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Sturm auf die Südwand

Um Mittag sind die drei, der Saliger, der Schnacksele und der Kümmerer, auf dem ersten Pfeilertopf angelangt.

Es ist nicht ganz glatt und klaglos gegangen, so gut auch alles vorbereitet war. In der mordsmäßigen Hitze des gestrigen Rasttages ist der Lawinenkegel am Fuß der Wand stark zusammengeschmolzen, und an den Felsen hat sich eine Randkluft gebildet, die schwierig zu überwinden ist. Man muß jetzt tief in die Kluft hinunter und an den glitschigen Felsen wieder mühsam heraus.

Der schöne, gute Einstieg, den sie ausfindig gemacht haben, liegt jetzt tief unter dem Schnee. Sie müssen jetzt an einer ganz anderen Stelle in die Wand hinein und schinden sich oberhalb des ersten Weges elend zum absteigenden Quergang hinüber; da sind sie glücklich wieder erst dort, wo sie ohne die verflixte Lawine zwei Stunden früher hätten sein können.

Und dazu ist über den ganzen Osthimmel ein grelles Morgenrot ergossen. So ein Morgenrot nimmt sich in der Stadt über den Dächern oder vor einer Berghotelhalle ganz prächtig aus. Maler mögen vor ihrer Leinwand davon entzückt sein und von den wundervollen Tinten schwärmen, wenn man den Durchstieg einer etwas heiklen Wand vor sich hat, ist so ein prachtvolles Morgenrot minder erfreulich.

»I riach an Schnee!« sagt der Kümmerer.

»Halt's Maul!« brummt der Schnacksele. Er kann auch rechtschaffen grob werden, wenn einer so dumm daherredet.

Jetzt aber sind sie auf dem ersten Pfeilerkopf, mit einiger Verspätung freilich, und die müssen sie an der Rast wieder einsparen.

Es ist keine sehr gemütliche Rast. Es muß unendliche Schneemengen oben auf der Gipfelfläche geben, die hat die gestrige Hitze ins Schmelzen gebracht. Das Wasser hat neue Wege gefunden, und es kommt jetzt ein munterer Gießbach gerade über den Felsvorsprung herab, unter dem sich das Lager hinduckt. Ein Wasserfall sprüht herab, sie sitzen hinter einem nassen, lebendigen Vorhang von Wassersträhnen. Und diese niederträchtige Wasserkunst, die auf den Rand des Bandes aufklatscht, hat es fertiggebracht, die Lebensmittelvorräte, soweit sie nicht in Büchsen verschlossen sind, vollständig zu zerweichen. Ihre Mahlzeit besteht also zum Teil aus einem eiskalten Brei. Das hat niemand voraussehen können. Niemand kann dafür. Und es ist auch kein so fürchterliches Unglück, es soll ihnen nichts Ärgeres begegnen.

Aber daß nachher die Kletterschuhe nicht zu finden sind, das ist weit schlimmer. Es kommt nun ein Stück sehr schwieriger Felskletterei bis hinüber zum ersten Firnfeld, und dazu werden unbedingt die Kletterschuhe gebraucht. In den Tagen der Erkundung haben sie einmal ohne Kletterschuhe in der Wand herumturnen müssen. Sie haben es mit bloßen Füßen getan und denken noch jetzt mit Grauen daran zurück. Das können sich auf die Dauer nur Gemsenhufe leisten, aber nicht nackte Menschenfüße. Jetzt wollen sie aufbrechen, jetzt kommt die Kletterstelle, und jetzt sind die Schuhe mit den Hanfsohlen nicht da.

An der etwas wässerigen Speisenfolge trägt niemand die Schuld. Aber daran, daß die Kletterschuhe nicht da sind, muß doch jemand schuld sein. Sie können nur nicht dahinterkommen, wer. Zuerst hat sie der Saliger gehabt, der hat sie dem Kümmerer gegeben und der wieder dem Schnacksele. Aber hat sie der Schnacksele nicht wieder dem Saliger zurückgegeben? Oder dem Kümmerer? Und das Ergebnis von alldem ist, daß sie unten beim Einstieg zurückgeblieben sind. Es kann gar nicht anders sein.

»Sakrahaxen!« flucht der Schnacksele. Zipfeln, wer sie holen soll? Nein, meint der Kümmerer, er hätte halt aufpassen sollen, dazu wäre er ja der Führer, das wäre also seine Sache gewesen, aber da unten bei der Einstiegstelle sei eben alles etwas wirr durcheinandergegangen; ja, und darum werde er jetzt zurückgehen und die Kletterschuhe holen.

Dummes Gerede, meint der Saliger, jeder von ihnen sei auf die gleiche Art verantwortlich, und jetzt werde gezipfelt, das sei die gerechteste Entscheidung.

»Halt«, sagt der Schnacksele, »ist da nicht jemand unter uns in der Wand?«

Sie spitzen die Ohren und halten den Atem an. Sie hören einen Stein hopsen, eine kleine Pause folgt, und dann klopft ein dumpfer Aufschlag unten. Es scheint also wirklich jemand unter ihnen in der Wand zu sein.

Nach einer Weile kollert wieder ein Stein und macht den Sprung in die Tiefe. Wer, in drei Teufels Namen, hat da in der Wand herumzuklettern?

Eine Viertelstunde später sehen sie eine Hand zwanzig Meter tiefer um die Pfeilerkante herumgreifen, dort, wo sich das Band vom Firn herüberzieht, dann folgt ein Kopf, ein Körper erscheint und schwingt sich herum.

»Das ist«, stottert der Schnacksele, »heiliger Strohsack ... das ist ja Marianne. Denn warum? ...« Kein Zweifel, daß es Marianne ist, die da kommt. Sie rufen sie nicht an, niemand spricht ein Wort, man soll Schlafwandler nicht anrufen. Es kann nicht anders sein, als daß Marianne schlafwandelt. Die letzten zwanzig Meter zum Pfeilerkopf sind nicht eben leicht, aber Marianne sucht Tritt und Griff mit einer Ruhe und Sicherheit, daß man staunen muß.

»So, da bin ich«, sagt sie, indem sie den letzten Spreizschritt zu ihnen macht. Sie hat Kletterhosen und Lederweste, und ihr Gesicht ist von kleinen Schweißtropfen überperlt, ihre nackten Knie sind etwas zerschunden, aber es ist kein Zeichen von Erschöpfung merkbar.

»Da bist du, das seh' ich«, sagt Saliger, »und du bist wohl verrückt geworden? Wie kommst du da hinauf?«

»Auf demselben Weg wie ihr. Oder weißt du noch einen andern?«

»Das ist ...«, schnaubt Saliger, »das ist unerhört. Hab' ich dir nicht nachdrücklich genug gesagt, daß wir dich nicht brauchen können?«

»Ja, aber nun bin ich einmal da, daran ist nichts zu ändern. Ihr könnt mich nicht kopfüber von der Wand schmeißen. Übrigens hab' ich euch eure Kletterschuhe mitgebracht.« Marianne setzt den Rucksack ab, da baumeln hinten drei paar Kletterschuhe und noch ein viertes, das Marianne gehört.

»Du denkst uns also auf diese Weise zu zwingen, daß wir dich mitnehmen? Du machst dir wohl kein Gewissen daraus, daß wir jetzt deinetwegen die ganze Arbeit abbrechen müssen.« Saliger ist wütend. Befände man sich nicht hier in einer Wandnische, wo vier Menschen gerade zur Not Platz haben, und wäre Marianne nicht eine Frau, jetzt wäre der richtige Augenblick für eine saftige Ohrfeige.

Marianne aber ist überaus vergnügt und nicht geneigt, irgend etwas krummzunehmen. Sie streckt die Hände in den Wasservorhang, der vor dem Lager eins herabplätschert, und wäscht ein wenig die schmutzigen Finger. »Schau, Franz«, sagt sie sehr sanft, »du hast es mir nicht zugetraut. Aber nun könntest du dich ja überzeugt haben, daß ich euch kein Hindernis sein werde. Bitte, laß mich mit dabei sein.«

Nein, Saliger ist so entrüstet, daß mit ihm nicht zu reden ist. »Und ich sag' dir, ich bleib' hier sitzen, und wenn es bis übermorgen dauern sollte. Ich mache keinen Schritt weiter, ehe du nicht absteigst. Einer von uns wird dich herunterbringen.«

»Paß auf, Franz«, sagt der Schnacksele bedächtig, »jetzt ist sie einmal da. Und wie ist sie heraufgekommen? Auf unserm Weg, nicht wahr? Also! Ist der vielleicht ein Spazierweg ... die Randkluft und der absteigende Quergang? ... und sie hat es gemacht ohne Seilsicherung, ganz allein. Denn warum? Weil sie es eben hat machen können.«

Jetzt tut auch der Kümmerer den Mund auf. Er hat bisher nichts gesagt, aber nun ist wohl die Zeit gekommen, wo er sprechen muß. »Woaßt, Franz«, sagt er, »es is ja net ihr erster Berg ... du derfst net glaub'n, daß sie dir wo hock'nbleibt und net weiter kann ... 's Hochgrindeck hat's g'macht, die Südverschneidung von der Lackenwand, die Gabelspitz direkt aus der Windscharten 'raus und no so a paar Sachen zum Zähnausbeißen. Gonz alloan, Franzl. Die Ausrüstung hab' i ihr b'sorgn müssen, aber gangen is alloan, bin derweil in der Hütten g'sessen und hab' die Hauserin g'macht statt ihrer ... aber i hab' nix sag'n derf'n, sie hat's net leiden mögen ... und jetzt moan i halt, du kannst sie scho mitgehn lassen.«

Eine solche Heimtückerin ist die Marianne also. Macht ganz still und in der Heimlichkeit für sich allein ein paar Gipfel auf Wegen, die, wenn irgendwelche, für die Totenhorn-Südwand die beste Vorbereitung sind. Nun kommt sich Saliger aber hintergangen vor und ist erst recht wütend. Da läßt ihn Marianne große Töne reden und lacht sich ins Fäustchen; sie hat sich über ihn lustig gemacht, diese Duckmäuserin, hat mit dem, was sie kann, hinterm ... ja das kann man hier wohl so sagen, hinterm Berg gehalten ... Eigentlich wäre die einzig richtige Antwort, das ganze Unternehmen abzublasen und ein strafweises Nein zu sagen.

Aber er hat den Kümmerer und den Schnacksele gegen sich, es ist eine richtiggehende Meuterei mitten in der Wand, ein Abfall von ihm zu Marianne. Also gut, sie sollen ihren Willen haben, aber es wird schon eine Stelle kommen, wo Marianne steckenbleibt, und Saliger freut sich auf den Augenblick, in dem er wird auftrumpfen können: Na also, ich bitte, da haben wir die Bescherung. Hab' ich's nicht gleich gesagt?

Für jetzt äußert er nur ganz kurz: »Eine Kritik deines Betragens darf ich mir wohl, für später aufheben.« Wogegen Marianne nichts einzuwenden hat. Und dann zieht er die Bergschuhe aus und legt die Kletterschuhe an, und die anderen tun desgleichen.

Es geht vom Lager eins gleich eine schwere Kletterei los, in eine steile Plattenflucht hinein, deren Tafeln schuppenförmig übereinanderliegen. Sie haben sich in zwei Seilschaften geteilt, und Saliger hat sich mit Marianne verbunden, wenn sie jemanden in Gefahr bringt, so soll er es sein und keiner der andern. Bei der Erkundung haben sie sich auf diesem Teil des Weges schon Mauerhaken und Trittschlingen angebracht, so daß sie es jetzt leichter haben, was in dieser Steilwand eben so heißen mag. Der Schnacksele und der Kümmerer gehen voran und zeigen, wie es gemacht werden muß, dann kommen Marianne und Saliger. Er kann sich nicht über Marianne beklagen, obzwar sie ja noch nie am Seil gegangen ist, macht sie es nach ein paar Weisungen Saligers ganz so, wie es sich gehört. Sie zögert nirgends, sie scheint keine Furcht zu haben und keinen Schwindel zu kennen. Ihr schlanker Körper bewegt sich anmutig und kraftvoll in den Felsen, ihre Hände greifen fest und sicher, ihre Füße kleben an den winzigsten Vorsprüngen fest.

Sie überwindet den überhangenden Riß, mit dem die Plattenflucht endet, und nun sind sie am Rand des zweiten Firnfeldes. Hier verschnaufen sie eine Weile und vertauschen die Kletterschuhe gegen Nagelschuhe und Steigeisen. Marianne sucht Saligers Blick. Er knurrt etwas und schaut sie nicht an. Vielleicht wäre jetzt ein Wort der Aufmunterung am Platz, ein ganz kleines Wort des Lobes und der Anerkennung, Marianne ist gar nicht patzig und eingebildet, ganz bescheiden und demütig ist sie jetzt und bettelt nur um ein freundliches Wort. Aber Saliger ist noch immer sehr böse; er läßt sich nur sehr ungern zu etwas zwingen, Marianne hat ihn hineingelegt, das verzeiht er nicht so rasch.

Das zweite Firnfeld ist steiler und unangenehmer als das erste, über die schlimmsten Stellen wird ein Geländerseil gespannt. Sie müssen die äußerste Vorsicht anwenden, und am oberen Rand ist ein böser Schrund. Saliger blickt auf die Armbanduhr. Wieder eine Stunde länger, als er veranschlagt hat!

Ein Murren in der Tiefe läßt den Kümmerer den Kopf wenden, aber er sagt nichts und klettert weiter. Sie müssen jetzt noch hundert Meter hinauf durch eine Eisrinne, dann sind sie im Lager zwei.

Um fünf Uhr wollten sie dort sein, jetzt ist es mit den Verzögerungen unten im Einstieg und auf dem zweiten Firnfeld acht Uhr geworden. Auf dem Firnfeld und in der Eisrinne haben sie keine Zeit gehabt, auf etwas anderes zu achten als auf Tritte und Griffe.

Nun sind sie im Lager, und nun können sie endlich in die Tiefe und auf den Himmel sehen.

Die Tiefen sind alle blau, ein Höhenzug hinter dem andern, bis zu den entferntesten Tälern hin. Viele Abschattungen von Blau sind ineinandergemischt, Veilchenblau und Kobalt und Ultramarin, es sind alle Töne vorhanden, die im ganzen Bereich von Blau bis Schwarz nur aufzutreiben sind. Der Grünsee ist nicht die Spur von Grün, wie ein Stück schwarzes Eisenblech liegt er unten vor der Wand. Die Jahnhütte, die doch eine gute Stunde vom Grünsee entfernt ist, scheint ganz in seine Nähe gerückt, gelb und rot und winzig ist sie und die Almhütte darunter braun und schwarz, und die dunkeln Punkte um die Hütte, das sind die Leute, die da unten stehen und sehen möchten, was in der Wand vorgeht.

Saliger richtet sein Fernglas in die Tiefe und gibt es an Marianne weiter. Ja, sie sind alle deutlich erkennbar, die Sachverständigen aus Wien und München und Innsbruck und die Magda Kaspar, auch der Lobgesang, der muß wohl im Laufe des heutigen Tages eingetroffen sein. Und vor der Almhütte steht die Regei in ihren Männerhosen und mit dem großen Strohhut. Das ist alles sehr gut und menschlich nahe und vertraut und strahlt Wärme und Behagen aus, als eine ganz feine Regung von Sehnsucht in die Wand hinaus fühlbar.

Aber der Himmel ...!? »Jetzt kimmt's«, sagt der Kümmerer. Ein schmutzig gelber Vorhang zieht sich langsam über den Himmel, hinter dem das Hochgrindeck und die Gabelspitze und die ganze alpine Gefolgschaft des Totenhorns nur undeutlich zu sehen sind. Es grollt und brodelt in dem schmutzigen Gebräu, ab und zu brüllt es auf; und dann wälzt sich ein weißgrauer Schwaden durch das Birnbaumer Törl ins Grünseekar, und binnen einer Minute ist von See und Hütten und Menschen auch nicht eine Spur mehr zu sehen. Von oben und unten quillt es nun gleichzeitig heran, es qualmt aus allen Schrunden und Steinfugen, die Felsen lösen sich in Dampf auf, sie werden von einem grauen Gewoge umhüllt.

Ein schmutziger Sack ist über sie gestülpt, es ist feucht und eisigkalt im Innern dieses Sackes, und er birgt in seinen Tiefen ein Untier, das die vier Menschen in ihrer Wandnische über achthundert Metern Steilabfall von Zeit zu Zeit anbrüllt. Der Kümmerer hat das Morgenrot richtig gedeutet, nur insofern hat er sich geirrt, daß nicht Schnee kommt, sondern Hagel.

Sie stecken mitten in einer Hagelwolke, es kracht in immer größerer Nähe, und dann flammt der ganze Nebel auf, als wäre er ein entzündliches Gas. Man hat keine Ahnung, wohin der Blitz fährt, er wird im Nebel geboren und vom Nebel verschluckt, nachdem der Dampf für einen Augenblick in einem häßlichen Gelb geleuchtet hat. Manchmal fährt so ein satanischer Donnerkeil krachend irgendwo in die Felsen über der Wandnische, wo sich die vier Menschen zusammendrängen; dann poltern Steinblöcke aus der Wand hinab, man hört die Sprünge, die sie im Nebel machen, manchmal pfeifen sie ganz nahe vorbei. Und man kann nur hoffen, daß der Überhang breit genug ist, das Lager zu schützen, die Felsplatte, auf der sich vier Menschen zusammendrängen müssen.

Jetzt aber wird es eiskalt, noch viel kälter als vorher, und dann kommt der Hagel.

Der richtige Hagel kommt strichweise, zieht eine Strecke verheerend über das Land hin und ist dann zu Ende. Ein richtiger Hagel kommt ja von einem berstenden Eisgeschoß, wie es der eisige Weltraum in die Erdbahn schleudert, kleine Mahnungen, daß auch die Weltkörper in das Gesetz des Werdens und Vergehens mit einbezogen sind.

Das da ist aber kein eigentlicher Hagel, der immerhin seine begrenzte Dauer hat. Es ist mehr ein Eisregen aus Stücken von Erbsen- bis Nußgröße, und er kommt auch nicht aus einer Richtung in einem Strich, sondern aus allen Richtungen zugleich. Er trommelt auf den Zeltsack, den sie als Schirm über das Lager ausgespannt haben; dann dürfen sie auf kurze Zeit verschnaufen, weil sich der Sturm irgendwie gedreht hat und nun die Wand andersherum bearbeitet.

Aber der Sturm macht sich seinen Spaß mit ihnen. Er dreht sich wieder zurück und schleudert ganze Fäuste, Riesenfäuste, voll Eisstücke unter höllischem Hohngelächter geradeswegs in die Wandnische hinein.

Sie müssen den Zeltsack wegnehmen, denn der Sturm tobt so schrecklich, daß er jeden Augenblick losgerissen und weggefegt werden kann.

»Du hast's gut, Schnacksele«, sagt Marianne, »dein Andreas-Hofer-Bart deckt dir das Gesicht so schön halb zu.«

Ja, hat sich was, Andreas-Hofer-Bart! Schnackseles Andreas -Hofer-Bart ist beim Bergen des Zeltes ein starrender Eisklumpen geworden und zieht schmerzhaft an der Haut, daß der Schnacksele nichts sehnlicher wünscht, als daß er ihn hätte ablegen und unten am Einstieg zurücklassen können. Nun stülpen sie das Zdarskyzelt über sich und bedauern, daß sie es nicht schon früher getan haben.

Es ist keine behagliche Nacht, die sie so verbringen. Viel Platz ist nicht in so einem Zelt, man muß sich ganz eng zusammenschmiegen, und man kann sich auch nicht etwa ausstrecken wie in einem Himmelbett. Auf diesen paar Handbreit Bodenfläche muß man sich den Raum einteilen, es ist ein geometrisches Problem, und man muß den Körper zu einem Winkelhaken abbiegen.

Und von Schlafen ist auch nicht viel die Rede in dieser Nacht. Sie frieren erbärmlich, und die Zähne machen eine herrliche Klappermusik. Der Sturm sorgt für Abwechslung, und so sind sie alle miteinander recht froh, als sich der Nebel so weit erhellt, daß man hoffen kann, der Tag sei nicht mehr weit.

Er kommt dann auch wirklich, das war ja anzunehmen, wenn man auch manchmal daran gezweifelt haben mag. Und nun scheint es sogar ein verhältnismäßig braver und anständiger Tag werden zu wollen. Der Sturm hört auf, und der Hagel hört auf, und man kann mit der gebotenen Vorsicht aus dem Zelt kriechen. Das ist nicht ganz leicht auf dem beschränkten Platz. Das Zelt ist mit einer Eiskruste überzogen, ganz steif, mit einem glitzernden Überguß, wie von einer Zuckerglasur. Sie bricht krachend entzwei, und inzwischen wird es immer heller. Ein Stück Wand nach der andern kriecht aus dem Nebel hervor, nach oben und nach unten, der Nebel sinkt und steigt, und zuletzt ist der Talnebel im Grünseekar wie geronnene Milch in einer Schüssel.

Damit ist der Saliger ganz zufrieden. »Gut so«, meint er, »da sehen sie unten nichts von uns. Ich hab's nicht gern, wenn einem die Leute so zuschauen. Blicke von unten machen unruhig und unsicher, sie ziehen an einem ...«

Der Höhennebel hat die Wand und die Bergspitzen rundum freigegeben und hoch darüber den ganzen Himmel mit einer dünnen, gleichmäßigen Schicht überzogen. Dort, wo die Sonne aufgehen soll, ist er ein wenig schmutzig rot gefärbt.

»Was meinst, Kümmerer?« fragt der Schnacksele.

Der Kümmerer beschaut die Wetterlage und steckt die Nase in die Luft: »I moan, es geht«, sagt er. Indessen hat Marianne den Tee gekocht. Gestern im Hagelwetter hat es nichts gegeben als einige Keks und den Rest lauwarmen Tee aus den Thermosflaschen. Nun wird Abendessen und Frühstück zusammengezogen, und es ist merkwürdig, was so ein zufriedengestellter Magen für den ganzen Menschen bedeutet. Er kann sogar fehlenden Sonnenschein ersetzen, und eine Nacht im Hagelsturm ist nahezu vergessen.

Beinahe übermütig könnte man werden mit so einem angenehm gefüllten Magen. Aber offenbar ist die Totenhorn-Südwand keine Gegend, in der man ungestraft übermütig werden und einen lustigen Jodler loslassen darf, wie der Schnacksele jetzt tut.

»Damit die unten wissen, daß wir noch am Leben sind«, sagt er.

Es ist nicht ganz sicher, ob es die unten bei der Jahnhütte hören können, wenn der Schnacksele in achthundert Meter Höhe über dem Grünsee jodelt, aber jedenfalls geschieht jetzt etwas, um den Übermut zu dämpfen. Auf diesem engen Raum müssen vier Menschen mit ihren Bewegungen sehr sparsam sein, und jetzt tut Marianne eine unbedachte Wendung ...

Saliger sieht, was kommt, er macht einen Schritt und Griff, aber es ist zu spät ... der Rucksack, der am Rand des Lagerplatzes liegt, stürzt schon und fegt den Feldstecher Saligers mit. Er stürzt, sie sehen ihn in der geronnenen Milch des Grünseekars verschwinden, und dann, nach Sekunden, kommt der dumpfe Aufschlag herauf.

Sie haben nur zwei Rucksäcke mit Lebensmitteln mit, und der eine liegt nun unten im Grünseekar.

Marianne preßt erschrocken die Hand auf den Mund, und ihr entsetzter Blick bittet Saliger um Verzeihung.

»Na ja«, nickt der Schnacksele, »so was kann vorkommen! Hauptsach, daß die Schlosserei noch da ist, und ein Glück, daß die Potschen nimmer im Rucksack waren.« Und das ist sehr edel und großmütig vom Schnacksele, daß er es so nimmt, denn in dem abgestürzten Rucksack ist sein ganzer Zigarettenvorrat gewesen, und ohne seine Zigarette ist der Schnacksele nur ein halber Mensch.

Nun ist noch Mariannes Rucksack da, und sein Inhalt muß für diesen Tag und vielleicht für noch ein Freilager und den Abstieg reichen.

»Müaß mer ins es halt einteilen«, meint der Kümmerer in aller Seelenruhe. Es kommt aber Marianne weder darauf an, was der Schnacksele noch was der Kümmerer sagt, es kommt ihr einzig darauf an, was der Saliger sagt. Vielleicht erwartet sie, daß er nun auffahren und daß ein vernichtendes Wetter über sie Hereinbrechen werde. Sie trägt die Schuld, daß nun der Rucksack unten im Grünseekar liegt. Ach was, Rucksack hin, Rucksack her ... das Zeißglas liegt unten, in Trümmer zerschellt, Valeries Liebesgabe, und vielleicht meint Saliger gar, es sei nicht ganz ohne Absicht geschehen ...

Aber Saliger sagt nicht dies und sagt nicht das, er sagt gar nichts. Er wendet sich ab, schaut Marianne nicht einmal an und tut, als sei nichts geschehen. Vielleicht deshalb, weil andere, höhere Dinge auf dem Spiel stehen, und weil es darauf ankommt, die seelischen Kräfte nicht zu schwächen, die jetzt gesammelt eingesetzt werden müssen. Vielleicht schiebt er die Abrechnung auf.

»Also los!« sagt der Saliger, als alle die Kletterschuhe angelegt haben.

Sie haben die Fortsetzung vorher einigermaßen erkundet; zuerst kommt ein schwarzer, nasser Riesenkamin, der durch überhängende Blöcke versperrt ist; soviel wissen sie; was weiter oben kommt, ist Überraschung, ob freundliche oder unfreundliche, steht in den Sternen geschrieben oder vielmehr in dieser Wand.

Der Riesenkamin hat niemals sehr einladend ausgesehen, aber in der Nähe zeigt er sich ganz besonders unangenehm. Er ist halb voll mit morschen Eisgebilden, unter denen das schwarze Wasser gurgelt, und alle Griffe an den Felsen links und rechts sind mit Hagelkörnern bedeckt. Die Finger müssen sie erst wegwischen, ehe sie froststarr und unsicher Halt finden. Und natürlich sind die Kletterschuhe nach drei Minuten durchnäßt und glitschig und haften nicht mehr am Stein.

Aber das eiserne Muß ist stärker als alles Unbehagen. Den ersten Klammblock können sie seitlich umgehen, der zweite muß geradeswegs überklettert werden. Hier ist es aus mit dem freien Klettern, und die Zeit für die Mauerhaken und die Schnappringe ist gekommen. Mit lotrechtem Seilzug und dem Saligerknoten ist es ja eine herrliche Sache. Er ist ein Knoten und hält fest, wenn man aber an einem Seilende zieht, geht er auf, und man hat das Seil wieder in den Händen. Man kann sich auch selbst daran hinausziehen wie mir einem Flaschenzug, und all das brauchen sie jetzt. Ein Haken und noch ein Haken, dann ist es geschafft. Aber dann kommt ein böser, ausgewachsener Überhang.

Die Mauerhaken sind hier eine etwas wacklige Angelegenheit. Beim besten Willen kann man sie höchstens einen bis zwei Zentimeter in den Felsen einschlagen, weiter geht es nicht. Die Ritzen sind alle zu seicht.

»Da schau her!« sagt der Schnacksele, und er nimmt den Haken, den er eben mir aller Mühe in den Stein getrieben hat, und zieht ihn mit der Hand wieder heraus. Ein bis zwei Zentimeter sind ja wirklich nicht viel, aber die Haken sollen ja nicht nach außen herausgezogen werden, sondern gerade nur den Seilzug nach unten aushalten, und im übrigen muß man sich halt so leicht als möglich machen. Man will ja hier in der Wand keinen Schuhplattler tanzen, wo es aufs Aufstampfen ankommt.

Jetzt gehen sie wieder einen Klammblock an, und Saliger glaubt versprechen zu können, daß es der letzte ist, dann dürfte wohl der helle Quergang kommen, wie sie es vermutet haben.

Der Schnacksele und der Kümmerer sind wieder voran, der Schnacksele führt, und der Kümmerer sichert. In zwei Trittschlingen steht er, die an Haken hängen, und bedient das Seil. Über ihm arbeitet der Schnacksele an dem Block.

Wenn etwa noch in jemandem ein Rest des morgendlichen Übermutes vorhanden gewesen sein sollte, jetzt ist der Augenblick gekommen, in dem er gründlich gedämpft wird.

Marianne stößt einen Schrei aus. Sie sieht, daß der Schnacksele in seinen feuchten Kletterpotschen ausgleitet und rücklings vom Block abstürzt, er saust am Kümmerer vorbei und schlägt in der Rinne auf, und nun muß ja der furchtbare Ruck den Kümmerer aus seinem Stand reißen. Aber das Wunder geschieht, der Kümmerer in seinen Trittschlingen an den wackligen Haken hält Ruck und Sturz auf, der Schnacksele baumelt am Seil über der Tiefe.

Es ist anzunehmen, daß jetzt der Schnacksele etwas sagen wird, irgendeinen unzeitgemäßen Spaß etwa. Das ist dem Schnacksele schon zuzutrauen. Aber er sagt nichts, sie ziehen ihn in die Rinne hinein, sie sehen, daß er bewußtlos ist, er muß mit dem Hinterkopf auf den Felsen aufgeschlagen sein, Blut quillt langsam durch das Haar unterhalb des Scheitels.

»Es wird eine Gehirnerschütterung sein«, sagt Saliger, »was jetzt?«

»Z'ruck müass'n mer, zum Lager«, meint der Kümmerer.

Sie müssen nun den Schnacksele frei abseilen, und das ist keine Kleinigkeit mit dem schweren Mann. Zwei Stunden hinauf, drei hinunter, nun ist es acht Uhr, da sie wieder im Lager sind. Sie lehnen den Schnacksele an die Wand, sie reiben ihm die Schläfen mit Eiswasser, sie flößen ihm Tee ein, sein Herz schlägt unregelmäßig und wild, aber sein Bewußtsein ist irgendwo in tiefer Dunkelheit. Sie können nichts tun als warten. Und so erwarten sie es doch, daß der Schnacksele endlich die Augen aufmacht und sich verwundert umschaut.

»So eine verteixelte Schweinerei!« ist sein erstes Wort. Und sein zweites: »Gebts mir eine Zigarette.«

»Ach so!« stellt er dann fest, als ihn alle bedauernd ansehen, und wirft einen Blick in die Milchschüssel unter der Wand.

»A Pfeif'n, wann 's d' magst«, erbietet sich der Kümmerer. »Grad noch a Pfeif'n wär da.« Ja, auch sein Tabakvorrat ist mitgegangen und liegt jetzt unten irgendwo im Grünseekar.

»Wie geht's?« erkundigt sich Saliger.

»Brummschädel groß B, Brummschädel und Ringelspiel, der reinste Wurstelprater ist in meinem Schädel. Aber es geht, es muß gehn ...« Er richtet sich auf, taumelt, der Kümmerer fängt ihn auf und lehnt ihn wieder an die Wand.

»Nein, es geht nicht«, sieht der Schnacksele wehmütig ein, »auf meine geschätzte Mitwirkung müßt ihr schon für diesmal verzichten.«

»Wir warten, bis du soweit bist, und dann steigen wir ab«, entschließt sich Saliger.

»Ach nein«, widerspricht der Schnacksele, »das war noch schöner ... weil ich so ein geselchter Aff bin und mir den Kürbis zerhau? Jetzt, wo wir so weit oben sind. Ich bleib' da und wart' auf euch.« Er wirft einen Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk, hält sie ans Ohr: »Da schau ... geht noch. Neun Uhr ist's. Da vermacht ihr es noch. Und morgen bringt's mich 'runter ... Ich könnt es mir mein Leben lang nicht verzeihen, wenn ich dran schuld sein sollt, daß ihr umkehren müßt.«

Es ist mit Schnacksele nichts auszurichten. Er hat seinen Dickschädel aufgesetzt, ganz gut, daß er einen solchen Dickschädel hat, jemand anderem wäre der Kopf bei dem Sturz vielleicht geborsten wie ein Ei; er mag bloß eine Gehirnerschütterung davongetragen haben, aber sie hat nicht genügt, um ihn so weit zu betäuben, daß er nachgeben würde. Sollen die Leute in der Jahnhütte vielleicht sagen, die ganze Unternehmung hat abgeblasen werden müssen, weil er so ein Idiot gewesen ist, abzustürzen, und daß man ihn als kranken Mann unter den Klängen eines Trauermarsches hat ins Tal schaffen müssen, he? Nein, das kann Saliger nicht von ihm verlangen, wenn er sein Freund ist.

»Gut«, sagt Saliger endlich, »aber wir können dich hier nicht allein lassen. Jemand muß bei dir Zurückbleiben.« Darüber läßt nun wieder Saliger nicht mit sich reden, und der Schnacksele muß murrend damit einverstanden sein. Nun kann Marianne beim Schnacksele zurückbleiben. Oder es kann der Kümmerer Zurückbleiben. Und es steht beim Saliger, zu entscheiden, mit wem er den Versuch noch einmal machen will.

Saliger legt sorgsam Seil und Werkzeug zurecht, teilt den Lebensmittelvorrat aus Mariannes Rucksack in zwei Hälften und reicht ihr ein Bündel Mauerhaken, den Kammer und die Schnappringe. Der helle Quergang ist nicht so, wie sie ihn sich vorgestellt haben. »Da!« sagt er, »komm!«

Saliger hat sich wohl darunter so etwas wie eine Felsleiste vorgestellt, aber als sie nun da sind, zeigt es sich, daß dieses Band nur ein heller gefärbter Gesteinstreifen ist, der fürchterlich ausgesetzt durch die Wand verläuft. Er zieht sich zwischen ganz glatten Platten hin. Nur in dem gelben Gestein gibt es einige Tritte und Griffe. Man muß hier die äußerste Vorsicht anwenden, das Gestein ist so mürbe, daß sich jeden Augenblick Blöcke loslösen und mit wildem Geheul den Sprung in die Tiefe machen.

Sie turnen um eine ausgesetzte Rippe herum, und dann haben sie die Fortsetzung vor sich. Ein Wandstück von ganz niederträchtiger Steilheit und dazu in seiner ganzen Ausdehnung mit Eis gepanzert.

»Fünf Seillängen! Eine Stunde!« schätzt Saliger.

Aber wie er das Eisbeil in das Eis einschlägt, bricht eine ganze Platte ab und saust surrend die fast senkrechte glatte Eiswand hinab.

»Verdammt!« knurrt Saliger, »da heißt's aufpassen!« Er untersucht die Wand weiter, und es ist wirklich so, wie er befürchtet. Die Eisschicht ist morsch und brüchig, vielleicht auch hat ihr das Hagelwetter der Nacht Schaden zugefügt. Und das schlimmste ist, daß sie unterhöhlt ist, sie liegt dem Felsen nicht an, zwischen Eis und Wand ist ein Hohlraum.

Hier ist mit Stufenschlagen nichts zu richten, man würde sehr bald mit dem geborstenen Eispanzer abfahren. »Gib acht!« sagt Saliger und zeigt Marianne, wie man es machen muß. Man muß diese tückische Wand überlisten, sie darf es sozusagen nicht merken, daß sie beschlichen wird. Ganz langsam und ohne Erschütterung der Eiskruste muß man sich aufrichten und das Gewicht verlegen, während sich die linke Hand mit der Kralle des Eisbeils festhakt. Unendlich behutsam schiebt sich Saliger die Steilwand empor, es dauert eine Stunde, und das Seil ist fast zu Ende, ehe er einen festen Stand findet. Stand? Hier hat sich der Felsen durch den Eispanzer gebohrt und gibt dem einen Fuß einen zwei Hände breiten Stützpunkt; dazu leistet sich Saliger einen Mauerhaken zur Sicherung. »Nachkommen!« befiehlt er, und Marianne tritt ohne einen Augenblick Zögern ihren Weg an. Mit Marianne ist es ganz sonderbar: sie hat nicht die mindeste Angst, ja nicht einmal die Besorgnis, daß sie an irgendeiner Stelle versagen könnte. Sie geht wie im Traum durch alle Schwierigkeiten, sie schließt auch wirklich manchmal die Augen, aber nicht aus Furcht vor dem Schwindel, sondern weil sie den Weg kaum zu sehen braucht, weil Füße und Hände ganz von selbst das einzig Richtige tun. Sie ist von einem vollkommenen Glück erfüllt; sie ist ja mit diesem Mann, den sie irrsinnig liebt, durch das Seil verbunden. Sie hängen aneinander, einer des andern Schützer und Sicherer, es ist eine Gemeinschaft, eine Schicksalsgemeinschaft auf Leben und Tod. Marianne ist von aller Körperschwere befreit, sie schwebt die Felsen hinan, bohrt sich ein, macht sich dann wieder, wenn es Sicherung gilt, schwer wie Blei, ganz wie es der Augenblick erfordert.

Und Saligers gleich anfängliches Staunen wächst immer mehr. Sein Widerstand und seine Mißstimmung schwinden völlig dahin vor diesem Wunder, das sich Marianne nennt. Es gibt offenbar keine Schwierigkeiten für diese Frau. Hier, an dieser so tückisch eisüberkrusteten Wand, hätten wohl sogar der Schnacksele und der Kümmerer bedenkliche Gesichter gemacht. Marianne aber folgt Saliger auf diesem Todespfad, ohne eine Miene zu verziehen, wie macht sie das nur? Hat diese Frau wirklich keine Schwere?

Aber unter Saliger kracht die dünne Kruste beträchtlich, jeder Schritt muß gründlich überlegt werden. Auf fünf Seillängen und eine Stunde hat Saliger die Überquerung geschätzt; es werden sieben Seillängen und vier Stunden daraus. Nun ragt die Zeit schon weit über die Tagesmitte hinaus, und es mögen immerhin noch hundertfünfzig Meter bis zur Höhe sein.

Jetzt aber ist die vereiste Wand überwunden, und es kommt eine Art Belohnung: eine Seillänge flottes Klettern in einem Riß. Daß da von allen Seiten wieder Wasser herunterkommt, darf nicht stören, und es darf nichts ausmachen, daß sie patschnaß wie gebadete Mäuse oben ankommen. Ja, und nun? Sie hocken unter einem Überhang und verschnaufen ein wenig. Sie haben es nötig, ein wenig zu rasten. Dieser Überhang ist wohl das Tollste, was sich die Wand bisher geleistet hat. Wie ein gewaltiges Dach ragt er über die Tiefe hinaus.

Es sei wohl die letzte bedrohliche Stelle, meint Saliger: »wenn wir erst da hinüber sind ...«

Ob ich wohl seitlich herumkomme?« fragt er Marianne, als wäre sie ein erprobter Bergführer.

»Vielleicht linksherum«, erwägt Marianne.

Gut, Saliger versucht es linksherum. Alle Kunststücke und Hilfen müssen angewendet werden. Mauerhaken und Trittschlingen und Seilzug. Meter für Meter arbeitet er sich hinauf, es geht, es geht. Er schlägt einen Haken um den andern ein, tiefer als eine oder höchstens zwei Fingerbreiten bringt er sie nicht in den harten Stein. Jetzt kommt eine Wendung um eine Rippe, über Saliger ist der Felsen, unter ihm nichts als Luft.

Er beugt sich vor, um einen neuen Haken einzuschlagen.

Da spürt er, wie der Haken, an dem er hängt, nachgibt. Eine riesige knochige Krallenhand reckt sich aus der Tiefe empor und tastet nach seinem Nacken. Nein, noch nicht ... Das Leben ist so wunderbar und wichtig und wertvoll; nur die Ruhe kann es machen. Saliger nimmt seinen Körper unendlich langsam in die frühere Stellung zurück, jeder Ruck muß vermieden werden, er zieht das Seil an. Nun kommt es darauf an, ob der Haken so lange hält, bis er das Seil im nächsten festeren Haken hat.

Es gelingt. »Zug« ruft er Marianne zu, und Marianne zieht ruhig und besonnen an.

Gerettet! Saliger hängt am Seil, und unter ihm baumelt der Haken, an dem er zuletzt gehangen hat. Die Krallenhand, die nach ihm gegriffen hat, ist verschwunden.

»Fünf Minuten!« meldet er nach unten. Fünf Minuten gönnt er sich Zeit, ehe er den Überhang von neuem angeht. Und diesmal kommt er herum, kämpft sich weiter, und dann folgt ihm Marianne sicher und leicht mit einem leisen Lächeln um den Mund und in den Augen.

Aber Stunden sind darüber hingegangen, der Höhennebel ist fort, und die Spätnachmittagsonne steht tief über den Bergen.

»Hinunter kommen wir vor Nacht nicht mehr«, sagt Saliger.

»Wenn wir nur hinaufkommen«, gibt Marianne zurück.

Das letzte Stück ist nicht ganz so leicht, wie es sich Saliger von unten vorgestellt hat. Es kommt wieder ein Stück Eisarbeit über wulstartige Stufen, über eine Art vereisten Wasserfall. Saliger schlägt Standkerben, da prallt ihm der Kopf seines Kletterhammers ab.

Weg ist er. In großen Sprüngen springt er surrend hinunter.

»Unsere Verlustliste wird immer größer«, meint Marianne.

Es muß also auch mit bloß einem Kletterhammer gehen, und es geht, aber umständlich genug bis zum letzten Wandstück, wo die Steigeisen wieder mit den Kletterschuhen vertauscht werden müssen.

Es dämmert, da sie über die Schlußwand auf die kleine Gipfelfläche des Totenhorns kommen. Die Südwand ist bezwungen.

In hellem Gelb wölbt sich der Himmel über ihnen, zaghaft rieselt Sternenlicht da und dort über die Berge. Saliger und Marianne liegen nebeneinander zwischen den Felsblöcken, die wie Zinnen die Wand bekrönen, und schauen in die Tiefe. Auch der Talnebel ist fort, er hat sich gehoben und hängt in weißen Fetzen zwischen den Rippen der Wand. Einzelheiten sind nicht zu unterscheiden, es ist dunkel dort unten. Das winzige Pünktchen mag wohl das Hüttenlicht sein.

»Ob sie sich im Lager um uns Sorgen machen?« fragt Marianne.

»Sie werden sich wohl denken, wie es gekommen ist«, zuckt Saliger die Achseln.

Dann stürzen sie sich auf den Rucksack, und Marianne packt aus.

Plötzlich faßt Saliger Mariannes Handgelenke mit hartem Griff, reißt sie herum und zwingt das Mädchen zum Blick in seine Augen: »Und nun will ich endlich wissen, was das alles bedeuten soll. Was für eine Duckmäuserei ist das doch! Bereitet sich heimlich vor, macht allerhand Bergtouren ... und warum hast du nicht den Mund aufgetan?«

»Du hast mich ja nicht gefragt«, hält Marianne seinen Blick aus.

»Hab' ich denn eine Ahnung gehabt? Wie und wonach hätte ich dich fragen sollen?«

Das muß eine ungeheuer verzwickte Sache sein, denn Marianne gibt keine Antwort. Sie macht ihre Handgelenke los und wird wieder Rucksackhausfrau mit Aufstreichen und Austeilen.

Saliger aber ist hartnäckig und läßt nicht locker, er möchte das nun einmal ausgeredet haben: »Sag selber ... hab' ich denn nicht annehmen müssen, daß das Launen sind ...? Daß du dir bloß nicht vorstellen kannst, um was es geht und wie das in Wirklichkeit ausschaut? Sag selber ... hab' ich denn nicht das denken müssen ... nach dem, wie ich dich früher gekannt hab'? Und für ein bissel Mitspielen-Wollen war die Geschichte doch zu ernst ...«

So redet Saliger, er redet, so gut er's versteht. Auf Männerweise. Aus dem Verstand heraus, in folgerichtigen Sätzen, einer hält den anderen beim Schwanz. Er weiß nichts von Widerspruch und Stolz und Trotz und gekränkter Eitelkeit und Hochmut und den neunundzwanzig anderen Wurzeln weiblicher Unbegreiflichkeit.

Ja, ja, gewiß hätte Marianne nur den Mund aufzutun brauchen und etwa sagen: Du darfst mich nicht für ein bergsteigerisches Wickelkind halten ... ich bitte ... das und das und das hab' ich geleistet. Dann hätte sie einen Anspruch darauf gehabt, daß ihr Vorschlag ernstlich erwogen werde. Aber nichts davon? Kein Wort?

Sie gibt auch jetzt keine eigentliche Erklärung, weit entfernt davon, sie sagt etwas, was die Sache nur noch verwickelter zu machen geeignet ist. Sie sagt: »Ein Gottesgericht ... ich habe es als ein Gottesgericht genommen ...«

Nun sollte der Saliger aber erst eigentlich zu fragen beginnen, warum und wieso? Aber er tut es nicht. Es hat ihm einen Ruck gegeben, und jetzt schaut er nachdenklich die Schroffen des Hochgrindecks an, die als die letzten von all den Bergen ringsum noch einen fahlen Lichtschimmer tragen: »Ja«, sagt er, »du hättest bloß dort bei dem Überhang ... wo der Haken herausgegangen ist ... ein bissel jäh anziehen dürfen ... man darf eben den Kopf nicht verlieren! ... ›Denn warum?‹ fragt der Schnacksele ... weil sonst alles miteinander zum Teufel geht.« Er schweigt und kaut seinen Schokoladenzwieback. »Und hast du bei alldem auch nicht ein einziges Mal Angst gehabt?«

»O doch«, lächelt Marianne.

»Gott sei Dank ... sonst wärst du mir beinahe unheimlich. Und wann?«

»Wie das Zeißglas abgestürzt ist ...«

»Das Zeißglas ... warum?«

»Ich habe Angst gehabt, du könntest glauben, ich habe es absichtlich getan.«

»Warum solltest du es absichtlich getan haben?«

Marianne hat die Knie angezogen und die Arme darumgelegt, sie schaut geradeaus in die Ferne. Ein Wort kommt langsam, fast unhörbar von ihren Lippen: »Valerie!«

»Ach was, Valerie!« knurrt Saliger entrüstet, »ich weiß nicht, was ihr alle mit eurer Valerie habt ...«

»Mit deiner Valerie«, nickt Marianne.

»Meiner Valerie ... nun ja, ein ganz lieber Kerl ... ganz brauchbar ... aber ich weiß nicht, ob sie das heute so gemacht hätte wie du ...«

Vielleicht kommt Saliger erst jetzt die Größe der heutigen Leistung so recht zum Bewußtsein, da er davon spricht. Vielleicht war er bisher zu müde, um das richtige Gipfelhochgefühl zu verspüren. Jedenfalls ist es so, daß ihn nun erst der Höhenrausch überfällt. Es wächst alles auf einmal ins Ungeheuerliche, die Bedeutung der alpinen Tat, der Ruhm dieses Erstdurchstiegs ... Franz Saliger und Marianne Mack, diese Namen sind für alle Zukunft unlösbar verkettet. Jetzt erst weiß Saliger so recht, was sich ereignet hat, jetzt weiß er erst, wie fern die unten in Nacht versunkene Menschenwelt ist und daß sie ihrem Gesetz entrückt sind.

Er tritt hinter Marianne und hebt sie an den Schultern jählings hoch, dreht ihren Körper sich zu, daß sie an seine Brust zu liegen kommt. Gesicht an Gesicht.

»Mädel ... du!«

Sein Mund wühlt sich brennend in den ihren. Das heute zwanzigmal vom Tod bedrohte Leben schlägt mit wilder, sengender Flamme empor.

Erst geraume Zeit später merken sie, wie bitterkalt es ist. Unten bei der Jahnhütte mag das eine linde Hochsommernacht sein, hier haucht sie von allen Seiten die Schneeluft an. Zum Glück aber regt sich kein Wind.

»Ja, die haben nun unten im Lager jeder einen Schlafsack und das Zelt für sich«, sinnt Saliger neidvoll. »Soll ich hinunter und einen holen?«

»Du geliebter Schafskopf«, sagt Marianne und streichelt sein Haar. »Wir werden die Nacht auch so überstehen.«

Auf der schneefreien Steinplatte nahe beim Ausstieg richten sie sich ein. Alle wärmenden Kleidungsstücke werden angezogen, ein Zeltblatt unten, ein Zeltblatt oben, und nun schmiegen sie sich so nah als möglich zusammen.

»Wir dürfen nicht schlafen«, sagt Saliger, »Marianne, hörst du! Sonst sehen wir morgen beim Erwachen zu unserem lebhaften Bedauern, daß wir tot sind. Möchtest du das?«

»Nein«, lacht Marianne glücklich.

»Ich auch nicht ... ich habe immerhin noch einiges vor. Also wenn einer einschläft, so weckt ihn der andere ... wir dürfen vor keiner Grausamkeit zurückscheuen.«

Das weiß Saliger alles ganz genau, aber doch ist immer er derjenige, der geweckt werden muß. Er kann schlafen wie ein Hund, zu jeder Zeit und überall, wo er sich hinlegt. Das ist schon eine beneidenswerte Eigenschaft, aber diesmal ist sie gefährlich. Es ist gut, daß Saliger Marianne bei sich hat. In deren Augen kommt kein Schlaf. Sie liegt da, dicht an Saliger geschmiegt, und immer, wenn sie hört, daß seine Atemzüge tief zu werden beginnen, fängt sie an, ihn zu rütteln. Sie hört nicht auf, bis er ungehalten zu brummen beginnt.

»Ja, ja«, sagt er dann und pfeift, um sich wachzuhalten.

Sie sagen auch miteinander Gedichte auf, längst vergessene Schulgedichte, und helfen einander bei den Lücken aus. Aber dann werden Saligers Worte undeutlicher, er lallt nur mehr, und der Rest ist Schnarchen. Marianne muß wieder Grausamkeiten begehen.

Die Nacht ist eiskalt, und Marianne rettet Saliger in dieser Nacht wohl zwanzigmal das Leben. Sie selbst ist hellwach, der Schlaf hat keine Macht über sie, die Kälte kann ihr nichts anhaben. Sie spürt nicht viel von der Kälte, ihre Glieder bleiben geschmeidig, eine unsagbar beseligende Wärme lebt in ihr.

Sie wacht über den Mann, der sein Leben in ihre Hand gegeben hat. Marianne hält die Augen offen und schaut hinauf, wo sich über den Bergzacken die Sternenkuppel durch die stille Nacht dreht.

Nie in ihrem Leben hat Marianne gewußt, daß es so unendlich viele Sterne gibt.


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