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Ob sich der Schnacksele und der Kümmerer Sorgen gemacht haben, weil die zwei ausbleiben? Sorgen? Um den Saliger und die Marianne? Den Saliger kennt man ja zur Genüge, und was die Marianne anlangt, die hat ja gezeigt, was man ihr zumuten darf.
Sie machen sich also keine Sorgen oder tun wenigstens so, als machten sie sich keine. Nur stinklangweilig ist das den ganzen Tag da oben im Lager zwei. Dem Schnacksele geht's noch gut, der hat ja seine Unterhaltung; er erbricht alle Stunden einmal, wie es zu einer richtiggehenden Gehirnerschütterung gehört. Bequemer kann man es gar nicht haben, man neigt sich ein wenig vor, und der Abgrund verschlingt alles.
Aber am Nachmittag ist es aus mit der Unterhaltung. Das Erbrechen hört auf, der Wurstelprater in Schnackseles Kopf stellt den Betrieb um, und was sich nun vordringlich bemerkbar macht, ist der nagende Hunger.
»Einteilen! Einteilen!« mahnt der Kümmerer.
»Teil du dir's ein«, fletscht der Schnacksele die Zähne, »wenn dein halbes Beuschel unten im Grünseekar liegt.«
Er teilt sich es also nicht ein, er macht sich über die Vorräte her und frißt eine erschreckliche Bresche hinein. Und dann kommt ihn natürlich das unbezwingbare Gelüste des Rauchens an.
Der Kümmerer hat still und besonnen seine letzte Pfeife geraucht. Von dem ist nichts mehr zu holen, und aus des Schnacksele Taschen fallen beim Umdrehen nur Wollwuzeln und uralte Brotkrümelchen heraus. Traurig! Traurig!
»Weiß d'!« sagt der Schnacksele nach längerem Brüten, »in Indien und da herum gibt's Leute, die rauchen Hanf, und das nennen sie Haschisch. Gib einmal das Seil her.«
Der Kümmerer langt das Seil hinüber, der Schnacksele dreht das Ende ein wenig auf, reißt einige Hanffasern los und zerzupft sie in ganz winzige Flöckchen. Und die dreht er dann in ein immerhin weiches Papier, dem aber auch nicht an der Maschine gesungen worden ist, daß es einmal ein Zigarettenpapier wurde vorstellen müssen. Und auch der Kümmerer darf sich seine Pfeife mit dem Hanftabak anstopfen.
»No?« fragt der Schnacksele triumphierend.
Der Kümmerer zieht und pafft. »A bissl stark is er halt«, meint er.
Ja, ja, ein bissel stark is er halt, und sowohl der Kümmerer als auch der Schnacksele haben schon anderen Tabak geraucht.
So geht der Abend hin und die Nacht und der halbe nächste Vormittag, und dann fängt der Schnacksele doch an, unruhig zu werden.
»Sie hab'n ob'n übernachten müssen«, beschwichtigt der Kümmerer, »sie kinna noch net da sein.« Aber eine Stunde später spürt auch der Kümmerer die Unruhe in sich. »Jetzt geh i holt«, sagt er, »und schau nach. Und du wartst derweil da auf ins.«
»Na, mein Lieber«, lacht der Schnacksele, »ich geh mit, jetzt bin ich wieder soweit ...«
Sie sind eben im Begriff aufzubrechen, da kommt ein Stein durch den Wasserriß herunter.
»Hallo!« schreit der Schnacksele, als wäre er in der Verwandtschaft mit dem Stier von Uri.
»Hallo!« kommt's von oben zurück.
Und nach einer Weile sehen sie den Saliger und Marianne um den letzten Sperrblock herumkommen und den Wasserriß hinunterrutschen. Heil und gesund sind sie, und lachende Gesichter haben sie beide, als sie wieder im Lager zwei stehen.
»Oben gewesen?«
Ja, freilich sind sie oben gewesen, und ein Steinmandel haben sie aufgerichtet und eine Sardinenbüchse hineingetan mit den Namen und einigen Angaben über den Erstdurchstieg der Totenhorn-Südwand: Franz Saliger und Marianne Mack!
Der Schnacksele breitet die Arme aus und schlägt sie dem Saliger um den Nacken und drückt ihn an sich, wie der Grislybär den Jäger. Und dann packt er auch Mariannes Hände und schüttelt sie, daß sie »Au!« sagen muß. Zu einem ausgiebigen Freudentanz ist hier oben nicht genug Raum. Er kann sich ganz neidlos freuen, der Schnacksele.
»Aber Sorgen habt ihr uns schon gemacht«, sagt er dann, »wie gestern der Hammerkopf vorbeigekommen ist ... das war wohl der deine, Franzl?«
Auch der Kümmerer hat das Eisentrumm vorbeispringen gesehen, aber es hat keiner dem anderen etwas davon gesagt, daß er es gesehen hat und daß dann der eine wie der andere auf das alpine Notsignal gewartet hat.
»Das war nur ein Gruß von uns an euch«, lacht Saliger. »Es muß auch mit einem Hammer gehen, wenn's drauf ankommt. Jetzt rasten wir eine Viertelstunde, und dann gehen wir weiter, damit wir abends unten sind.«
»Halt!« sagt der Schnacksele, »habt ihr noch was zu essen?«
Der Schnacksele hat es sich eingeteilt, er ist wunderbar mit allem fertig geworden, ein Glück, daß noch in Mariannes Rucksack einige schäbige Reste vorhanden sind.
Der Tag ist ganz prachtvoll sonnig, und die Sicht so klar, daß man von der Hütte aus deutlich sehen kann, wie sich die vier flott zum Lager eins und dann durch die Wand hinunterarbeiten. Es sind viele Gläser auf die Südwand gerichtet, es gibt auf der Welt ja noch mehr Gläser als Saligers Zeißglas. Die Meinungen sind freilich geteilt, ob der Durchstieg gelungen ist oder nicht. Der gestrige Nebel hat keine Beobachtung gestattet, und als es gegen Abend heller geworden ist, hat man nur zwei Leute auf dem zweiten Pfeilerkopf gesehen. Nun kommen sie zu viert aus der Wand zurück, und ein ganzer Haufen Neugieriger bricht auf und geht ihnen bis zum Grünsee entgegen.
Eben, als die Abendschatten einfallen, sieht man die vier aus dem Einstieg kommen, und dann fahren sie sausend über den Lawinenkegel ab, in einer Wolke von Schnee stürmen sie mitten in den Haufen der Schlachtenbummler hinein.
»Gelungen?«
»Ja«, strahlt der Saliger, »wir haben's geschafft. Marianne und ich. Der Schnacksele hat einen Unfall gehabt.«
Eine Menge von Bekannten sind noch dazugekommen, die halbe akademische Ortsgruppe ist da; außer dem Lobgesang, den sie ja von oben gesehen haben, als sie noch das Zeißglas hatten, der Carlos Tips, der Kopetzky, der Gaugusch.
Glückwünsche, Händeschütteln, Fragen, »wie war's?« »Schwer gewesen?« Die großen Kanonen machen ernste Gesichter. »Ja, ja ... wir haben große Sorgen gehabt. Das Gewitter vorgestern nacht. Wir haben Posten aufgestellt, ob nicht das Notsignal gegeben wird.«
»Eine gewagte Sache bei so unsicherem Wetter!«
»Eigentlich ganz gegen alle Vernunft!«
»Nun, es ist ja alles gut ausgegangen.«
Der Gaugusch bringt einen Rucksack angeschleppt und schwingt ihn hoch: »Den haben wir im Schnee gefunden.«
Der Schnacksele reißt ihn an sich, knotet die Schnur auf und fährt mit dem Arm bis zum Ellenbogen hinein. Er wühlt darin herum und bringt eine Zigarettendose zum Vorschein. Ein junger Mann springt dem Helden der Südwand mit Feuer zu. Ach! Nun ist der halbe Mensch Schnacksele wieder ein ganzer. »Haben Sie schon einmal Haschisch geraucht?« fragt er den Feuerspender mit durchbohrendem Blick.
»Nein«, stottert der junge Mann.
»Sie haben mir soeben das Leben gerettet ...«, sagt der Schnacksele düster und todernst, »noch eine Sekunde, und es wäre zu spät gewesen ... dafür danke ich Ihnen mit einem guten Rat: Tun Sie es niemals!«
»Was denn?«
Aber der Schnacksele legt den Finger auf den Mund und flüstert geheimnisvoll: »Haschisch ...«, nickt dem jungen Mann noch einmal zu und läßt ihn in völliger Fassungslosigkeit zurück.
»Wo hast du den Rucksack gefunden?« wendet sich indessen Marianne an Gaugusch.
»Drüben auf dem Schnee, ziemlich weit unten, bei dem Block dort.«
»Ist da nicht auch ein Feldstecher dabeigewesen ... ein Zeißglas?«
»Mit abgestürzt ... was?«
»Ja.«
»Ich habe nichts gesehen. Es wird wohl tief im Schnee liegen.«
»Möchtest du mir die Stelle zeigen? Wenn das Glas in den Schnee gefallen ist, dann kann es ja ganz unbeschädigt geblieben sein«, meint Marianne.
»Willst du es suchen? Das hat jetzt keinen Sinn, es wird ja schon dunkel ...«
Ja, es wird dunkel, und alle miteinander treten den Rückweg zur Hütte an, der Schnacksele voran, er hat die mächtigste Stallwitterung. Ein paar große Kanonen haben Marianne zwischen sich genommen.
»Es war leichtsinnig von Ihnen«, sagt die eine Kanone aus Innsbruck, »ausgesprochen leichtsinnig!«
»Ja, es war furchtbar leichtsinnig«, bekennt Marianne und tut, als wäre sie Gott weiß wie kleinlaut.
»Bedenken Sie, was Sie ... als ja doch in der alpinen Technik Ungeübte, hätten anrichten können!«
»Ja«, haucht Marianne. Ach, diese alten Schöpsen, was verstehen denn die von den Bergen? Als ob alles nur auf die alpine Technik ankäme! Es steckt ein solcher Übermut in Marianne, daß sie sich sämtlichen Kanonen, diesen verkalkten Berggreisen, überlegen fühlt.
Auch an Saliger hängt ein ganzer Klumpen Ausfrager und Besserwisser. Es gibt vieles auszusetzen und zu bemängeln. Daß man zum Beispiel den Schnacksele nach dem Absturz nicht gleich zu Tal geschafft hat. Und wenn dem Schnacksele nun oben im Lager zwei doch etwas zugestoßen wäre, wenn er Hilfe gebraucht hätte? Es ist auch eine Anzahl von Leuten der alten Schule dabei, die finden die ganze Schlosserei, diese Mauerhaken und dergleichen, vollkommen verwerflich. »Zu unserer Zeit, nicht wahr?« – »Was man nicht mit Hand und Fuß und Seil machen kann, ist frevelhafter Übermut, nicht wahr?«
Aber der Schriftleiter aus München packt Saliger am Ellenbogen: »Schreiben Sie doch, bitte, gleich einen Bericht für die Alpenvereinszeitung ... eine kühne Tat. Sie haben doch auch Lichtbilder gemacht?«
Nein, Lichtbilder zu machen, das wäre ihnen nicht eingefallen.
»Schade! Schade!«
Ob sie vielleicht wegen der Lichtbilder morgen gleich wieder in die Wand sollten? Nein, nein, das könne er nicht gut verlangen, meint der Schriftleiter.
In der Hüttentür steht Magda Kaspar und begrüßt die Heimkehrenden. Sie hat furchtbare Angst ausgestanden, und man sieht es ihr auch an. »Weißt du, in der ersten Nacht hab' ich kein Auge zugemacht!« Aber sie hat darüber ihre Pflicht nicht vergessen, auf dem Küchenherd brodelt es in mächtigen Töpfen, auf fünfzig Meter im Umkreis der Hütte riecht es nach Gulasch. Und am Küchenherd sitzt noch ein zweites Frauenzimmer und treibt in einer grünen Schüssel Knödelteig ab.
»Da ist mir gerade zur rechten Zeit noch eine Hilfe zugestanden«, sagt Magda.
Das Frauenzimmer am Herd lächelt Marianne an. Ein rotes, wetterfestes Gesicht rundet sich derb um eine etwas knollige Nase, die Augen schauen ruhig und offen und besitzergreifend geradeaus.
»Kennen Sie mich noch?« fragt das Mädchen.
»Ja, gewiß ... ich weiß nur im Augenblick noch nicht ...«
»Wir haben doch einmal zusammen unten übernachtet ... beim Pfarrer in Annaberg.«
Ach ja, nun steht die Erinnerung im hellen Licht. Unten beim Pfarrer in Annaberg, gewiß, es war der Abend, an dem Marianne das Verständnis für dicke Wolljacken und Fleckerlpotschen zum erstenmal aufgegangen ist.
»Ach ja, Helene ... wie doch?«
»Helene Böhmer«, bestätigt das Mädchen.
»Sie sind doch mit einem Buch ... das ›Große Gesundheitsbuch‹, war's nicht so?«
»Ja«, nickt Helene Böhmer bedrückt, »aber damit ist's nichts mehr. Die Bauern nehmen es mir nicht mehr ab.«
»Die meisten werden es wohl schon haben.«
»Nein ... es hat sich jetzt ein Wunderdoktor aufgetan, drüben in Mariaschutz. Ein Bauer, der sagt den Leuten ihre Krankheiten aus ... nun, Sie wissen schon ... die Bauern schicken es ihm in kleinen Fläschchen, und er hält sie gegen das Licht und sagt: Dir fehlt das! Und dir fehlt jenes! Jetzt laufen die Bauern alle dem Wunderdoktor zu.«
»Sie müssen es eben in einer andern Gegend versuchen.«
»Nein, wir haben doch jede unseren Bezirk zugewiesen. Und in meinem ist's aus mit dem Geschäft. Die Firma hat mir schon gekündigt.«
Marianne kennt das sehr genau, wie das ist, wenn einem gekündigt wird. »Das ist traurig!« sagt sie mitleidig.
»Mein Verlobter ist ja nun, Gott sei Dank, gesund. Er ist in Deutschland und hat einen Posten und schreibt, daß wir heiraten können.«
»Nun also.«
»Ja ... zuerst ist mein Verdienst auf seine Krankheit draufgegangen. Und jetzt, wo ich mir etwas für die Aussteuer zurücklegen könnte, werde ich entlassen! Und ich will nicht zu ihm kommen mit nichts als dem, was ich am Leibe habe. Ach was«, lächelt sie wieder mutig, »es wird schon irgendwie gehen.«
»Ja, ein Mädel wie Sie wird schon wieder etwas finden«, nickt Marianne, obzwar sie es am besten weiß, wie schwer es ist, etwas zu finden.
»Ich habe noch einen letzten Versuch gemacht«, sagt Helene, »nichts! Aber unten in Annaberg hat mir der Pfarrer gesagt, daß Sie noch hier oben als Wirtschafterin sind. Da bin ich heraufgestiegen, um Sie zu sehen. Und nun sind Sie berühmt geworden ... ich verstehe ja nichts davon, aber es muß eine ganz große Sache sein ...«
»Wissen Sie«, sagt Marianne nach einigem Besinnen, »ich möchte das ›Große Gesundheitsbuch‹ haben. Man kann es hier oben gewiß manchmal brauchen.«
»Nein, nein«, wehrt Helene ab und wird ganz rot dabei, »das will ich nicht ...«
»Ja ... und nun ziehe ich mich um«, sagt Marianne über den Einwand hinweg, »und trete wiederum meinen Dienst an.«
Aber damit kommt Marianne bei Magda schlecht an. Für heute ist Marianne ausgeschaltet, sie ist die gefeierte Siegerin, Magda ist an ihre Stelle getreten, mit einer Helferin zur Seite, Magda denkt nicht daran, sich verdrängen zu lassen. Das wäre noch schöner! Magda und Helene haben sich mit dem Gulasch geplagt, und nun kommt Marianne, und der Ruhm des Erstdurchstiegs der Südwand genügt ihr nicht – nein, sie will auch noch als Wirtschafterin glänzen. Nichts da – heute ist sie Gast wie jeder andere, es geht auch ohne sie.
Der Schnacksele tritt in die Küchentür und lehnt sich, die Zigarette im Mund, breit und behaglich in die Öffnung: »Na, Kinder, es ist zum Kranklachen, was da drinnen für Unsinn geredet wird ... von all den großen Kanonen ist doch noch immer der Rotter der Vernünftigste, der spricht kein solches Blech ... und ist auch genug Bier da?«
Jawohl, Bier ist da in schweren Mengen. Magda weiß schon, wenn das Bierverbot aufgehoben ist, nach getaner Arbeit, dann schöpft der Schnacksele gern aus dem vollen.
»Weißt du, wenn man so auf den Kopf gefallen ist ... davon kriegt man einen furchtbaren Durst.«
Aber er braucht sich keine Sorgen zu machen, der Schnacksele. Magda ist umsichtig gewesen, sie hat dem großen Zuzug und Schnackseles Durst Rechnung getragen, während die vier mit der Wand rauften, hat Magda durch den Hüterbuben Lenzei und den Hausknecht vom Kaufmann Würbinger alles auf den Grünseekamm heraufschleppen lassen, was gebraucht wird. Zweimal täglich haben sie mit ihren Traglasten den Berg erkeuchen müssen.
»Ja und richtig«, sagt Magda, »der Lenzei hat auch einen Brief von der Post für dich mitgebracht, Marianne ... was Amtliches, glaub' ich ... es liegt oben auf deiner Kammer.«
Der lange Tisch im Hüttenraum ist festlich gedeckt mit dem bunten, lustigen Tischtuch, und viele Gläser mit Alpenblumen stehen darauf. Der Carlos Tips und der Gaugusch sind sehr fleißig gewesen im Blumenpflücken.
Dann läutet der Gong zum Festessen. Das ist eine neue Einführung und wird heute zum erstenmal in Betrieb gesetzt.
Magda ist zur Almerin Regei gegangen: ob sie nicht eine alte Kuhglocke hätte. »Zwegn wos denn?« fragt die Regei und macht ein Gesicht wie siebentausend Teufel.
»Ja, wenn der Saliger und die Marianne aus der Wand kommen, soll's doch ein bissl festlich hergehn.«
»Und da braucht's ös a Kuaglockn dazua?« schüttelt die Regei den Kopf. Nein, diese Stadtleut, auf was für Einfälle die kommen, das ist aus der Weis'. Aber sie verschwindet brummend im Stall und kommt nach einer Weile mit einer alten Kuhglocke wieder.
»Klöppl hot's holt kan mehr«, sagt die Regei.
Das macht nichts, der Carlos Tips nagelt einen Galgen an die Tür und hängt die Kuhglocke daran, und wenn man jetzt mit einem Stück Eisen dagegenschlägt, so läutet auf der Jahn-Hütte der Gong. Nicht sehr lieblich und wundermild, aber dafür um so lauter.
Marianne hat sich umgezogen und trägt nun wieder ihr Hüttendirndlgewand, und sie sitzt natürlich neben Saliger auf einem der Ehrenplätze. Nicht alle haben am langen Tisch Platz, viele minder bedeutende Gäste müssen um ein Faß oder eine Bierkiste sitzen oder das Gulasch gar von den Knien essen.
Es werden allerhand Reden gehalten, die großen Kanonen lassen es sich nicht nehmen, zu der gelungenen Großtat ihren alpinen Segen zu geben, und Marianne kommt jetzt, da es feierlich wird, sehr gut weg dabei. Eine ungeahnte Überraschung! Und sie sei nun in die erste Reihe der bergsteigerischen Hoffnungen gerückt. Und man dürfe nun wohl in der Folge noch weitere bedeutende Leistungen von ihr erwarten.
Nachdem die Reden vorüber sind, steckt Marianne dem Saliger unter dem Tisch einen Brief zu. »Lies das nachher, Franz ... das hat hier auf mich gewartet ...«
Saliger liest den Brief aber nicht nachher, sondern gleich, es ist ja doch wohl kein Geheimnis, was in dem Brief steht. Und wenn Marianne wirklich will, daß er den Brief erst nachher lesen soll, so hätte sie ihm den Brief ja ebensogut erst nachher geben können.
»Donnerwetter!« sagt er und schaut ganz überrascht auf, »na, da kann man dir ja nur Glück wünschen ... also an der Giselaschule in Krems ...?«
Ja, so ist es, dieses amtliche Schreiben kommt vom Landesschulrat und enthält die Mitteilung, daß Fräulein Marianne Mack auf Grund ihrer Bewerbung die Stelle einer Lehrerin an der Giselaschule in Krems erhalten habe. Der Herr Landesschulinspektor Fieber hat also doch Wort gehalten und hat bei all dem tollen Andrang etwas für Marianne getan.
Marianne hat Saligers Miene während des Lesens genau beobachtet. Sie hat aufrichtige Freude festgestellt, aber auch einen kleinen Schatten von Enttäuschung, und gerade dieser Schatten ist es, der sie so unsagbar froh macht.
»Das Lustige daran ist«, sagt sie, »daß ich nun an dieselbe Schule komme, an der auch Othmar Haberdietzl ist.«
»Othmar Haberdietzl? Wer ist das?«
»Jaa«, dehnt Marianne, »das ist doch der Mann mit den Wasserskiern.«
»Wasserskiern?«
»Nun, er erfindet an seinen Wasserskiern herum ... ein komischer Kerl ... weißt du denn nicht ...? Ach, du warst ja damals nicht oben ... er hat sich zu Weihnachten den Knöchel zerquetscht und ist dann drei Wochen hier oben gelegen ...«
Othmar Haberdietzl ist keiner der Menschen, von denen man sagen kann: aus den Augen, aus dem Sinn. Er vergißt empfangene Wohltaten nicht, er hat geschrieben, immer wieder geschrieben, obzwar ihm Marianne nicht öfter als zwei- oder dreimal geantwortet hat. Eine Ansichtskarte von der Hütte und zwei Zeilen. Marianne weiß alles von Othmar Haberdietzl; daß sich sein Wunschtraum erfüllt hat und daß er nun Lehrer an der Giselaschule in Krems ist. Und sie weiß auch sehr genau, wie es mit den Wasserskiern steht, sie hat genaue Beschreibungen darüber und auch Zeichnungen, damit sie sich auskennt. Alles weiß sie, alle Hoffnungen, alle Fehlschläge und alle neuen Versuche.
Aber für Saliger ist Othmar Haberdietzl schon wieder in der Versenkung verschwunden. »Und da mußt du nun mit dem neuen Schuljahr deinen Dienst antreten?«
Ja, das muß Marianne wohl tun, drei Tage vorher muß sie sich beim Direktor melden.
»Und die Jahnhütte?«
Die Jahnhütte, die steht auf dem Grünseekamm, und wenn Marianne Mack dort nicht mehr Wirtschafterin ist, so wird es wohl jemand anderes sein müssen. Leicht wird es nicht, sich das vorzustellen.
Ist nun Saliger doch ungehalten, weil Marianne fort soll? Er kann doch wohl nicht gut ungehalten sein, wenn Marianne nun eine Lebensstellung bekommt?
Vorläufig kümmert er sich nicht weiter um sie, er vertieft sich mit einer der Kanonen in ein Gespräch über die neuen Autostraßen, die jetzt gebaut werden sollen und die jedem Bergsteigerherzen ein Greuel sind. Und dann flaut alles das miteinander ab, aus den Gliedern kriecht die Müdigkeit in den Kopf, nach soviel Stunden Fels- und Eisarbeit und zwei solchen Nächten ist man kein Weichling, wenn man schlafen will.
Nur der Schnacksele und ein paar Unentwegte pochen auf ihr Recht; sie haben noch eine halbe Stunde Zeit, bis zehn Uhr, in Bier umgerechnet: zwei Flaschen.
Am Morgen klopft Saliger an Mariannes Kammertür. Er öffnet vorsichtig, er wagt sich an Mariannes Bett, die Decke liegt so, daß man von der Tür nicht ausnehmen kann, ob jemand im Bett ist oder nicht.
Am Küchenherd sind schon die zwei Frauenzimmer, Magda und Helene, ums Frühstück bemüht.
»Habt ihr Marianne gesehen?«
»Marianne? Die liegt natürlich noch im Bett!« Magda ist quietschvergnügt. Sie ist als Marianne-Ersatz zur wichtigen Person auf der Hütte geworden und hat an Ansehen vor sich selbst ungemein gewonnen.
»Nein, Marianne ist nicht mehr oben!« sagt Saliger, »sie muß ganz zeitig aufgestanden sein.«
Gewiß, Marianne ist zeitig aufgestanden. Saliger sieht sie vom Grünsee herüberkommen. Sie bleibt unten bei der Almerin Regei stehen und spricht mit ihr, und dann tritt sie an den Brunnen, fängt den Strahl in die hohle Hand und trinkt. Den Rest schleudert sie von den Fingern. Es ist für einen Augenblick ein kleines Gesprühe von Diamanten um Mariannes Hand. Du lieber Himmel, ist das noch dieselbe Marianne, die damals im Kaffeehaus so schwer dahin zu bringen war, in die Berge zu gehen? Mit allen vier Elementen ist sie vertraut, mit Feuer, Wasser, Erde und Luft. Und mit der alten Regei. Und aus der Bubikopffrisur ist ein kleines Zopfnest geworden, das ihr ganz reizend im Nacken liegt.
Saliger winkt Marianne einen Gruß zu und steigt den Hügel hinan, auf dem neben dem großen Block die Bank steht, die der Kümmerer gezimmert hat. Er weiß, daß ihm Marianne nachkommen wird.
Und da ist sie auch schon, ein wenig atemlos, weil sie es mit dem Nachkommen so eilig gehabt hat.
»Wo bist du gewesen?« fragt Saliger.
»Drüben beim Grünsee.« Sie reicht Saliger die Hand, es ist eine kühle, frische, noch ein wenig feuchte Hand.
Die Totenhorn-Südwand steht in ihrer urgewaltigen Pracht im Hellen Morgenglanz. Ja, nun wissen sie es genau, wie man sie zu durchsteigen hat. Rechtsherum, das ist schon richtig. Sie sehen die zwei Lager auf den Pfeilerköpfen und den schwarzen Riesenkamin. Den oberen Teil des Weges sieht man nicht, der krümmt sich ein wenig um eine Rippe herum, erst das letzte Stück unter dem Ausstieg tritt wieder ins Blickfeld. Die Wand ist jetzt wie ein aufgeschlagenes Buch, in dem die beiden lesen können.
Es geschieht, ganz unwillkürlich geschieht es, daß Saliger seinen Arm um Mariannes Schulter legt, es ist wie eine Erinnerung an die Schicksalsgemeinschaft, an die Verbundenheit auf Leben und Tod dort in der Wand. Marianne hält ganz still und rührt sich nicht.
Aus der Hütte kommt blauer Rauch. Die Almwiese ist braunrot gefleckt von Kühen. Ganz still ist es, nur unten auf der Alm klappert die Regei mit den Milchzubern, das ist wie eine Art von Läuten, und einmal brüllt der Jungstier kurz und sehnsüchtig in seinem Pferch auf. Neben den beiden sitzt Caruso und schaut mit glänzenden, verwunderten Augen zu, was sich seine Herrin gefallen läßt.
»Ich habe unten dein Zeißglas gesucht«, sagt Marianne nach einer Weile, »es ist aber nicht zu finden. Es muß irgendwo im Schnee stecken. Und der Schnee ist von den vielen Leuten ganz zertrampelt.«
Ihre Stimme klingt ein wenig bedrückt. Vielleicht schweigt Saliger deshalb, weil er dem kostbaren verlorenen Stück nachtrauert, »wenn der Schnee geschmolzen ist, wird sich das Glas ja finden müssen«, tröstet Marianne.
Saliger aber scheint das mit dem Zeißglas ganz überhört zu haben. Er nimmt den Arm von Mariannes Schulter, weitet die Brust und deutet auf die Bank, neben der sie stehen: »wir wollen diese Bank Mariannenruhe nennen. Einverstanden?«
Einverstanden? Ja, Mariannenruhe, nach all der Unrast und all dem schmerzlichen Geflacker des Herzens: Mariannenruhe!
Nun sitzen sie auf der Bank Mariannenruhe, und Saliger hält Mariannes Hand in der seinen. Diese schmale, feste Hand ist es gewesen, die das Seil anzog, als der Haken aus der Wand ging und die knöcherne Kralle aus der Tiefe nach ihm griff.
Man kann diese Hand sehr lange ansehen, ohne daß man genug bekommt.
»Weißt du«, sagt Saliger langsam, »es ist mir da ein Gedanke gekommen ... im Herbst fängt nun für mich der Beruf an, nicht wahr? Und für dich beginnt im Herbst die Schule. Das sind gerade drei Wochen bis dahin ... dann ist es aus mit der Freiheit. Ich werde später natürlich meinen Urlaub haben und du deine Ferien ... aber weiß man denn, wie das werden wird ... ich meine ...«
Er sagt nicht gleich, was er meint. Er wartet ein wenig, ob vielleicht Marianne jetzt ahnt, was Saliger meint, und ihm ein wenig weiterhilft. Marianne aber hat die Fußspitze ausgestreckt und kratzt mit ihr Carusos Fell. Der Hund wälzt sich auf den Rücken, streckt alle viere in die Luft und stöhnt vor Behagen.
»Ja, ich meine«, fährt Saliger fort, »es wäre doch fein, wenn wir diese Zeit dazu benützen würden ... um noch einige schöne Berge miteinander zu machen. Ich habe mich ja überzeugt, daß es mit dir geht ... sehr gut geht«, lächelt er.
Marianne schaut auf, und ihr Blick ist ein strahlendes Jasagen.
»Nicht hierherum in der Nähe ...«, erklärt Saliger, »anderswo ... ich denke an die Schobergruppe oder an die Kreuzeckgruppe ... Nichts Haarsträubendes mehr, keine Herausforderung ... aber es sind da einige Berge, die ich gern gemacht hätte ... eine kleine Reise also ... vielleicht mit Salzburg als Ausklang ...«
»Es ist nur ...«, sagt Marianne leise.
»Ja, ich weiß ... es ist wegen der Hütte ... aber könnte dich nicht jemand vertreten, Magda etwa ... bis wir eine andere Wirtschafterin gefunden haben; ich lasse die Stelle sogleich ausschreiben ...«
Marianne schüttelt den Kopf: »Magda? ... nein ... Sie muß in drei Tagen wieder in Wien zurück sein ...«
»Hm!« knurrt Saliger, bricht mit hartem Griff einen Stein aus dem Felsblock neben der Bank und wirft ihn weit über den Abhang hinunter. Caruso fährt auf und rast bellend dem Stein nach.
»Ja aber ...«, beginnt Marianne wieder vorsichtig, »es könnte sein ... es ist ein glücklicher Zufall ...«
Ist es nicht wirklich ein glücklicher Zufall, daß eben jetzt Helene Böhmer da ist Und nun erfährt Saliger alles über Helene Böhmer. Gewiß ist Helene Böhmer bereit, und sie ist auch die richtige Person dazu, wie sie sich gleich zu allem geschickt angestellt hat. Gewiß tut sie auch ihrer Firma nur einen Gefallen, wenn sie ihren Posten sofort verläßt.
Und wie Caruso mit dem Stein zurückkommt und ihn gegen Saligers Knie stößt, ist bereits alles entschieden.
»Ja ... ja«, leuchtet Saliger auf, »diese Helene Böhmer also ... und dann bist du frei ... Mädel!« Er legt Marianne beide Hände auf die Schultern und schüttelt sie ein wenig: »Freust du dich?«
Dann nimmt er Caruso den Stein ab, tut, als spucke er darauf, und wirft ihn im weiten Bogen unter die Kühe. Und Caruso rast dem Stein nach und hat auch eine Riesenfreude und ahnt nicht, daß eben beschlossen worden ist, daß ihn seine Herrin verlassen soll.
Es fügt sich alles wunderbar, lange hat alles gestockt, aber nun ist es in Fluß geraten, es geht wie durch einen Zauber vorwärts, kein Hindernis mehr, glücklich zu sein.
Helene Böhmer macht große, verwunderte Augen, und dann nimmt sie an. Auch für sie fügt sich alles auf die erdenklich beste weise. Es gibt Zeiten im Leben, wo überall hilfreiche Mächte bereitstehen, um alles zum Guten zu wenden.
»Aber kein Wort darüber«, gebietet Saliger, »wir wollen keinen Lärm machen ... keine Abschiedsfeier und so ... höchstens Magda kann es wissen ... morgen in aller Frühe reißen wir aus.«
Er wendet sich zu Marianne: »Ich entführe dich!« lacht er.
Im Morgengrauen des nächsten Tages ist also niemand da außer Helene und Magda, und es ist ein stiller Abschied. Niemand merkt etwas davon, daß Saliger und Marianne aufbrechen, außer Caruso natürlich.
Man hat ihn anbinden müssen und Helene kniet neben ihm und streichelt ihn und redet ihm zu: »Bist mein gutes Hundel ... und jetzt bin ich dein Frauerl.« Aber Caruso wechselt das Frauerl nicht so ohne weiteres, und die zwei hören ihn noch lange hinter sich her heulen. Als Marianne den drei Männern auf die Totenhorn-Südwand nachgegangen war, hatte er wohl auch geweint und gewimmert, aber so herzzerbrechend hatte er nicht geheult wie diesmal. Irgendwie hat er es wohl heraus, daß es diesmal etwas anderes ist.
»Was hat denn das Hundsvieh?« trampelt der Schnacksele die Hühnertreppe hinab. »Der Saliger hat uns die Marianne entführt!« sagt Magda. Es ist eine lustige Sache, und Magda bemüht sich auch, lustig zu sein, aber sie hat Tränen in den Augen.
Der Schnacksele sinkt auf die Ofenbank und haut mit der Faust auf den Tisch. »Denn warum?« sagt er und schaut in diesem Augenblick ganz so aus, als wäre ihm von seiner Gehirnerschütterung doch ein Knacks im Kopf zurückgeblieben.