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Die ungesagten Dinge

Die Wochen gehen nun ruhig dahin, im Gleichmaß der Arbeit an der Erziehung der Jugend. Mit Vorträgen und Prüfen und Schularbeiten und Hausarbeiten und einigem Ärger und bisweilen einiger Genugtuung über gewonnene Kinderherzen. Marianne darf es sich ohne Selbsttäuschung gestehen, daß bis auf einige Verstockte und Stumpfsinnige alle an ihr hängen.

Es ist so, als ob die Kinder ihr zuliebe lernten, und das ist das Beste, meint Marianne, was eine Lehrerin erreichen kann.

Die Wochen gehen hin, und jede von ihnen hat zwei leuchtende Tage. Der eine ist der Montag, an dem Marianne einen Brief von Saliger empfängt, und der andere ist der Mittwoch, an dem sich Marianne selbst hinsetzen und von sich erzählen darf. Wenn es nach ihr ginge, so würde sie es gern jeden Tag tun, und sie hätte auch gar nichts dagegen, jeden Tag einen Brief Saligers zu empfangen.

Aber sie weiß schon, daß man sich bei einem Freund, der so beschäftigt ist, bescheiden muß.

Saliger ist jetzt in den Betrieb eingespannt, und es versteht sich, daß seine Zeit sehr knapp ist, zu knapp, um lange Briefe mit viel Gefühlsergießungen zu schreiben, überhaupt: Gefühlsergießungen? Sie waren niemals Saligers Sache. Seine Rede ist Ja-Ja und Nein-Nein, und ebenso ist sein Handeln.

Es ist also nur selbstverständlich, daß seine Briefe kurze und sachliche Berichte sind, über seine Vorgesetzten, seinen Wirkungskreis, seine Kollegen. Es ist nicht ganz leicht, sich einzupassen, die Industrie ist ein harter Knochen, wenn man als Außenseiter herankommt; es gibt da eine ganze Menge dessen, was gelernt werden will.

Aber da hat Marianne keine Sorge. Saliger ... Saliger wird es schon zwingen. Zunächst wird er in Wien zugeritten, die Anfangsgründe werden ihm unter der Aufsicht des Herrn Direktors Roleder eingepaukt, und Marianne vermutet, daß dies Saligers Gönner ist, Valeries Onkel, der ihn beim Konzern untergebracht hat. Darüber äußert sich Saliger nicht weiter.

Auch über andere Dinge äußert sich Saliger nicht.

Marianne erfährt zum Beispiel kein Wort über Valerie, über die anderen streut Saliger manchmal Nachrichten ein. Der Bircher Schnacksele hat wieder einmal einen Anlauf zu Prüfungen genommen, aber im letzten Augenblick ist er ausgebrochen. »Weißt d'«, hat er gesagt, »seit der Gehirnerschütterung trau' ich mich nicht recht.« Aber Saliger meint, er hätte sich auch vorher nicht recht getraut. Der Carlos Tips hat keine Ausrede auf eine Gehirnerschütterung, der hat ohne große Umstände sein Studium als Techniker an den Nagel gehängt und ist jetzt Beamter im Fundamt der städtischen Straßenbahnen. »Ein lustiger Beruf«, sagt der Carlos Tips, »wenn man schon irgendwo unterkriechen muß, so kann man keinen lustigeren finden. Es ist unglaublich, was die Leute alles verlieren.« Der Kopetzky, der Lobgesang, der Gaugusch, die Magda Kaspar, alle werkeln sie irgendwie weiter, so oder so. Nur über Valerie erfährt Marianne nichts, die ist wie vom Erdboden verschwunden, und es widerstrebt Marianne, geradezu nach ihr zu fragen.

Und noch etwas anderes vermißt Marianne, nach dem sie noch weniger fragen würde. Es ist etwas ungesagt geblieben, die Dinge lagen so, daß es vielleicht taktlos gewesen wäre, darüber zu sprechen. Aber dieses Unausgesprochene war doch in allem mit inbegriffen, es stand leuchtend über allen inneren und äußeren Ereignissen des Sommerendes. Ach ja, so manche überaus zarten Dinge haben Schmetterlingsflügel, und man darf nicht derb zupacken, damit sie ihren zauberhaften Schmelz nicht verlieren. Ganz vorsichtig und zaghaft könnte man jedoch schon irgendwie an sie rühren, einen Hauch von Andeutung würden sie schon vertragen.

Diesen Hauch von Andeutung vermißt Marianne.

Sie selbst – nein, sie würde sich eher die Zunge abbeißen, als davon zu beginnen. Keine Mahnung, keine noch so sachte Anspielung, Gott behüte! Marianne bändigt ihr Gefühl, sie könnte Briefe schreiben, die wie Fackeln brennen, aber sie legt ihre Sehnsucht an die Kette, sie nimmt sich Saligers Brief zum Muster; sie schreibt knapp und sachlich über die Vorgesetzten, ihren Wirkungskreis und die Kollegen, fröhlich und unbeschwert, als warte sie auf gar nichts.

Was Othmar Haberdietzl anlangt, so bleibt es Marianne unbekannt, ob er seine Versuche fortsetzt, wenn er es tut, so hält er es jetzt geheim, er spricht nicht davon und holt sich vorläufig Marianne auch nicht mehr als Zeugin.

Übrigens macht ja auch der Winter allen etwaigen Probefahrten ein Ende. Der Christmond kommt mit klirrendem Frost, er legt erst eine weiße Decke über die Wachauberge, und dann faßt er wieder ganz grimmig zu; nach ein paar Tagen treiben große Eisschollen die Donau hinab, und vom Ufer aus rücken die Eisränder immer weiter in den Strom hinein.

Es wird mit dem Frost so schlimm, daß in der Giselaschule die Warmwasserheizung einfriert. Es ist eine gute und brave Warmwasserheizung, und sie hat noch niemals irgendwelche Lücken und Bosheiten an den Tag gelegt. Doppelt niederträchtig also, daß sie eben jetzt irgendwelche Mucken hat, eine ausgesprochene Gemeinheit, sich in diesen Tagen widerspenstig zu benehmen.

»Wir können doch den Herrn Landesschulinspektor nicht im Winterrock dem Unterricht beiwohnen lassen«, jammert Direktor Wösel.

Der Herr Landesschulinspektor Fieber hat seinen Besuch angekündigt, und man kann ihn doch, weiß Gott, nicht in einem Eispalast empfangen.

»Sie erinnern sich«, sagt der Kollege Bretschneider zu Fräulein Pöpperl, »daß ich gegen die Einführung der Warmwasserheizung war, so ein richtiger Kachelofen läßt einen niemals im Stich.«

Fräulein Pöpperl erinnert sich zwar nicht, aber sie meint auch, man könne sich auf solche neumodische Erfindungen nicht verlassen.

»Wir haben doch ein technisches Genie unter uns«, sagt der Lehrer Stiasny, »vielleicht kann uns Haberdietzl sagen, was der Warmwasserleitung fehlt.«

Haberdietzl ist herausgefordert und bittet den Herren Direktor um die Erlaubnis, die Leitung untersuchen zu dürfen. Er kriecht in den Keller, klopft die Wände ab, dreht an allen Zähnen, untersucht die Heizung und den Wasserbehälter auf dem Dachboden und kommt zurück, schwarz wie ein Rauchfangkehrer.

»Leider!« sagt er bekümmert, »ich kann nichts finden.«

»Sie können mir auch gestohlen werden«, schnaubt der Direktor wütend und alle Würde vergessend, und dann tut er, was er gleich hätte tun sollen. Er läßt den Fachmann holen, und der macht es ganz so, wie es Haberdietzl gemacht hat, er kriecht in den Kessel und untersucht die Leitung bis zum Dachboden, nur daß er nicht so schwarz zurückkommt, und sagt, daß er den Schaden entdeckt hätte. Er sagt etwas von Kesselstein und Unterdruck und dergleichen. Und daß die Schule für zwei Tage geräumt werden müßte.

»Gerade jetzt, gerade jetzt!« jammert der Direktor. »Aber daß Sie bis zum Donnerstag fertig sind, am Freitag kommt der Herr Landesschulinspektor.«

Es gibt also zwei schulfreie Tage, und am dritten muß noch Schutt weggeräumt werden, und die Fenster werden geputzt und der Fußboden gerieben. Der Herr Direktor muß also noch einen dritten Tag schulfrei geben. Eine schöne Bescherung! »wir gehen gänzlich unvorbereitet in diese Prüfung«, sagt der Herr Direktor Wösel vor versammeltem Lehrkörper und knetet auf dem Rücken seine Schwammhände; »aber ich erwarte trotzdem, daß Sie alles aufbieten werden, um den Ruf unserer Anstalt zu bewahren.« Er hat sich wiedergefunden, steht festgefügt in seiner Würde, um einer schadhaften Warmwasserleitung willen darf man das Vertrauen zu seinem Schutzpatron nicht verlieren. Er hat ihm, dem heiligen Ignatius, zwei große Wachskerzen gespendet, die eine brennt schon als Vorschuß, die andere wird bei gutem Ausgang angezündet.

Am Freitag kommt der Herr Landesschulinspektor Fieber, und in allen Räumen ist es höchstens lauwarm. »Kalt haben Sie's hier!« sagt der Herr Landesschulinspektor und läßt sich durch den Schuldiener seinen Winterrock aus der Direktionskanzlei holen.

Aber das ist auch das einzige, was er auszusetzen hat. Er läßt in allen Klassen die Lehrer vortragen und läßt die Schüler prüfen und stellt selbst Fragen, und es müßte nicht Direktor Wösels Musteranstalt sein, wenn es nicht trotz der drei schulfreien Tage klappen sollte. Besonders lang verweilt er in Marianne Macks Klasse und hat nichts einzuwenden, er nickt sogar hie und da wohlwollend mit dem Kopf.

Marianne hat einen Glückstag. Auf dem Weg zur Schule hat sie den Briefträger getroffen, und nun hat sie einen Brief aus Wien im Handtäschchen, den sie noch rasch im Park, vom dichten Hauch ihres Atems umhüllt, gelesen hat. Ein Glückstag! Saliger schreibt, daß nun seine Vorbereitungszeit in Wien zu Ende gehe, und daß er nach Weihnachten seinen Dienst in Leoben antreten werde, und daß für ihn zwei freie Wochen dazwischenliegen. Er schreibt nichts darüber, wie er diese zwei Wochen verbringen wird, aber Marianne hat da allerhand kühne und weit ausgreifende Pläne in Vorschlag zu bringen.

Von diesem Brief weiß der Herr Landesschulinspektor nichts, er merkt nur, daß Marianne auf eine muntere und ungemein ansprechende Weise Unterricht erteilt, und daß aufgeweckte Kinder kluge Antworten geben.

Zwei Tage dauert die Heimsuchung, und dann erklärt der Herr Landesschulinspektor vor versammeltem Lehrkörper, daß er mit allem im großen und ganzen vollkommen zufrieden sei; insbesondere hat er mit Vergnügen wahrgenommen, daß die jüngeren Kräfte auf eine frische und lebendige Art Unterricht erteilen, und das sei ganz im Sinne der neueren Bestrebungen des Ministeriums.

Dabei sieht der Herr Landesschulinspektor nicht etwa Marianne an, man weiß überhaupt nicht, wen er ansieht. Seine Brillengläser werfen Strahlenbündel und blenden wie die Scheinwerfer eines Autos. Fräulein Pöpperl lächelt ihm auf alle Fälle ihr Gurkenlächeln entgegen, als sei sie mit den jüngeren Kräften gemeint.

Wenn er etwas zu wünschen hätte, endet der Herr Landesschulinspektor, so sei es bloß dies, daß er den vaterländischen Geist in der Erziehung gern mit noch größerem Nachdruck betont sähe.

Der Direktor Wösel weiß schon, daß dies keine ernsthafte Ausstellung ist, an dem vaterländischen Geist seiner Anstalt ist nicht zu zweifeln. Es ist eben nur so eine Bemerkung, um das Lob um so heller strahlen zu lassen.

»Bleiben Herr Landesschulinspektor heute noch in Krems?« kann nun der Direktor zu fragen wagen.

Ja, er beabsichtige morgen Verwandte in Melk zu besuchen.

Ob der Herr Landesschulinspektor dem Lehrkörper dann die Ehre erweisen wolle, heute an einem geselligen Abend teilzunehmen?

Jaa, nun ... er habe eben nichts anderes vor, sagt Fieber leutselig.

»Vollzähliges Erscheinen bitte ich mir aus«, sagt der Direktor Wösel streng, nachdem der Herr Landesschulinspektor gegangen ist. Es wäre gegen die Würde, jemanden merken zu lassen, daß ihm doch eine ganze zweispännige Fuhre Steine vom Herzen gefallen ist. Und dann schickt der Herr Direktor Wösel den Schuldiener in die Kirche, um seinem Namenspatron, dem hl. Ignatius, die zweite Kerze anzünden zu lassen, die für den guten Ausgang.

Am Abend also erweist der Herr Landesschulinspektor dem Lehrkörper die Ehre, und der Lehrkörper ist vollzählig im Hinterzimmer der »Weißen Rose« versammelt.

Es geht natürlich anfangs etwas steif zu. »Gestatten Herr Landesschulinspektor ...!« und dann erhebt auch der Lehrkörper die Gläser und trinkt dem Herrn Landesschulinspektor – Pupille! – zu. Und »Ihr Wohl, mein lieber Direktor!« und dann nickt Fieber auch dem Lehrkörper gnädigen Dank.

Es ist selbstverständlich nicht etwa ein Bankett, zu dem man den Gewaltigen geladen hat, keine gemeinsame Abfütterung mit drei Gängen. Über dem Eingang zum Ständehaus der Lehrer steht: Man muß sich strecken nach der Decken! Jeder wählt und bezahlt sich das Seine, und es wäre unziemlich, unter den Augen des Herrn Landesschulrates etwas Teuereres als allerhöchstens einen Kalbsbraten zu essen. Er soll sehen, daß er es nicht mit Hochstaplern und Verschwendern zu tun hat, und daß die Gehälter noch immer aufbesserungsbedürftig sind.

Es versteht sich, daß eine kleine Rede unvermeidlich ist. Nachdem Haberdietzl, ein etwas umständlicher Esser, durch die mahnenden Blicke seines Direktors veranlaßt worden ist, den Rest seines Gulaschsaftes ungegessen abtragen zu lassen, erhebt sich Herr Wösel und klingelt mit seinem Ehering an das Glas. Er spricht von der hohen Ehre und vom Einsatz aller Kräfte und von der beglückenden Genugtuung und vom Ruf der Anstalt, und dann reicht ihm der Herr Landesschulinspektor die Hand über den Tisch und sagt: »Schon gut, mein lieber Direktor ... wir wissen, was wir an Ihnen und an Ihrer Anstalt haben.« Und die Brillenscheinwerfer blenden aller Augen.

Damit ist ja auch nun das Zeichen zum Einbruch der Gemütlichkeit gegeben. Zangerl wird als Eisbrecher vorgeschickt, und er erfüllt seine Aufgabe wie immer mit Hilfe seiner Klampfen. Seine Stimme ist nicht sehr schön, aber laut, Fräulein Pöpperl sagt von ihm, er singe wie ein Raubritter, aber das ist vielleicht etwas stark ausgedrückt, ein Klaps ihrerseits. Zangerl singt also verschiedene Lieder, wie sie von Werkstudenten und vom Freiwilligen Arbeitsdienst im Reich gesungen werden; und der Direktor Wösel muß sich manchmal räuspern, sie kommen ihm stellenweise nicht einwandfrei vaterländisch vor. Dann aber schaltet der Zangerl einen ausgesprochenen vaterländischen Jodler ein.

Jedenfalls löst er damit die Zungen, und das Gespräch wird allgemein. Es wird viel vom Wein gesprochen, in der Wachau wird überhaupt meist vom Wein gesprochen, wenn nicht von der Politik gesprochen wird.

»Wissen Sie, was ich bin?« sagt Zangerl zu Marianne, indem er die Klampfen über die Sessellehne hängt. »Ich bin ein umgekehrter Kanarivogel!«

»Wieso?« fragt Marianne, dazu ist selbst ihre Leitung nicht kurz genug.

»Der Kanarivogel singt, wenn man Lärm macht«, grinst Zangerl, »und wenn ich singe, so macht man Lärm.«

Der Herr Landesschulinspektor muß Zangerls Bemerkung gehört haben, Zangerl pflegt seine Bemerkungen nicht zu flüstern. Er nickt ihm mit einem halben Lächeln unter den blitzenden Brillen zu, und dann faßt er seine Nachbarin Marianne ins Auge: »Von Ihnen habe ich heute ein Bild gesehen, in einer Illustrierten ... zusammen mit diesem ... na ... ich glaube Doktor Saliger.«

Ja, die Berichte über die Totenhorn-Südwand spuken immer noch herum, in der Alpenvereinszeitschrift hat sich Saligers Aufsatz über zwei Nummern erstreckt, und dann hat sich noch eine ganze Schar anderer Blätter der Sache bemächtigt mit und ohne Bild, noch bis heute gibt es Nachzügler.

»Wir sind sehr stolz auf unser Fräulein Mack«, sagt der Kollege Bretschneider und pflügt seinen Rauschebart mit den Fingern. Er hat zwar bisher davon noch nichts merken lassen, aber einer offenbar so wohlgelittenen Kollegin kann man schon ein Zuckerl geben.

»Nicht auf sie allein«, mischt sich der Herr Lehrer Wohlgemut ein, »da ist noch jemand, den wir nicht vergessen dürfen. Unseren Kollegen Haberdietzl! Wir dürfen mit allem Recht auf ihn stolz sein. Er ist doch der Mann, der die Wasserskier erfunden hat.«

»Ich habe davon gehört«, sagt der Herr Landesschulinspektor mit einem nachsichtigen Lächeln.

»Stellen Sie nur Ihr eigenes Licht nicht unter den Scheffel, Kollege Wohlgemut«, ruft Stiasny. »Sie wissen wohl noch gar nicht, daß auch der Kollege Wohlgemut an einer Erfindung arbeitet ... und wissen Sie, was er erfunden hat? Scheinbar eine unbedeutende Erfindung, aber von ungeheurer Tragweite. Er hat die Stiefel mit dem eingebauten Blasebalg erfunden. Einen kleinen Blasebalg in jedem Schuh unter der Sohle ... bei jedem Schritt preßt der Blasebalg frische Luft in das Innere des Schuhes. Denken Sie an die Bedeutung, die diese Erfindung insbesondere fürs Militär hat. Ein Blasebalg in jedem Soldatenstiefel, der verhindert das Schwitzen, es gibt keine durchgelaufenen Füße, überhaupt keine Fußleiden mehr, und unsere Soldaten werden leicht marschieren wie die Götter ... stundenlang ... tagelang ...«

Von diesen Blasebälgen hat bisher im Lehrkörper offenbar noch niemand etwas gehört. Viele verblüffte Gesichter wenden sich Wohlgemut zu, und der Kollege Stiasny zwinkert mit den Augen und bittet den Herrn Landesschulinspektor um Beifall.

»Nein, Sie hätten das nicht sagen sollen«, wendet Wohlgemut ein und tut entrüstet, »es ist noch gar nicht soweit, daß man davon sprechen kann. Aber wenn Sie mich verraten haben, Kollege Stiasny, so verrate ich Sie auch, wir haben die merkwürdigsten Talente an unserer Anstalt. Und unser Kollege Stiasny, ja Sie, mein Lieber ... Sie wissen doch, daß er zwei Semester Medizin hat und sich noch heute mit medizinischen Dingen beschäftigt. Nun ... er hat etwas ersonnen, das eine Umwälzung in der Chirurgie nach sich ziehen muß. Er hat einen Reißverschluß bei Bauchoperationen erdacht. Bisher war es doch so, daß man den Kranken nach der Operation zugenäht hat, und wenn dann etwas nicht in Ordnung war, hat man ihn neuerlich aufschneiden müssen. Stellen Sie sich nur vor, jetzt kriegt er einen Reißverschluß wie ein Handtäschchen. Er kann durch einen leichten Zug geöffnet werden, und man kann jederzeit Nachsehen, wie weit der Heilungsvorgang ist ... Eine gewaltige Umwälzung ... Stiasnys Bruder ist Professor der Chirurgie in Wien und hat sich schon bereit erklärt, die Erfindung zu prüfen und zu erproben.«

»Nein«, sagt Fräulein Pöpperl entsetzt, »das hätte ich nicht von Ihnen gedacht, Kollege Stiasny, daß Sie sich mit solchen schrecklichen Dingen beschäftigen.«

Das hat gerade noch gefehlt, die andern wissen jetzt, woran sie sind, und das Lachen ist nicht länger zu unterdrücken, sogar das zuerst betroffene Gesicht des Direktors geht in die Breite, da er auch den Herrn Landesschulinspektor schmunzeln sieht. Es ist also eine Verabredung zwischen den zweien, eine Verschwörung auf Kosten Haberdietzls.

Haberdietzl hat es auch richtig erfaßt und sitzt da mit blutrotem Kopf und vollkommen hilflos wie das Kind unter den Wölfen.

»Ich finde es gar nicht schön«, sagt da Marianne Mack mit zornmütigen Augen, »daß Sie sich über den Kollegen Haberdietzl so lustig machen. Es ist ihm ein heiliger Ernst um seine Sache, und man sollte davor Achtung haben, wie vor jeder ehrlichen Überzeugung. Und ich muß sagen, ich habe den Kollegen Haberdietzl auf seinen Wasserskiern gesehen, und es ist ein höchst eigenartiges und bewunderungswürdiges Schauspiel ... wenn seine Erfindung auch noch manche Verbesserungen nötig hat und insbesondere die ... die ... die ... Wendigkeit ... noch zu wünschen übrigläßt.«

Merkwürdig: der Herr Landesschulinspektor nickt Marianne zu, als billige er ihr Eintreten für Haberdietzl, und da wird das Lachen ganz klein und verkriecht sich unter den Tisch.

»Sehr richtig«, sagt Zangerl laut und deutlich, und dann rettet er die Lage, indem er nach der Klampfen greift und mit seiner Raubritterstimme gewaltig daherzujodeln beginnt.

Etwas kleinlauter geht die Unterhaltung weiter, bis der Herr Landesschulinspektor um elf das Zeichen zum Aufbruch gibt.

Sie scharen sich alle um ihn zum üblichen Geleit in seinen Gasthof. Aber er greift sich jemanden aus dem Haufen heraus: »Fräulein Mack, ich bitte!«, und da müssen sie ihn mit Marianne vorausgehen lassen.

»Sie haben sich wacker um Ihren Kollegen angenommen«, sagt Fieber anerkennend.

In Marianne bebt noch der Nachhall der Erregung: »Er ist ein guter Mensch und verdient es nicht, lächerlich gemacht zu werden. Sie haben doch gesehen, wie wehrlos er ist. Und vielleicht ist wirklich an seiner Erfindung etwas daran ...«

»Ja ...«, meint Fieber zerstreut, »aber nun sind Sie doch mit mir zufrieden? Ich meine ...«

»Ich danke Ihnen«, sagt Marianne warm. Sie hat ja seinerzeit schon schriftlich gedankt, aber nun ist es gut, daß sie es mit Nachdruck auch mündlich tun kann.

»Diese Stellung als ... als Wirtschafterin auf der Hütte oben ... war doch Ihrer unwürdig ...«

»Unwürdig? Nein!« wehrt sich Marianne straff und schneidig: »Nichts ist unwürdig, wo man auf eine anständige Weise seine Pflicht tun kann. Unsere Zeit ist über solche Vorurteile hinaus! Und es war eine schöne Zeit, eine sehr schöne Zeit!« setzt sie trotzig hinzu.

Aber der Herr Landesschulinspektor ist schon wieder weiter, »Übrigens«, sagt er, »ist es richtig, daß Ihre Mutter als Sängerin bei den Salzburger Festspielen aufgetreten ist? Unter einem angenommenen Namen: Lind-Vallacosta glaube ich ... irgendwie ist es doch durchgesickert.«

»Ja ... es ist richtig«, sagt Marianne ruhig.

»Nun ... und Sie? Haben Sie den Versuch gemacht ...?«

»Nein ...«, lügt Marianne, »wozu?«

»Nun, ich meine ... Mutter und Kind ... was auch geschehen sein mag. Das ist doch eine unlösbare Bindung. Nicht? Und nun: wo ist Ihre Mutter jetzt ...?«

»Irgendwo ... in der Welt.«

»Wissen Sie«, sagt Fieber und nimmt Marianne unter dem Arm, »daß Sie Ihrer Mutter unglaublich ähnlich sehen ... so wie ich sie in Erinnerung habe ... besonders als Sie so tapfer für Haberdietzl eingetreten sind.«

Marianne kann nichts anderes tun, als die Achseln zucken. Mag sein ... daß die Ähnlichkeit mit der Mutter wirklich groß ist und daß Fieber in Erinnerung an die Vergangenheit Mariannes Unterarm mit seiner Hand so fest umklammert. Sie wünscht jedenfalls nicht, das Gespräch in dieser Richtung fortzusetzen, und denkt daran, irgendwie abzubiegen, aber es ist weiter keine Gewalttat nötig; da sind sie ja vor dem Gasthof des Herrn Landesschulinspektors, und Fieber muß Mariannes Arm loslassen, nachdem er ihn zum letztenmal an sich gedrückt hat.

»Sind wir schon hier?« verwundert sich der Herr Landesschulinspektor.

Marianne läutet ein kleines, helles Lachen: »In Krems ist's eben nirgendhin weit.«

»Wir wünschen dem Herrn Landesschulinspektor eine geruhsame gute Nacht!« sagt der Direktor Wösel und nimmt seine Pelzmütze ab.

»Ja ... ja ... ich danke ... ich glaube, da wird's heute nicht fehlen ... gleichfalls, gleichfalls!« Der Begleithaufen zerfällt mit weiteren Gutenachtgrüßen in seine Bestandteile, und auch Marianne schlägt ihren Heimweg ein. Unwillkürlich hat sie sich nach Haberdietzl umgesehen, Haberdietzl muß jedoch irgendwo in aller Stille nächtlings verschwunden sein. Vielleicht hat Marianne erwartet, daß er ihr danken wolle, aber es ist seltsam, Haberdietzl dankt Marianne nicht, weder jetzt, noch am nächsten Tag, noch irgendwann später.

Es ist, als wäre nichts geschehen, als stünde er nicht bei Marianne für ihr tapferes Verhalten vor dem Feind in Schuld. Im Gegenteil, es ist, als hätte er eine Scheu vor ihr, als weiche er ihr aus, und es könne sich aus irgendeinem Grund die alte Vertraulichkeit nicht mehr wieder einstellen.

Es tut Marianne leid, daß sie ihn auf irgendeine unfaßbare Weise verscheucht hat, aber zuletzt wird sie trotzig und gibt es auf, an Haberdietzls Benehmen herumzuraten. Es wäre selbstverständlich, daß er, nach dem, was sich ereignet hat, offen auf ihre Seite träte. Er tut es nicht, er zieht sich zurück, Gott mag wissen warum. Zangerl aber tut es, und es ist auch nötig, daß Marianne einen Bundesgenossen hat bei all der versteckten Gegnerschaft, die sich nun gegen sie zusammenballt. Natürlich sind Wohlgemut und Stiasny, die Marianne so schneidig zurechtgewiesen hat, ihre erbitterten Feinde. Und auch die andern sind es mehr oder minder, vielleicht eben darum, weil sie der Herr Landesschulinspektor so sichtlich ausgezeichnet hat. Aber eben darum bleibt auch die Gegnerschaft schön verhüllt und wagt keine großen Hiebe, sondern höchstens kleine Stiche.

Man behandelt sie mit besonderer, immer ein wenig höhnischer Zuvorkommenheit. Und ihre Ansichten werden mit spöttischer Hochachtung ausgenommen, »Nun ja, Sie ... Sie sind ja der Liebling ... es wird schon richtig sein, was Sie sagen.«

Gegen Weihnachten wird das Wetter milder, und es sieht ganz so aus, als sollte eben zu den Festtagen Tauwetter kommen. Besorgt schaut Marianne nach dem Himmel und nach den Wetterberichten, sie hat ja bestimmte Absichten für die Feiertage.

Am Tag vor dem Weihnachtsabend kommt endlich Haberdietzl wieder einmal heran. »Haben Sie etwas für die Weihnachtsferien vor?« fragt er.

»Nein ... ich weiß es nicht«, weicht Marianne aus. Sie weiß es wirklich nicht, sie wartet ja noch immer auf eine Antwort. Vor Wochen hat sie schon begonnen, die Pläne zu entwerfen. »Weihnachten? Es ist ja noch lange bis dahin!« hat Saliger gemeint. Aber nun ist Weihnachten vor der Tür, und Marianne weiß noch immer nicht, ob nun Saliger zu ihr nach Krems kommen oder ob er sie zu sich nach Leoben berufen wird. Heute oder spätestens morgen muß der Brief da sein, in dem es sich entscheidet.

Mit hängenden Armen steht Haberdietzl vor Marianne und sagt dann heiser: »Nun ... wenn Sie nichts Besonderes vorhätten ... sehen Sie, ich bin einsam, und auch Sie haben niemanden ... es ist doch ein Fest, an dem man nicht gern allein ist ... ich habe mir gedacht ... wir könnten doch vielleicht den Weihnachtsabend zusammen verbringen.«

Nun ist es heraus, und in Mariannes Hand liegt ein schwarzes und ein weißes Los.

»Das wird nicht gehen«, sagt Marianne so schonend als möglich, »ich bekomme Besuch ... oder ich werde noch eingeladen ... das weiß ich wirklich nicht ... es tut mir leid, ich danke Ihnen.«

Das schwarze Los ist gefallen, und so wird die letzte Schulstunde für Haberdietzl nicht, wie sie es hätte sein können, ein Auftakt zu strahlender Freude, sondern ein Abstieg in Düsternis.

Nach dem Ende des Unterrichts pflanzt sich Fräulein Pöpperl vor Marianne auf und lächelt, so gut eine saure Gurke nur zu lächeln vermag. »Nun komme ich zu Ihnen um mein Weihnachtsgeschenk, Fräulein Mack ... Sie sind heuer mein Christkindl ... ein allerliebstes Christkindl ...«

Es soll eine gewinnende Einleitung sein, und Marianne horcht auf, sie kennt solche zuckersüßen Einleitungen.

»Sie wissen doch, daß ich die Staatsprüfung in Französisch machen möchte ... man will doch weiterkommen. Ohne Ehrgeiz bringt man es zu nichts. Aber für diese Prüfung wäre es sehr wichtig, einige Monate in Frankreich zu sein, ein halbes Jahr vielleicht ... wegen der Aussprache und so ... es gibt da sogar Stipendien dafür ...«

»Ja, es gibt solche Stipendien«, bestätigt Marianne kühl.

»So ein Stipendium braucht man eben ... und dazu den nötigen Urlaub ...«

»Gewiß, ohne Urlaub geht es wohl nicht!«

»Na ja ... ich möchte mich um einen solchen Studienaufenthalt in Frankreich bewerben, mit Stipendium und Urlaub und allem, was dazugehört.«

»Kein Zweifel, daß ein solcher Studienaufenthalt für die Prüfung äußerst wichtig ist«, bestätigt Marianne wohlgelaunt.

Fräulein Pöpperl sieht ein, daß sie so nicht weiterkommt. »Nach den Feiertagen möchte ich nun mein Gesuch einbringen ... aber Sie können sich denken, daß da Dutzende solcher Gesuche vorliegen ... und daß man eine Fürsprache braucht.«

»Ach«, seufzt Marianne, »es ist ja leider bei uns so, daß man zu allem einen Fürsprecher braucht.«

»Nun dachte ich mir, ich müßte Sie bitten, daß Sie für mich ein gutes Wort einlegen.«

»Ich?« verwundert sich Marianne, »was könnte ich für Sie tun?«

»Sie brauchen wohl nur ein Wort zu sagen«, bohrt Fräulein Pöpperl hartnäckig nach, »bei Ihren guten Beziehungen zum Herrn Landesschulinspektor Fieber ...«

Nun aber wird Marianne ein Eisblock, der auf ein paar Meter im Umkreis die Luft abkühlt. Sie kann das. »Ich habe durchaus keine anderen Beziehungen zu Herrn Landesschulinspektor Fieber als Sie oder jemand anderer von den Kollegen auch«, sagt Marianne.

Das Lächeln verschwindet von Fräulein Pöpperls Lippen, der Mund wird ein dünner Bindestrich zwischen zwei gelbhäutigen Wangen, »Sie wollen mir also die kleine Gefälligkeit nicht erweisen?«

»Was Sie verlangen ... gern, wenn ich es könnte, aber es steht außer meiner Macht ...«

»Tun Sie doch nicht so ...«, knirscht Fräulein Pöpperl, »man weiß doch, was man weiß.«

»Was weiß man?« fragt Marianne scharf.

Fräulein Pöpperl hat eingesehen, daß hier alles umsonst ist, und hat sich schon abgewendet.

»Eine niederträchtige, ungefällige Person«, sagt nachher Fräulein Pöpperl zum Kollegen Bretschneider. »Ich habe es gleich gewußt, wie sie hier hereinkam«, stimmt Bretschneider zu, »eitel, selbstgefällig, überheblich, eingebildet, rechthaberisch ... das ist sie.«

»Ein Ekel von Kollegin«, schließt sich Fräulein Strippe, eine rundliche Giftkugel, an.

»Und was sagen Sie zu der Geschichte mit Haberdietzl«, hackt Fräulein Pöpperl weiter los. »was soll man davon denken?«

»Sie ist ja mächtig für ihn ins Feuer geraten.«

»Und ich weiß nicht, ob diese Besuche in seiner Wohnung ... ich will ja nichts gesagt haben ... aber so viel kann ich sagen, daß ich noch niemals einen Kollegen in seiner Wohnung besucht habe.«

»Jawohl ... man muß etwas auf sich halten«, stimmt Fräulein Strippe bei, »ich war auch noch nie bei einem Kollegen zu Besuch. Und ... ich bitte ... vorher dieser Saliger ... eine recht merkwürdige Auffassung von dem, was sich schickt und was nicht.«

Ohne dabei zu sein, spürt es Marianne durch Fernwirkung, daß sie in der Luft zerrissen wird, aber sie lächelt dazu, denn das hier ist ja nur Zwischenspiel und Übergang; und morgen muß ja nun endlich der Brief kommen, der heute noch ausgeblieben ist und der die Weihnachtsfreude bringt.

Auf dem Beginn von Fräulein Pöpperls Weihnachtsferien liegt bloß der Groll, daß Marianne nicht Christkindl spielen will. Für Haberdietzl aber ist der Christabend das traurige Ende eines durchaus schwarzen Tages. Es war alles so schön und hell aufgebaut, mit einer Menge von Vorfreude und glückhafter Zuversicht verbrämt, und jetzt ist das alles sinnlos geworden.

Da sitzt er nun inmitten des Zusammenbruches zwischen lauter zerschlagenen Hoffnungen, kleinen und großen und einer ganz großen, und ist mit sich allein. Er macht einen Spaziergang, aber es ist wirklich Tauwetter eingetreten, es regnet in Strömen, und schließlich zwingen ihn Wetter und Dunkelheit zur Heimkehr, patschnaß und todunglücklich kommt er im Sängerhof wieder an.

Nein, nicht in seine kahle Bude, was soll er bei dem geschmückten Christbaum, dessen Kerzen er nicht entzünden wird; soll er dort oben bei seinen zertrümmerten Plänen allein sitzen und Trübsal blasen? Viel besser, zu tun, als wäre dies heute gar nicht der Christabend, sondern irgendein gewöhnlicher Arbeitstag. Seine Werkstätte muß ihm heute Zuflucht sein, er muß sich zu seiner Arbeit retten. Da steht er nun bei seinem Kram und weiß doch wieder nicht, was er beginnen soll. Er nimmt eine Zange in die Hand und legt sie wieder hin, er packt einen Schraubenzieher und dreht ihn herum, als wäre er ihm völlig neu, und als wüßte er gar nicht, wozu dies Werkzeug gut sei. Sein Blick fällt auf die neuen Wasserskier, bei deren Bau nun die letzten Erfahrungen verwertet sind, wozu dies alles? Sie sind ihm nur Sinnbild getäuschter Hoffnungen. Eine würgende Bitterkeit steigt auf: ach, er weiß es nur zu genau, was für ein Besuch dies war, den Marianne erwartet hat, oder welche Einladung es war, die sie abberufen hat.

Aber da hört er einen Schritt über sich, und das ist nicht Frau Sammtbands Schritt, die hat einen saftigen Schritt, ein gewichtiges Gangwerk. Oh, Haberdietzl kennt Frau Sammtbands Schritt zur Genüge, wenn die etwa in seinem Zimmer räumt, so zittert die Decke. Es ist eine schwere, gediegene Balkendecke, aber sie bebt dennoch. Dieser Schritt aber ist kaum hörbar, es ist ein leichtes, beinahe musikalisches Geräusch, nahe an der Grenze des Körperlich-Raumhaften ... du lieber Himmel, sollte das etwa gar ....

Atemlos springt Haberdietzl die Treppe hinauf, rennt gegen seine Tür an und fällt beinahe ins Zimmer, weil sie sich im gleichen Augenblick öffnet.

»Eben wollte ich Sie holen«, sagt Marianne, »ich habe Sie unten in der Werkstätte herumkramen gehört.«

Haberdietzl steht auf der Schwelle und traut sich nicht in seine eigene Bude hinein. Das Christkind ist dagewesen! Der Weihnachtsengel! Er hat im Ofen ein Feuerlein angezündet, das ein munteres, zackiges Prasseln verübt, er hat den Tisch gedeckt und jeden Teller mit einem Tannenreis geschmückt. Und drüben auf der Kommode, in sicherer Entfernung von den Gardinen, steht der Lichterbaum mit brennenden Kerzen und vielem Geglitzer auf den Zweigen.

»Kommen Sie doch herein«, sagt Marianne und zieht Haberdietzl an der Hand in seine Bude, »es ist wieder kälter geworden.«

»Und Sie haben keinen Besuch bekommen?« fragt Haberdietzl.

»Nein!« antwortet Marianne ruhig und wendet sich ab, um ein Gedeck zurückzuschieben.

»Und Sie sind auch nicht eingeladen worden?«

Marianne schüttelt den Kopf. »Es war ohnehin sehr zweifelhaft«, sagt sie.

»Und wie sind Sie hier hereingekommen?« setzt Haberdietzl sein Verhör fort.

»Frau Sammtband hat mich eingelassen.« Die einfachste Weise von der Welt, scheint Marianne zu glauben, Haberdietzl weiß es besser. So, Frau Sammtband hat Marianne eingelassen? Ein Sproß aus uraltem Drachengeschlecht, auch er ist den Zauberkünsten Mariannes erlegen.

»Aber nun zu Tisch«, drängt Marianne. Sie hat alles entdeckt, was Haberdietzl vorgerichtet hatte, sie hat alle die Päckchen aufgeschnürt und die Dosen geöffnet und den Inhalt lustig und reizvoll auf den Tellern geordnet. Der Weihnachtsabend steht im Zeichen des Fisches, und es soll eigentlich ein Karpfen sein, gebacken oder in schwarzer Tunke mit Nüssen und Bier. Aber das ist zu umständlich für so eine kahle Junggesellenwirtschaft. Und darum hat Marianne selbst die Fischgerichte mitgebracht, gesülzten Karpfen und gebackenen Seefisch. Dazu kommen dann noch Haberdietzls Dosen: Sardinen und Makrelen und Thunfisch und Gabelbissen, es ist ein Querschnitt durch Brehms Tierleben, Abteilung Fische.

Sie brauchen sich nur zu Tisch zu setzen und zu essen. So mag man in der Halle des Bergkönigs essen oder im Gläsernen Schloß oder sonstwo im allerschönsten Märchenland.

»Und da sind Sie also zu mir gekommen?« fragt Haberdietzl nach einem langen Schweigen.

»Ich dachte, es würde Ihnen Freude machen«, sagt Marianne, »da wir ja nun beide allein sind ...«

Und da bemerkt Haberdietzl erst, was für traurige, trübe Augen Marianne hat, trotzdem sie von Freude spricht. Die Lichter des Bäumchens spiegeln sich gar nicht so sehr hell in ihren Augen, es sind nur trübe, stumpfe Pünktchen. Und um den Mund ist ein harter, weher Zug zusammengeronnen.

Ach, Haberdietzl versteht, er versteht nur zu gut. Er versteht, daß er heute ein Ersatzmann ist, ein Lückenbüßer. Aber auch als Lückenbüßer ist er heute ein Hans im Glück.

Es gibt natürlich auch Backwerk und Datteln und Feigen, und auch zum Nachtisch hat jeder von ihnen etwas beigesteuert. Das ergänzt sich herrlich zu einem vollkommenen Festmahl. Dann holt Haberdietzl eine feierliche Flasche hervor, die zwischen den Fenstern gestanden hat. Pff! macht der Kork, wie er aus dem Hals fährt, und »Prosit!« sagt Haberdietzl, und »Frohe Weihnachten!« sagt Marianne tapfer.

Nach dem zweiten Gläschen ist es nun Zeit für die Bescherung; jawohl, was da sinnlos geworden war, hat auf einmal wieder seinen Sinn bekommen, ein kleines Wunder, Haberdietzl kann das mit einem Goldband umschnürte Seidenpapierpäckchen Marianne überreichen und kann zusehen, wie sie es öffnet und Stifters »Nachsommer« darin findet, in einem Einband aus feinem, weichem, dunkelgrünem Leder. Und dann nimmt auch er aus Mariannes Händen ein Päckchen entgegen, und darin ist eine Brieftasche und ein Merkbüchlein, auch sie in Leder, aber in braunem.

»Woher wissen Sie, daß ich diese Dinge brauche?« staunt Haberdietzl, »längst schon wollte ich sie mir kaufen ... freilich nicht so vornehm.«

»Und woher wissen Sie, daß ich Stifter so liebe?« fragt Marianne, und es ist Haberdietzl, als wären die Lichtpünktchen in ihren Augen nun doch ein wenig heller geworden.

Ist es nun der Wein, der Haberdietzl zur Tollkühnheit fortreißt oder hat ihm die freudige Rührung die Seele geweitet und frei gemacht? Er steht vor Marianne und schluckt und würgt an irgendwelchen Worten und wird abwechselnd rot und blaß, wie sollte es Marianne entgehen, daß da etwas absonderlich Bedeutsames im Anzug ist?

»Nein, bitte«, sagt sie ängstlich und legt ihm die Hand auf den Arm, »ich bitte Sie ... sagen Sie nichts ... lassen Sie alles, wie es ist ...« – »Ich müßte nein sagen«, setzt sie nach einer Weile leise hinzu.

Nein müßte sie sagen ... Haberdietzl kann sich dagegen nicht aufbäumen und muß alles hinnehmen, wie es kommt. Es fällt nun doch ein Schatten in das Märchenschloß im Sängerhof, und der kommt nicht bloß davon, daß nun die Kerzen des Lichterbäumchens gelöscht werden müssen, weil sie ganz herabgebrannt sind und da und dort schon die Nadeln zu glosen beginnen.

Aber ist Haberdietzl nicht allzu unbescheiden, wenn er noch mehr verlangt? Man kann von einem Weihnachtsabend nicht erwarten, daß er alles bringt, was in der Welt an Glück vorhanden ist. Etwas Wehmut hat sich herabgesenkt, aber Marianne läßt sie nicht zu einer dicken Wolke werden. Sie wird nun wieder munter und gesprächig und erzählt viel und wird ganz lustig, und es hilft Haberdietzl nichts, seine Mienen müssen sich nach und nach wieder erhellen. Der verewigte Herr Sammtband sieht von seinem Platz an der Wand auf zwei Menschenkinder, die ihrer Herzenswirrnis wacker Herr werden, und seine Witwe hört nebenan manchmal sogar ein leises Lachen.

Und erst spät nach Mitternacht begleitet Haberdietzl die Kollegin Marianne nach Hause.


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