
»Ist denn kein Träger dar« fragt Marianne unmutig.
»Han?« fragt der Mann zurück.
»Jemand, der mir den Koffer tragen hilft.«
»Naa.«
Seit Menschengedenken ist es nicht vorgekommen, daß jemand auf dem Bahnhof Klausen-Oberberg ein solch ausgefallenes Verlangen geäußert hätte. Der Mann ist aber ein langsamer und gründlicher Denker, dieser merkwürdigen Sache muß nachgegangen werden: »Den Koffer da?« fragt er und zeigt auf das dickbäuchige Ungetüm zu Mariannes Füßen.
»Ja, den!« Marianne ist ein wenig ungeduldig, die Leute hier haben offenbar viel Zeit.
»Aha!« sagt der Mann und geht. Unter der Tür mit der Aufschrift: »Bahnamt. Eintritt nur im Dienst!« bleibt er stehen und kehrt wieder zurück, »wohin wollen S' denn dann nacher?« fragt er.
»Auf die Jahnhütte am Grünseekamm.«
»Aha!« meint der Mann und geht. Aber unter der Tür mit der Aufschrift »Bahnamt« besinnt er sich abermals und kommt noch einmal zurück. »Aber dös wern S' heunt schier nimmer dermachen. Sö wern froh sein, wenn S' bis Annaberg kommen. Gute drei Stund sein's hin.« Und damit ist der Fall für ihn erledigt, er geht endgültig ab und verschwindet im Bahnamt.
Ein eiskalter Wind fegt über den Bahnsteig und raschelt mit dem dürren Gerank des wilden Weines, der vom Vordach herabhängt. Zu Füßen Mariannes hockt unbeweglich der dickbäuchige Koffer, ein bösartiger, tückischer Gnom. Er verhöhnt Marianne, er kann das Lachen kaum verhalten, gleich wird er damit Herausplatzen. Noch jemand würde mit dem Lachen Herausplatzen, wenn er Marianne so verfroren und hilflos auf dem Bahnhof Klausen-Oberberg stehen sähe!
Aber eben diese Vorstellung führt die Entscheidung herbei. In einem Anfall von Wut packt Marianne den Koffer und stampft los. Vor dem Bahnhof hat der Wind einen Tanzplatz, er dreht sich da wie verrückt um sich selber und heult dazu. Auf der Straße hat er sich dann in seine Ordnung gefunden und bläst brav und unentwegt aus einer Richtung. Leider schiebt er nicht von hinten an, sondern braust Marianne breitbrüstig gerade entgegen. Sie muß sich fest anstemmen, um weiter zu kommen. Der Koffer hängt wie ein Bleiklumpen an ihrem Arm, und manchmal muß sie durch Wächten stapfen, die der wind über die Straße weht, wenn ihn die Laune anwandelt, von der Seite zu blasen. Auch das fällt ihm nämlich manchmal ein, dann steht Marianne in einem Wirbel von Schneestaub und sieht überhaupt nichts. Der lange schwarze Wintermantel weht hinter ihr her, die Eiskörner zerstechen ihr Gesicht. Die Augenwimpern kleben aneinander. Immer öfters muß Marianne keuchend stehenbleiben und den Koffer niederstellen, aber sie kann die verklammten Hände kaum mehr öffnen. Sie ist zur Zeit wohl das bejammernswerteste Wesen, das sich auf einer Straße befindet. Sie weint beinahe vor Mitleid mit sich selbst. Und sie kommt nur vorwärts, weil ihr Zorn ebenso groß ist wie ihr Mitleid, welche Niederträchtigkeit, ihr so etwas zuzumuten; sie hier in dieser gottverlassenen Gegend sozusagen auszusetzen, ohne für ihr weiterkommen zu sorgen! Und wenn sie dieses Elend nun satt bekäme, wenn sie sich nun einfach an den Straßenrand setzte und morgen gefunden würde, steif gefroren und tot; Recht geschähe es ihm, diesem gewissenlosen Menschen, der sie in diese Lage gebracht hat.
Nach einer Stunde ist sie wirklich beinahe so weit, daß ihr der Gedanke, an Saliger Rache zu nehmen, sehr nahegerückt ist, und da ist es vielleicht ein Glück, daß jetzt etwas anderes hörbar wird als immer nur das Gelächter und Fauchen des Sturmes. Zwischen zwei Posaunenstößen ein feines, zierliches Klingeln wie von Schellen. Dann kommt aus dem schon mit Dämmergrau vermischten Schneetreiben ein Schlitten hinter ihr her, fährt ein Stück vor und hält.
Ein Mann beugt sich heraus: »Wollen S' leicht nach Annaberg?« Dieses Frauenzimmer da, das sich bei sinkender Nacht im Schneesturm mit einem Koffer schleppt, muß wohl nicht recht im Kopf sein.
Marianne ringt nach Atem und kann gerade nur ja sagen.
»Steigen S' ein, i führ Ihner hin.«
Marianne ist grundsätzlich dagegen, sich Gefälligkeiten erweisen zu lassen, am wenigsten von fremden Menschen. Man weiß nie, mit wem man es zu tun hat und welche Verpflichtungen daraus entstehen. Aber Grundsätze hin, Grundsätze her, diesen Schlitten schickt der liebe Gott, Marianne steigt ein, und der Schimmel nickt dazu mit dem dicken, bereiften Kopf. Sie sitzt neben dem fremden Mann und teilt sich mit ihm eine gute, warme Decke. Knie an Knie sitzt sie mit ihm, und das Leben fängt wieder an, etwas freundlicher auszusehen.
Nach einer Weile weiß sie, daß es der Breitenecker aus Annaberg ist, mit dem sie fährt, und wieder eine Weile später weiß der Breitenecker einiges von dem, was mit diesem auf der Straße aufgeklaubten Frauenzimmer los ist.
»In Annaberg wollen S' übernachten?« fragt er.
Es würde wohl nichts anderes übrigbleiben.
»Ein Wirtshaus is ja da«, überlegt der Breitenecker, »aber dort sein keine Fremdenzimmer. Es kemmt ja eh 's ganze Jahr koa Fremder net zu ins.«
Schöne Aussichten also auf Heustadl oder eine Schütte im Kuhstall.
»Vielleicht daß der Herr Pfarrer Ihnen bei eam übernachten laßt«, meint der Bauer.
»Meinetwegen beim Herrn Pfarrer, wenn ich nur unterkomm.« Wieder eine Gefälligkeit, aber Marianne ist nun schon heute einmal im Annehmen von Gefälligkeiten drin.
Jetzt funkeln manchmal Lichtlein her, hier eines, dort eines, dann gesellen sich längs der Straße Häuschen zueinander, der Schlitten holpert über gefrorene Furchen und klingelt um die Kirche herum vor ein breites Haus mit mächtigem Schneedach. Zwei Minuten später steht Marianne in der warmen Pfarrstube, und der Herr Pfarrer sagt: »Ja, freilich können Sie bei mir übernachten. Ich hab' ja heut schon einen Gast, aber Sie werden sich ja miteinander vertragen.«
Der andere Gast ist auch ein junges Mädchen. Es sitzt am Tisch unter der Hängelampe und stellt aus Aufzeichnungen auf losen Blättern eine Liste zusammen. Dicke Wolljacke, Lodenrock, weiße Zöpferlstrümpfe, dazu unförmige Fleckerpotschen: Marianne übersieht dies alles mit einem Kennerblick. Von dem Gesicht ist nichts Besonderes auszusagen, es rundet sich rot und wetterfest um eine etwas knollige Nase, aber die Augen sind beachtenswert, sie schauen ruhig und offen und besitzergreifend geradeaus, und der Mund mit seinem kräftigen Schnitt paßt gut dazu.
Und jetzt lächelt das Mädchen Marianne freundlich an; das ist auch ein gutes Lächeln, als seien die Fremde und Marianne längst Gott weiß wie bekannt, und es bestätigt die vom Pfarrer ausgesprochene Hoffnung freundlichen Vertragens.
»Jetzt geh i halt«, sagt der Breitenecker, der Marianne zum Pfarrer gebracht hat. Er geht, und nimmt einen schönen Dank mit. In der Tür wendet er sich noch einmal um. »Und dem Kümmerer wer i's halt bestellen, daß er Ihnen morgen aufibringt.«
»Es war wirklich ein bissel leichtsinnig von Ihnen«, meint der Pfarrer mit einem leisen Vorwurf und einem Blick auf Mariannes unzulängliche Ausrüstung, »bei uns in den Bergen muß man auch im Tal vorsichtig sein. Voriges Jahr ist auf demselben Stückl von Klausen herein ein Häusler erfroren. Beim Bildstöckel, nur eine Viertelstunde von hier, hat's ihn eingeweht. Ein Guglhupf von Schnee, und wie die Leut nachschauen, sitzt der alte Loisl drin. Und oben auf dem Grünseekamm ist's natürlich noch härter.«
Und dann sagt der Pfarrer noch: »In der Stadt kann man sich das vielleicht nicht so vorstellen.« Aber da sieht er, was für ein trotziges Gesicht die Marianne aufgesetzt hat, und denkt: Hallo! Er weiß zwar nicht, was für ein Justament dahintersteckt, und daß dieses Mädchen so störrisch geworden ist, weil es schon einmal einen Verweis bekommen hat, aber er denkt sich doch seinen Teil, denn er sitzt jetzt an die dreißig Jahre hier in der Einöd und hat es mit vielen Menschen zu tun gehabt, krummen und geraden, widerspenstigen und solchen, die man um den Finger wickeln kann.
Daß die Marianne nicht um den Finger zu wickeln ist, das hat der Pfarrer schon weg, und so macht er sie jetzt lieber mit Helene Böhmer bekannt, seinem anderen Gast, mit dem Marianne heute die Kammer teilen wird. Und dann bringt das alte Weiberleut, die dem Pfarrer die Wirtschaft führt, die dampfende Milchsuppe herein und das Roggenbrot, die Butter und den Honig. »Ein Bauernnachtmahl halt«, lädt der Pfarrer ein, »anders haben wir's nicht.«
Das alte Weibsstück ist kein feuriger Drachen von Pfarrersköchin, sondern die Schwester des geistlichen Herrn, und ein Abglanz der Sonne in seinem Gemüt glänzt auch über ihre Seele hin; sie freut sich auf eine stille, aufmunternde Weise, daß es den beiden Gästen so gut schmeckt. Beim Honig kommt der Pfarrer natürlich auf die Bienen zu sprechen, denn es sind seine Bienen, von denen der Honig kommt, und da ist der Pfarrer in seinem Fahrwasser. Ein merkwürdiges Volk, diese Bienen, alles ist genau geregelt, jede hat ihre Aufgabe, und sie müssen, vom Leichten zum Schweren, alles durchmachen, was in so einem Stock zu tun ist. Zuerst die Kinder hüten und die Kinderstuben putzen, dann Waben bauen, dann am Flugloch Wache halten, dann erst dürfen sie zum Sammeln ausfliegen. Ob sie Gott gleich so geschaffen hat, wie sie jetzt sind, oder ob sie das nach und nach so gelernt haben? Wie die Menschen etwa, die ja auch immer weiter um sich greifen und dem Alten immer Neues hinzufügen? Zu seiner Zeit, da er als Kooperator nach Annaberg kam, da hat zum Beispiel noch kein Mensch daran gedacht, auf die Berge zu steigen aus keinem anderen Grund, als um oben gewesen zu sein.
Als es neun Uhr schlägt und der Pfarrer die Pfeife weglegt, steht Helene Böhmer auf. Sie hat gestern schon hier übernachtet und kennt den Hausbrauch. Gute Nacht allerseits!
Mit der Kerze geht Helene voran, eine hölzerne Stiege hinauf. Die Gastkammer ist ein kleiner Verschlag mit zwei netten Betten; im Ofen hat ein Feuerlein gebrannt, das ist jetzt ausgegangen, aber es ist immerhin noch einige Wärme zwischen den Bretterwänden.
Helene Böhmer löst zwei dürftige Zöpflein aus dem Knoten, sie hat keinen Bubikopf, sie hat noch Zöpfe, klein, aber mein.
»Ach, wissen Sie«, sagt sie, »nein, Sie wissen nicht, wie sehr ich Sie beneide. Sie werden da oben sein in der großartigen Einsamkeit. Sie werden Zwiesprache mit der Ewigkeit halten und nichts hören von diesem häßlichen Treiben da unten.«
Ja, so redet diese Helene Böhmer, etwas überschwenglich, nicht wahr? was soll man dazu sagen? Man kann nur still sein und vielleicht etwas überlegen dreinschauen.
»Ich möchte gleich mit Ihnen tauschen«, sagt Helene Böhmer begeistert.
Da muß man doch wohl nach dem Beruf fragen, den dieses Mädchen ausübt.
»Ach ... sehen Sie, ich bin verlobt, und mein Verlobter ist krank und verdient nichts, da muß ich dazusehen. Man muß nehmen, was sich einem bietet.«
So ist es, wer wüßte das besser als Marianne Mack?
»Das da«, sagt Helene Böhmer, greift in den Rucksack und zieht ein Buch heraus. »Es ist ein Buch mit vielen Bildern der Organe des Menschen und mit Zeichnungen, wie man Verbände anlegt und Umschläge macht. ›Das Große Gesundheitsbuch‹. Es steht alles drin, was man vom gesunden und kranken Menschen wissen muß. Damit gehe ich von einem Dorf zum andern und überrede die Bauern, es zu kaufen. Der Bauer will doch von keinem Arzt was wissen, da kauft er eher noch ein solches Buch, aber man muß ihm lange Zureden und sich viel gefallen lassen. Das Schönste daran ist, daß man überall hinkommt ... bis zu den letzten Höfen.«
Sie erwartet nun vielleicht eine Äußerung Mariannes, aber da Marianne nur stumm in dem Musterbuch blättert, sagt Helene Böhmer etwas bewegt: »Sie dürfen nicht glauben, daß ich damit etwas Schlechtes tue. Im Gegenteil ... es ist ein gutes Buch, und den Arzt würden sie ja doch nicht holen.«
»Man kann vielleicht auch auf diese Weise Gutes stiften«, sagt Marianne endlich. Ja, gewiß, das ist auch ein Beruf, das »Große Gesundheitsbuch« zu verkaufen. Gewiß! und vielleicht hätte sich ein solcher Beruf auch Marianne geboten, vielleicht hätte man daran denken sollen.
»Aber ich möchte doch gleich mit Ihnen tauschen«, seufzt Helene noch einmal.
Marianne schielt hinüber, wie sich die Schlafgefährtin zu Bett legt. Sie macht es so, daß sie über das Nachthemd eine Wolljacke anzieht. Und da tut Marianne desgleichen, sie zieht ergeben ihre Wolljacke über Spitzen und Batist, denn es wird schon kühl in dem Bretterverschlag, und der Wind winselt um das Fenster und stößt einen kalten, nadelscharfen Strahl von irgendwoher durch eine Fuge über das Bett hin.
Die ganze Nacht über winselt, bellt und krakeelt der Wind vor den Fenstern und weckt Marianne zwanzigmal auf.
Aber der Morgen ist blau und voll harter, blanker Sonne.
Sie sitzen noch bei der Morgensuppe, da scharrt es vor der Tür. Ein breitschultriger untersetzter Mensch bringt einen tüchtigen Schupps eisiger Kälte mit. Gelobt sei Jes' Christus, und da war er, der Kümmerer, und wann's der Fräuln recht war, nacher könnt ma's angehn.
Ja, es war ihr recht, sie wäre bereit, sagt Marianne, nun schon wieder obenauf und munter wie ein Kanarienvogel. Räuspert sich der Kümmerer: Ob die Fräuln so in den dünnen Strumpferln und dem langen Mantel ...? Es wär halt ein damischer Schnee überanander auf den Bärensattel überi ...
»Es muß auch so gehen«, beharrt die Fräuln, und der Herr Pfarrer nickt dazu mit dem Kopf, denn so viel hat er jetzt schon heraus, das ist eine, die muß alles selber ausprobieren, der nützt kein guter Rat.
So kriegt er sein Vergelt's Gott, was anderes wehrt er ab. Christenpflicht, und er möchte nur ein ums andere Mal wieder so liebe Gäste! Wenn jemand was übriges tun wollte, bei der Kirche käme man ja ohnehin vorbei, und wenn wer da hineinschauen wollte ... gleich links bei der Tür, da wäre so ein kleines Büchserl ... der Kirchen tät ein neuer Dachstuhl dringend not.
Die Marianne und die Helene Böhmer werfen jede eine kleine Gabe in das Büchserl, und vor der Kirchentür reichen sie einander die Hände: »Auf Wiedersehen!« Das sagt sich so glatt heraus, und es denkt keine von ihnen, es könnte wirklich einmal sein.
Die Helene Böhmer trabt auf ihren stämmigen Beinen mit Nagelschuhen, den Rucksack auf dem Rücken, die Bestellungen auf das »Große Gesundheitsbuch« im Büchel, talaus, denn hier ist Annaberg, da ist Schluß, es kommt weiter oben nichts mehr.
Nichts als die Schneewildnis, und in die muß jetzt Marianne hinein; gleich hinter der Kirche geht's an, ein Stück'l zwischen zwei Zäunen noch, am Breiteneckerhof vorbei und dann schon eine steile Wiese hinan. Der Kümmerer, den Koffer am Buckel, steigt voran, hinter ihm die Marianne in Schneeschuhen, aber das sieht sie schon sehr bald ein, die mögen ganz gut für die Stadt sein, hier hätten so ein paar Trampeln Schuhe wie die der Helene Böhmer das größere Recht.