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Ein leeres Nachbarbett

Marianne hat sich von Lobgesang ein Schlafpulver aus dem Medizinkasten der Jahnhütte erbettelt. Zunächst ist es jedoch nicht anders, als hätte sie Staubzucker eingenommen.

Als Othmar aufs Zimmer kommt, liegt sie noch hellwach. Aber sie rührt sich nicht, sie hält die Augen geschlossen, nur manchmal blinzelt sie durch schmale Lidspalten. Offenbar glaubt Haberdietzl, sie schlafe schon, er geht auf Zehenspitzen und vermeidet störendes Geräusch. Sein Gesicht ist dabei unentwegt finster und mürrisch. Der Haberdietzl, der den Hut in den Zacken schiebt und pfeift, das ist jetzt sein Dauerzustand.

Versteht Marianne etwas von den Hintergründen dieses Zustandes, schaut sie in die Geheimfächer von Haberdietzls Seele? Vielleicht ist sie im Besitz eines Zauberwortes, das hier mit einem Schlag allerhand Veränderungen bewirken könnte. Vielleicht hat sie die Absicht gehabt, es heute abend auszusprechen, wenn es Haberdietzl nicht vorgezogen hätte, mit Zangerl vor die Hütte zu gehen, das Grammophon spielen zu lassen und mit Zangerl wüste Reden zu führen. Marianne hat durch die offenen Fenster das Grammophon gehört und auch einiges von dem, was die Männer da unten miteinander gesprochen haben. Und was den Esel anlangt, so kann sie Zangerl nur beipflichten.

Sie hat das Wort, das sie sagen wollte, schließlich für sich behalten und tut, als schlafe sie. Aus der Ungewißheit der letzten Wochen ist ja noch keine vollständige Gewißheit geworden, der Augenblick ist wohl noch nicht gekommen.

Haberdietzl geht auf Zehenspitzen, nicht einen Blick wirft er nach Marianne. Er zieht sich aus und legt die Kleider sorgsam über den Stuhl in der Ordnung, wie sie morgens wieder angezogen werden. Das ist so seine Gewohnheit; damit man alles griffbereit hat, wenn einmal ein Feuer ausbricht, hat er Marianne seinerzeit erklärt.

Nun aber scheint er sich doch zu erinnern, daß er eine Schlafgefährtin hat. Er kommt ganz leise an ihr Bett. Marianne muß nun die Augen fest zudrücken und darf nicht blinzeln, aber sie spürt es, daß er an ihrem Bett steht und auf sie niederschaut. Sie hört einen Seufzer, und dann schiebt sich eine Hand ganz sanft über ihre Hand, die sie auf der Decke liegen hat. Das dauert eine ganze Weile, und jetzt ist Marianne nahe daran, die Augen aufzuschlagen und zu tun, als erwache sie. Aber eben da entfernt sich Haberdietzls Hand, das Bett neben dem ihren knackt, und sie hört, wie die Taschenuhr aufgezogen wird.

Gut! Auf morgen also, denkt Marianne.

Jetzt könnte sie ja einschlafen, das Licht ist ausgeblasen, die Stimme des Brunnens scheint lauter zu werden. Aber noch immer will der Schlaf nicht kommen. Die Unruhe, von der Marianne tagsüber umgetrieben wird, rauscht auch des Nachts in ihrem Blut, ihr Herz pocht unregelmäßig, es ist, als habe es nicht genug Raum in der Brust. Ist es wieder das Schuldgefühl, das als Nachtmahr auf ihr hockt? Wo ist da eine Schuld? wehrt sich Marianne. Kann man überhaupt hier von einer Schuld sprechen? Kommt dieses Flackern und diese Bedrängnis nicht vielleicht zum Teil von der Ungewißheit her, die Marianne quält? Aber ist es nicht doch schon so weit, daß Marianne Gewißheit hat?

Sie wird von diesem Hin und Her müde, und zuletzt wirkt dann wohl doch das Schlafmittel. Marianne gleitet sacht in ein Dickicht von Träumen, schön und wirr, ein fremdländisches Pflanzengewucher, Lianen ziehen sich von Baum zu Baum, jede Liane eine üppige Traumpflanze. Eine weite Wasserfläche glänzt, viele zackige Inseln schwimmen darin, aber sie liegen nicht ruhig, sie bewegen sich, es sind keine Inseln, es sind die zackigen Rückenkämme gewaltiger Krokodile. Es ist der Amazonenstrom, sagt sich Marianne, natürlich ist es der Amazonenstrom. Und zwischen all den Bestien kommt jetzt jemand daher, es wandelt jemand auf dem glitzernden Strom. Haberdietzl auf seinen Wasserskiern. Marianne möchte schreien, will ihn warnen, aber ihr Mund ist von einem Knebel ausgefüllt. Keinen Ton bringt sie heraus. Da ist er auch schon heran, steht an ihrem Bett und beugt sich über sie. Sie fühlt seine Lippen auf ihrer Stirn und hört ihn etwas murmeln, was hat er gesagt? Hat er nicht etwas von einer Entscheidung gesagt? Und Marianne kann nicht fragen, sie will nach ihm greifen, da gleitet er schon wieder fort, wird kleiner und kleiner und verschwindet in der Ferne. Und nun schwillt der Strom an, tritt über seine Ufer, hebt Mariannes' Bett auf und führt es mit sich, Nun fährt sie selber zwischen den zackigen Inseln dahin, die lauter Rückenkämme von Krokodilen sind, lange fährt sie so dahin, endlos lange ...

Bis sie ein Ruf von irgendwoher erreicht, ein lauter Ruf, wie aus Not und Gefahr: »Marianne!«

Sie sitzt aufrecht im Bett. Mein Gott, wer hat denn da Mariannes Namen gerufen; Im Viereck des Fensters ist ein graues Tuch ausgespannt, ein Ausschnitt aus einem trüben Tag, mit dünnen Regenfäden überspannt, wie spät es wohl sein mag?

Marianne wendet sich dem Nachbarbett zu. Es ist leer. Leer wie damals in Bar le Guines, als Haberdietzl ausriß, um über den Kanal zu wandeln. Aber diesmal handelt es sich nicht um den Kanal und um Wasserskier. Auf dem Kopfpolster von Haberdietzls Bett liegt ein Zettel: »Ich bin in der Wand!«

Marianne greift nach dem Sessel und reißt die Armbanduhr an sich. Zehn Uhr! Das Schlafpulver hat seine Schuldigkeit getan, allzu gründlich hat es seine Schuldigkeit getan. Zehn Uhr! wenn Haberdietzl um drei Uhr aufgebrochen ist, so ist er jetzt seit sechs Stunden in der Wand.

Zeit genug für die schrecklichsten Dinge.

Fünf Minuten später schmettert die Tür im Hüttenraum gegen den Anrichteschrank. Der Kümmerer sitzt bei einem Topf Kaffee und schneidet mit seinem Taschenmesser große Brotwürfel hinein. An einem Tag wie dem heutigen kann man es sich leisten, spät aufzustehen. Zangerl schaut von seinem Tagebuch auf, und Lobgesang wirft den Rucksack hin, dessen Riemenzeug er ausbessert.

Der Bircher Schnacksele aber, der eben hinausgehen wollte, ist der nächste und faßt rasch zu. Es sieht ganz so aus, als ob Marianne umsinken wolle.

»Mein Mann ist in der Wand«, sagt Marianne.

»Haberdietzl?«

»Er ist bei Nacht fort. Ich weiß nicht wann. Aber er kann schon ein paar Stunden darin sein.«

»Alsdann drum!« sagt der Kümmerer. »Drum san meine andern Tscheanken fort.« Es hat heute schon einen kleinen Aufruhr in der Jahnhütte gegeben. Jeder hat etwas vermißt, der Kümmerer sein zweites paar Tscheanken, der Lobgesang seine Kletterschuhe und den Zdarskysack, der Bircher Schnacksele seinen Eishammer und die ganze Schlosserei, das eine Seil ist aus dem Vorraum verschwunden, und Helene Böhmer hat festgestellt, daß ein großes Stück Selchfleisch und Brot und Käse aus der Küche abhanden gekommen sind. Nun haben sie die Erklärung dafür, Haberdietzl hat mit tückischer Schläue alles vorbereitet und seine Ausrüstung zusammengetragen. Und nun ist er in der Wand.

»Und oben schneit es wahrscheinlich?« fragt Marianne voll Todesangst.

»I woaß net«, meint der Kümmerer, »kann scho sein, daß heromd obischneibt.«

Es wird nicht viel gesprochen. Jeder weiß, was er zu tun hat, nach einer halben Stunde schon brechen sie auf. Der Regen rieselt dünn, aber gleichmäßig, von der Wand ist nur der unterste Teil zu sehen, über dem Grünsee braut der Nebel, als koche das Wasser.

»Hat si grod a schiachs Wetter ausg'sucht, a recht a schiachs«, brummt der Kümmerer. Am Fuß der Wand müssen sie keuchend verschnaufen, so rasch ist wohl noch niemand von der Jahnhütte bis zum Einstieg gelangt. »So«, befiehlt der Schnacksele nach kurzer Rast, »Sie, Zangerl, bleiben mit der Bahre hier zurück, wir anderen teilen uns in zwei Seilschaften, Marianne und ich die eine, Lobgesang und der Kümmerer die andere. Und jetzt los.«

»Kümmerer!« sagt Marianne leise, »glaubst du, daß wir ihn finden? Wird ihm was geschehen sein?«

»Naa«, gibt der Kümmerer zurück, »'s wird eam nix g'schegn sein.« Und dann setzt er hinzu, so daß es keiner der anderen hören kann: »I hob nix g'segn.«

Ja, der Kümmerer, der ist doch der Mann, der es den Menschen aus dem Gesicht ablesen kann, welches Ende ihnen bevorsteht. Und als ob er Marianne in ihrer Hoffnung noch ein wenig bestärken wollte, sagt der Kümmerer: »Dera Frau Rotter, dü war die letzte, der i ang'sehn hob, wie's kimmt. Drum hob i aa mitgehn woll'n, damit's net glei selbesmal kimmt, sondern anderswo. Aber er hat mi ja net mög'n, der Herr Rotter.« Davon aber, was er in Rotters eigenem Gesicht gelesen hat, davon sagt der Kümmerer Marianne nichts, es kann ja sein, daß sich auch der Kümmerer einmal irrt.

Der Bergtod steht also Haberdietzl nicht im Gesicht geschrieben, und der Kümmerer bereichert jetzt Mariannes Hoffnung gleich noch in anderer Weise. Er steckt die Nase in die Luft, schnuppert und sagt dann: »Und jetzt glaub i aa, daß 's besser wird.«


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