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Vom alten ins neue Jahr

Hütteneröffnung ist eine Woche vor Weihnachten gefeiert worden, und da schließen einige gleich den Festtagsurlaub daran.

Die Studenten haben ja Ferien, die können ohne weiteres hier oben bleiben, sie haben jetzt unten nichts zu tun, bis auf die natürlich, die ihrer Prüfungen wegen in der Stadt bleiben müssen. Oder angeblich ihrer Prüfungen wegen.

Sie haben ihre Bretteln mitgebracht und zerstreuen sich in Gruppen dahin und dorthin nach lockenden Zielen. Bis zum Grünseekamm kommen auch die Minderbegabten, das ist keine besondere Leistung, und dort ist ein Skigelände, in dem man sich nach allen Richtungen austoben kann. Der Bircher Schnacksele macht mit den Erprobten das Hochgrindeck und die Gabelspitze und noch ein halbes Dutzend anderer Gipfel im Hüttenbereich; und einmal führt er auch eine Gruppe über den Grünseegrat von Norden her auf das Totenhorn. Von Norden her ist das Totenhorn nicht schwerer zu machen als irgendein anderer der Hüttenberge. Dort ist es ja auch nicht gerade gemütlich, aber es läßt mit sich reden. Seine Raubtierfresse bleckt der Berg gegen Süden.

Schaudernd schaut Magda Kaspar die Wand hinunter, die ihre 1100 Meter abstürzt bis zur Geröllhalde über der Grünseemulde.

»Ob die der Saliger wird machen können?« wendet sie sich an Lobgesang, und der meint: »wenn es einer kann, dann der Saliger. Mit seinem neuen Knoten ...«

Am Abend ist immer Hüttenzauber mit Tee und Glühwein und Gesang und langen fachmännischen Auseinandersetzungen. Vom Saligerknoten ist oft die Rede, das ist ein neuer Seilknoten, den der Saliger erfunden hat.

Der Saligerknoten? Der große Alpinist Rotter hat auch schon etwas davon läuten gehört, aber kann sich nichts Rechtes darunter vorstellen.

Ja, das ist auch eine ganz neue Sache, ein Jahr hat der Saliger daran gearbeitet, und es ist eine ganz unerhörte Erfindung, geistvoll und dabei einfach, wie alle geistvollen Erfindungen. Alle Fachleute, denen er bisher vorgeführt worden ist, sind davon begeistert. Sie sagen, man könne sich kaum vorstellen, wie man bisher ohne diesen Knoten habe auskommen können.

Der Bircher Schnacksele will dem großen Alpinisten Raimund Rotter den Saligerknoten vorführen. »Sehen Sie, so und so ... in diese Schleife kommt das Ende, nicht wahr? Ganz einfach ... und nun, damit der Knoten aufgeht ... hier an diesem Ende ein Zug ...« Der Bircher Schnacksele zieht an dem Ende, aber dem Knoten fällt es gar nicht ein, aufzugehen, er zieht sich nur noch fester zusammen; der Schnacksele versucht es mit dem anderen Ende, da verwirrt sich der Knoten noch mehr, wird ein steinharter Knäuel, ein ganz naher Verwandter vom Gordischen Knoten ...

Und Marianne Mack, die dabeisteht, kriegt einen Lachkrampf.

»Da gibt's gar nichts zu lachen«, sagt der Schnacksele wütend, »ich hab' natürlich noch nicht die Übung ...«

Und nachher muß er eine geschlagene halbe Stunde mit dem Seildorn arbeiten, ehe der Saligerknoten wieder gelöst ist.

Der große Alpinist Rotter muß also wieder zu Tal, ohne das Geheimnis des Saligerknotens erforscht zu haben. Er hat zwar die Absicht geäußert, bis über Neujahr auf der Jahnhütte zu bleiben, aber eine höhere Macht zwingt ihn zu vorzeitigem Rückzug.

Die Hüttenwände sind dünn, und so kann niemandem entgehen, welcher Art diese höhere Macht ist und wie sie in Erscheinung tritt. Die höhere Macht heißt: Frau Auguste. Sie schneidet tagsüber Marianne Mack vollständig, schneidet sie mit vergifteten Messern; und wenn sich Marianne abwendet, spickt sie ihren Rücken mit den Giftpfeilen ihrer Blicke. Abends aber legt sie dem Gatten das Gesamtergebnis ihrer Tagesbeobachtungen vor und zieht ihre Folgerungen daraus. Sie legt sich keinen Zwang dabei auf, so daß niemand in der ganzen Hütte über ihre Meinung im Zweifel sein kann.

»So ... und weil sie sich jetzt nicht mehr anmalt und nicht mehr in Stöckelschuhen und Seidenstrümpfen herumläuft, sondern Zöpferlstrümpfe und Filzschuhe hat oder in Nagelschuhen dahertrampelt, so ist es anders mit ihr geworden, glaubst du; Ich sage dir ... die Katze läßt das Mausen nicht, und das ist eine besondere Heimtücke von ihr ...«

Ja, Marianne trägt sich seit der Hütteneröffnung wieder gar nicht mehr ringstraßenmäßig.

Gott mag wissen, welchen Beweggründen diese Wandlung zuzuschreiben ist. Jedenfalls sind die Seidenstrümpfe und die Stöckelschuhe und die hauchdünne städtische Bluse verschwunden, und Marianne kommt jetzt in weißen Zöpferlstrümpfen und genagelten Haferlschuhen und einem warmen Winter-Dirndlkleid daher, ganz Hütten- und bergmäßig. Wem will sie denn jetzt noch beweisen, daß sie sich ihre Widerstandskraft bewahrt hat, daß sie dem »Zauber der Bergwelt« noch nicht erlegen, daß sie noch genau dieselbe Marianne ist wie im Stadtpark oder im Kaffee Goethe? Marianne findet jetzt plötzlich, sie sei im Begriff gewesen, zur komischen Person zu werden.

Aber das alles genügt natürlich Frau Auguste Rotter nicht. Sie erklärt, hinter dieser Wandlung stecke eine besondere Tücke, denn sie muß sich insgeheim gestehen, daß diese verworfene Person jetzt womöglich noch hübscher aussieht als früher.

Herr Rotter läßt es an Einwendungen nicht ganz fehlen, aber sie sind so lahm und zaghaft und mit so leiser Stimme vorgebracht, daß sie nur als wehmütiges Murmeln durch die Wände dringen, während Frau Auguste das, was sie zu sagen hat, so zu Gehör bringt, daß die ganze Hütte widerhallt. Ach, Rotter, der große Gipfelstürmer, hat in allen Weltteilen unzählige Viertausender und Fünftausender bezwungen, aber Frau Auguste Rotter zu bezwingen, ist ihm nicht vergönnt.

Er sieht sich also genötigt, seinen Aufenthalt früher als beabsichtigt zu beenden. Ganz heimlich versichert er Marianne, er würde im Sommer wiederkommen, um die Südwand des Totenhorns anzugehen, da ja doch wohl Saliger nicht mit ihr fertig werden würde.

»Schön, schön!« sagt Marianne und fährt fort, den Eßtisch im Hüttenraum zu reiben. Das Ehepaar Rotter steigt also zu Tal, und der Bircher Schnacksele stellt seine Kapelle vor der Hütte auf, und sie spielen auf Mundharmoniken, Zupfgeigen, Taschenkämmen und auf Mariannes großem Trichter hinter ihnen drein: »Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus ...«

Abends schaut sich der Bircher Schnacksele in der Runde um, schlägt mit beiden Händen auf den Tisch und lacht: »Ach, Kinder, findet ihr nicht, daß es jetzt doppelt gemütlich geworden ist?«

Marianne zuckt die Achseln. Sie äußert sich nicht dazu. Es ist nett von den jungen Leuten, daß sie zu ihr halten, aber was diese Frau Auguste Rotter anlangt, nun ja, es ist ja nicht das erstemal, daß Marianne solche Dinge begegnen.

Auch Othmar Haberdietzl empfindet die Ruhe wohltätig, die nun in die Hütte eingekehrt ist. Er muß nun nicht mehr im Bett liegen. Er darf aufstehen und kann in seiner Kammer sitzen, den dick eingebundenen Fuß auf einem Stuhl, und kann in alten Jahrgängen der Zeitschrift des Alpenvereins lesen oder in dem Raabe-Band, den ihm Marianne geborgt hat. »Das war eine gräßliche Frau!« sagt Haberdietzl voll Entrüstung.

»Dieser arme Rotter kann einem leid tun«, meint Marianne, »früher konnte er doch ausreißen und war wenigstens auf den Bergen allein. Aber jetzt will sie überall dabei sein und ist natürlich immer ein Hindernis ... sie soll ja nicht eben untüchtig sein, aber ist doch für einen Mann wie Rotter zu schwach in der Felsarbeit.«

Haberdietzl kriegt einen dicken roten Kopf. »Sie sind viel zu gutmütig, Fräulein Marianne, Sie lassen sich zuviel gefallen. was sich diese Frau gegen Sie geleistet hat, war eine Gemeinheit.«

Marianne ist nicht streitsüchtig. »Sehen Sie, ich bin hier in Stellung ... und dazu gehört nun schon einmal, daß man einiges hinnehmen muß. Es kann ja doch an mich nicht heran.« Oh, es gibt einen Menschen, von dem sich Marianne nichts gefallen lassen würde, nicht das mindeste. Aber der ist ja nicht zugegen, man braucht also nicht die Federn zu sträuben. Mag er nur bleiben, wo er ist, mit seinen Prüfungen und seinem Seilknoten.

Der nächste, der die Hütte vorzeitig verläßt, ist der Herr Dabeiseier Brodersen aus Hannover. Er wollte ja auch bis über Dreikönig bleiben, sprach sogar große Töne von kühnen Unternehmungen, die er plane. Das Geiereck will er machen, jawohl das Geiereck, und das ist ein Getue mit dem Geiereck, als ob noch kein Mensch oben gewesen wäre, obzwar ein Kuhweg dort hinaufgeht. Aber dann zieht Herr Brodersen am Neujahrstag ab.

Den Silvesterabend haben sie festlich begangen. Der Bircher Schnacksele hat einen fabelhaften Punsch gebraut, es werden riesige Löcher in die Vorräte gerissen ... »Macht nix, wir fahren morgen zu viert nach Annaberg ab und bringen, was du brauchst, Marianne.« Die Stimmung wird übermütig, der Schnacksele weiß immer noch ein neues Lied, der Carlos Tips macht Kartenkunststücke. Vor Mitternacht fragt der Gaugusch, der künftige Tierarzt, den Herrn Brodersen, ob er die Glocke sein wolle, die das neue Jahr einläutet.

»Wie macht man das?« erkundigt sich Herr Brodersen.

»Man kriegt einen Strick um den Hals, steigt auf einen Sessel, und dann springt man hinunter und macht bimmbamm ...«

Der Gaugusch hat den Ehrgeiz, ein zweiter Bircher Schnacksele zu werden, aber damit kommt er bei Herrn Brodersen übel an. Herr Brodersen schnauft mächtig auf und wuchtet einen Pflasterstein von Blick auf sein Gegenüber: »Ich verbitte mir Ihre Scherze ... suchen Sie sich jemand anderes dazu aus ... Sie ... Sie ... junger Mann!«

»Aber Herr Brodersen«, flötet der Gaugusch, »verstehen Sie denn keinen Spaß? Da, bitte ...«, er wendet sich halb um und deutet auf die Stelle seines Halses zwischen Hemdkragen und Haaransatz, »sehen Sie ihn denn nicht?«

»Ach lassen Sie mich in Ruhe mit Ihrem Blödsinn!« knurrt Brodersen.

»Nein, bitte, sehen Sie ihn wirklich nicht? ... Den Schalk, den Schalk, den ich im Nacken habe?«

»Kinder«, fällt der Bircher Schnacksele ein und schaut unverwandt auf die gezückte Taschenuhr, »legt die Messer weg. Hier wird nicht gestritten. Denn warum? Indem wir in friedlich verklärter Stimmung ins neue Jahr eingehen wollen, als welches in ... siebenundfünfzig, achtundfünfzig, neunundfünfzig ... soeben begonnen hat ...«

So heben sie mit fröhlichem Getöse ihre Punschgläser dem neuen Jahr entgegen. Hernach nimmt Marianne die Gelegenheit wahr und geht vor die Hütte.

Es ist bärenkalt draußen, der Schnee schreit unter den Nagelsohlen, eisig stehen die Berge im blauen Mondschein. Ein Stück tiefer hockt die Alm auf dem Hang, zugeschneit bis zum Dachrand, sie schläft dem Sommer entgegen, aus den Hüttenfenstern wagt sich der warme gelbrote Lampenschein in die Winternacht, und in ihm brodelt es von gedämpften Menschenstimmen. Marianne geht ein Stück bergaufwärts bis zu dem kleinen Hügel über der Hütte, wo man gar nichts mehr hört. Hier ist aller Lebenslärm verklungen, die Stille ist so groß, daß Marianne das leise Rauschen ihres Blutes zu vernehmen glaubt. Steht Marianne auf einem fernen Stern; Sie möchte es fast glauben, zum erstenmal spürt sie die ungeheure Spannung zwischen ihrem kleinen Dasein und der Ewigkeit, die ihr hier erdrückend ihre starre Schönheit offenbart.

Eine Weile nach Marianne verläßt auch Herr Brodersen die Hütte, vielleicht hat auch er das Bedürfnis, sich von der Neujahrsnacht etwas offenbaren zu lassen.

Und nachher geht auch der Pepi Lobgesang vor die Hütte. Aber wie er wieder hereinkommt, schüttelt sich der ganze Mensch vor Lachen, und es dauert eine gute Weile, ehe er loslegen kann: »Also ... unsere Marianne ... Ich komm' da hinaus, und da hör' ich Stimmen, wer ist denn da draußen? Aha, die Marianne und der Brodersen, denk' ich, der Brodersen sagt etwas, und die Marianne sagt etwas, und dann sagt wieder er etwas, gedämpft, und die Marianne sagt auch etwas, aber gar nicht gedämpft. ›Lassen Sie mich aus, Herr Brodersen‹, sagt sie ganz laut und deutlich. Donnerwetter, was ist denn los; denk' ich und geh' bis zum Eck vor. Da seh' ich die Marianne und den guten Brodersen im Mondschein, und er ist ungemein zärtlich und hat den Arm um ihre Hüfte gelegt und brummt wie ein verliebter Bär: ›Aber Schätzchen, mach doch keine Umstände ...‹ Die Marianne macht aber doch Umstände und stemmt dem Brodersen die Fäuste gegen die Brust, und wie der Brodersen nicht nachgeben will, geschieht etwas Herrliches ... die Marianne, holt aus, und eins, zwei ... also zwei solche Prachtohrfeigen hab' ich in meinem ganzen Leben nicht gesehen ...«

»Und das will was sagen«, meint der Bircher Schnacksele, »du warst doch damals in Wels dabei ...«

»Nein, auch damals in Wels nicht«, bekräftigt der Lobgesang.

Marianne kommt herein, und es ist ihr gar nichts anzumerken. Daß ihr Gesicht etwas röter ist, das rührt wohl von der Schneeluft her.

»Prosit, Marianne!« und »Heil, Marianne!« und alle Gläser recken sich ihr entgegen.

»Ich weiß nicht, was ihr wollt!« sagt Marianne.

»Aber wir wissen es«, lacht der Schnacksele.

»Bimm, bamm!« macht der Gaugusch und tut, als ziehe er am Strang einer großen Glocke.

»Ach, ihr Narrenvolk«, sagt Marianne, und jetzt erst wird sie verlegen und greift an ihrem Haar herum.

»Prosit!« sagt jemand ganz leise neben ihr. Der Haberdietzl ist ihr Nachbar, heute hat er zum erstenmal seine Kammer verlassen können und darf im Kreis der übrigen Silvester feiern. Und nun sagt er leise Prosit! und trinkt Marianne zaghaft bewundernd zu und macht verwunschene Hundeaugen.

Den Herrn Brodersen, den berühmten Dabeiseier, bekommen sie weiterhin nicht zu sehen. Er ist gleich vom Vorraum aus in seine Kammer gestiegen, am Neujahrsmorgen rechnet er mit dem Kümmerer ab. – »Nein, bitte, ich will nicht, daß Sie Fräulein Mack wecken –« und verläßt mit dem frühesten die Hütte.

Fluchtartig, wie der Gaugusch meint.

Aber für die andern kommt nun auch Abschied und Rückkehr in den Alltag. Für die einen früher und für die andern später. Nach Dreikönig ist dann niemand mehr hier als der Othmar Haberdietzl, und der auch nur deshalb, weil er mit seinem Fuß noch immer nicht ganz in Ordnung ist. Eigentlich hätte er ja auch schon längst in seiner Schule zurück sein sollen, aber das hängt nun davon ab, wann der Herr Lehrer endlich wieder seinen Bergschuh anziehen kann.

Er hat dem Herrn Oberlehrer seinen Unfall melden müssen, und der Kümmerer hat die Antwort von der Post in Annaberg mitgebracht. Der Herr Oberlehrer hat den Urlaub ja wohl verlängern müssen, aber widerstrebend und mit einigen recht unangenehm spitzigen Anmerkungen. Er tut gerade so, als ob sich Othmar Haberdietzl seinen Fuß aus besonderer Bosheit gegen den Herrn Oberlehrer verletzt hätte.

»Ja, so sind die Oberlehrer nun schon einmal«, meint Marianne.

Und dabei hängt alles wirklich nur daran, ob Haberdietzl in diesen verflixten Bergschuh hinein kann oder nicht.

Sie lesen miteinander die Raabe-Novellen und blättern in der Alpenvereinszeitschrift und spielen auch Schach, denn Kopetzky hat der Hütte ein Schachspiel gestiftet. Vor allem aber erzählt Haberdietzl aus seinem Leben und von seinen Wasserskiern.

Er ist Lehrer an einer kleinen Waldschule in einem stillen Seitental der Wachau. An der Donau gedeihen die Reben, dort oben ist keine Rede von Wein und von Blütenträumen. Im Waldviertel liegen ungeheure Steintrümmer auf den Feldern und Wiesen herum. Felsbrocken, von denen es heißt, daß sie von den Gletschern der Eiszeit dorthin verschleppt worden seien. Die Leute dort oben müssen froh sein, wenn ihnen die Nachtfröste nicht die Obstbaumblüten umbringen und wenn die armseligen Kümmerlinge im Herbst ein paar Früchte tragen.

Für den Lehrer Haberdietzl gibt es ein schimmerndes Märchen. Das schimmernde Märchen heißt Krems. Denn warum? würde der Bircher Schnacksele sagen. Weil Krems an der Donau liegt, und weil Haberdietzl dort ganz anders an seinen Wasserskiern arbeiten und sie erproben könnte, als oben in seinem abgelegenen Waldnest. Nach Krems, ja nach Krems ... an eine Schule in Krems möchte Haberdietzl wohl versetzt werden.

Was die Wasserskier anlangt – darüber erfährt Marianne alles haargenau. Also ebenso wie die Skier über den Schnee gleiten, ebenso sollen die Wasserskier über das Wasser gleiten und ihren Mann tragen. Das ist Haberdietzls Gedankengang, ganz einfach, nicht wahr? Sie müßten also ähnlich wie die Schneeschuhe sein, nur ganz anders. Und wenn Haberdietzl nun auf die Jahnhütte gekommen ist, so war seine Hauptabsicht vor allem, der Technik des Skilaufens das abzuluchsen, was er für seine Erfindung brauchen kann.

Nun ist es freilich anders gekommen, wenn man eben manchmal Pech hat ...

Aber Othmar Haberdietzl ist nicht der Mann, der sich immerfort nur über Pech beklagt, es kann auch Pech geben, das, von einer anderen Seite besehen, sich noch märchenhaft schöner ausnimmt als sogar das Märchen Krems. Und überhaupt ist Haberdietzl keiner von denen, die immerfort lange Gesichter machen, weil sie meinen, des Geschickes Mächte hätten sich gegen sie verschworen. Im Gegenteil, er findet auf den ödesten Straßen im Schotter einen Kiesel, den man ruhig als Diamanten gelten lassen könnte, und er braucht sich nicht viel zuzureden, um ein Stück Katzengold für wirkliches Gold zu halten.

Wie ist das zum Beispiel mit den Wasserskiern? Um Haberdietzls Waldvierteldorf ist weit und breit keine Wasserfläche, die Bäche sägen ihre Wege durch dunkle, dumpfe Wälder, und wenn sie dann zum Abfall kommen, rennen sie eilends der Donau zu. Sie haben nirgends Gelegenheit, Teiche oder auch nur Teichlein zu bilden.

Was geschieht aber Herrn Othmar Haberdietzl zuliebe? Herr Direktor Scheibert von den Richterwerken entdeckt die Waldviertellandschaft bei Ernsting und baut in dessen Nähe ein Sommerhaus hin. Und weil es weit und breit keine Badegelegenheit gibt, fängt er eines der gelassenen Wässerlein ein und vergewaltigt es zu einem Familienbad. Das Becken ist zwei Meter breit, vier lang und eineinhalb Meter tief.

Es stellt sich bald heraus, daß dieses Familienbad unbrauchbar ist, denn das Wasser ist und bleibt, selbst im Hochsommer – mit Verlaub gesagt – saukalt. Der Lehrer Haberdietzl erhält also ohne weiteres die Erlaubnis, das Familienbad für seine Versuche mit Wasserskiern zu benutzen.

Muß man da nicht an ein sinnvolles Walten der Vorsehung und an eine besondere Vorliebe des Glückes für Othmar Haberdietzl glauben? Wenn es schon nicht Krems und die Donau sein kann, so spielt einem das Glück wenigstens das Scheibertsche Familienbad in die Hand.

Ja, so ist das mit Haberdietzls Wasserskiern, und das erfährt Marianne alles haargenau, und der Erfinder macht sogar Zeichnungen dazu, damit sich Marianne vorstellen kann, wie diese Wunderdinger ausschauen, mit denen ein neuer Sport begründet werden soll.

Aber eines Tages bricht eine Entdeckung über Haberdietzl herein. Er macht jetzt gewissenhaft jeden Morgen seine Schuhprobe. Und eines Morgens entdeckt er, daß sich der Bergschuh ohne Anstrengung über den wunden Fuß ziehen und ohne Beschwer zuschnüren läßt.

»Ach, Fräulein Marianne«, sagt Haberdietzl, »denken Sie nur, ich kann den Schuh wieder anziehen. Da, sehen Sie nur!« Haberdietzl macht einige Schritte im Hüttenraum hin und her und stampft sogar mit dem Fuß auf, so großartig geht es auf einmal. Keine Spur von Druck und Schmerz.

»Na, da freue ich mich«, meint Marianne, »ich kann Sie nun als gesund entlassen. Und jetzt kann man es ja sagen: Sie haben bei der ganzen Sache Glück gehabt.«

Glück? Nun ja, wie man es nimmt. Gewiß, es war viel Glück dabei, denn der Fuß hätte ebensogut auch zum Teufel gehen können. Von der anderen Seite kann man es nicht ohne Wehmut betrachten.

»Ja, und nun muß ich wieder in meine Schule zurück«, sinnt Haberdietzl zögernd.

»Gewiß wird sich der Herr Oberlehrer sehr freuen«, sagt Marianne. Haberdietzl schaut sie von der Seite an, es klingt, als hätte Marianne etwas Scherzhaftes gesagt, aber sie verzieht keine Miene dabei. Man muß also wohl annehmen, daß sie es im Ernst gemeint hat.

Nun hätte sie ja vielleicht sagen können, daß sich Haberdietzl wohl noch schonen müsse und daß es auf einige Tage nicht ankomme. Gewiß hätte Haberdietzl der Versuchung widerstanden, er ist viel zu gewissenhaft, um seinen Zwangsurlaub über Gebühr auszudehnen. Aber es wäre immerhin lieb von Marianne gewesen, wenn sie den Versuch gemacht hätte, ihn zurückzuhalten.

»Ach, es war so schön hier oben in der Bergeinsamkeit«, seufzt er und lauert zaghaft, ob er damit nicht doch noch Marianne irgendeine Äußerung entreißt, die seinem Herzen wohltut.

Aber Marianne sagt nur: »Nun kommen Sie doch wieder zu Menschen und zu Ihren Kindern. Und dann ist der Sommer nicht weit, da können Sie wieder mit Ihren Wasserskiern beginnen.« Und dann fügt sie hinzu: »Jetzt werden Sie sich wenigstens nicht länger langweilen.«

Jetzt aber scherzt Marianne! Jetzt scherzt sie ganz gewiß! »Langweilen? Ich? Hier?« fragt Haberdietzl vorwurfsvoll. Marianne gibt keine Antwort, sie wendet sich zum Herd, nimmt die Wischtücher vom Trockengestell herab und legt sie zusammen. Die Wahrheit ist, daß sie genug hat von Wasserskiern und Hundeaugen und all der Sanftmut mit einem Schuß Narretei. Sie braucht ja auch jetzt niemand Widerpart zu halten.

Ob sie nicht noch einen kleinen Spaziergang mit ihm machen wolle, bittet Haberdietzl nach einer Weile. Morgen müsse er ja doch nach Annaberg.

Gut, also auch das noch. Sie gehen zur Alm hinunter durch den Hohlweg, den der Kümmerer durch den Schnee gegraben hat, um zum Brunnen zu gelangen. Die Berggipfel sind alle so klar und nahe, als wären sie um die Hütte zusammengerückt, und die Luft zwischen dort und hier wäre in den Weltraum entwichen. Die Schneefelder brennen in Gelb und Rot, und die Schatten dazwischen sind tiefe, veilchenblaue Höhlen. Über den Scheitelpunkt des Himmels ziehen sich dünne weiße Wolkenfächer, und ganz im Westen hat die Glocke über ihnen einen Rand von leichtem grauem Dunst.

»Und nun wollen Sie also morgen absteigen?« fragt Marianne.

»Ja!« sagt Haberdietzl mit aller Tapferkeit, die er zusammenraffen kann.

Beim Brunnen steht der Kümmerer und hackt die dicken Eiszapfen vom Rohr. Er wirft sie in den Eimer für das Kochwasser in der Hütte. Jetzt hört er etwas von Absteigen und hebt den scharfen Blick zu dem Dunstrand im Westen: »Wann S' abi wollt' S'«, meint er, »so is morgen höxte Zeit ... spätestens übermorgen kriegn mer 's schiache Wetter.«

So – und damit ist Haberdietzls Entschluß sozusagen bergamtlich besiegelt und bekräftigt und nicht mehr rückgängig zu machen.

Und nun geschieht weiter gar nichts mehr, als daß Othmar Haberdietzl anderntags wirklich absteigt, mit einem schweren Rucksack auf den Schultern und einem noch schwereren Herzen in der Brust.

Am Waldsaum wendet er sich noch einmal um. Auf dem Hügel über der Hütte steht Marianne in ihrem braunroten Dirndlkleid vor einer grauen Wand, die nun schon über den hellen Himmel hochgekrochen ist. Sie winkt Haberdietzl mit der Hand einen Abschiedsgruß nach, und so gehört es sich wohl für die Hauserin, wenn ein Gast aus der Hütte scheidet.


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