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Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Die Übrigen

Es war Mitte Juli und Lacenaire hatte vor Hitze und Überarbeitung halbwegs den Verstand verloren.

Vor einem Jahr hatte unser Freund Paul noch eine höchst untergeordnete Stellung in der wissenschaftlichen Welt eingenommen, die eines Rechners, der von der Sternwarte hauptsächlich dazu verwendet wurde, mit Hilfe feststehender Tabellen, sowie des Barometers und Thermometers, aus atmosphärischen Strahlenbrechungen entstehende Abweichungen im Stand der Gestirne festzustellen.

Die Bezahlung war entsprechend gering, die Stellung höchst unbedeutend gewesen. Der Umstand, daß Lacenaire nicht nur eine Rechenmaschine, sondern ein Mathematiker ersten Rangs war, hatte sich bei Gelegenheit einer Sitzung der Längengradekommission – derselben Kommission, für die Le Verrier eine so tiefe Verachtung hegte! – geoffenbart. Auch Flammarion hatte ihn entdeckt und ihm Wohnung in Juvissy angeboten, wo er ungestört durch Carabin, Frisson, van Raalte und Genossen, unbelästigt von Herrn Grognard, dem Hauswirt, hätte leben können. Aber was ist ein Leben ohne Störungen?

»Ich weiß, daß diese Gesellen eine Plage sind,« sagte Lacenaire, »aber ich arbeite am besten, wenn ich gestört werde, Störungen scheinen nämlich meine Gehirntätigkeit anzuregen. Ich bin so daran gewöhnt, jeden Montag den alten Grognard die Treppe heraufkeuchen und an meine Türe poltern zu hören, daß ich ihn gar nicht entbehren könnte; er gehört jetzt in mein System, ist sozusagen einer von meinen Monden. Carabin ist auch einer, nur wäre es mir lieb, wenn er nicht so auf meinen Regenschirm versessen wäre, aber für den hat er nun einmal eine Leidenschaft. Und wie wunderlich es wäre, nicht mehr denken zu können, daß Frisson in der Stube unter mir den Keuchhusten oder eine Blinddarmentzündung hat! Und dann ist man wirklich sein eigener Herr da oben im Speicher unterm Dach. Das einzige, was ich an meinem Leben hier auszusetzen habe, sind die Katzen. Ich habe alles Mögliche versucht, um sie zum Schweigen zu bringen. De Joy, der ein großer Sportsmann zu sein scheint, hat mir eine Falle auf dem Dach gebaut, aber als ich sie am andern Morgen untersuchte, war nichts drin als eine Taube, die einer Frau Lambert im Nebenhaus gehörte. Sie sah mich die Taube in der Hand halten und ich mußte fünf Franken Schadenersatz zahlen.

»Carabin fing nun auf der Straße einen Hund ein, und den banden wir mit einem langen Strick an eine Dachsparre, aber der heulte schlimmer als alle Katzen miteinander und biß nach mir, wenn ich ihm Futter brachte. Der Hausmeister und sein Sohn hatten drei Stunden zu tun, um ihn wieder herunterzukriegen, und ich verlor die ganze Arbeitszeit eines Morgens. Darum sind mir Katzen ein Greuel.«

An einem sonnigen Morgen, es war der 28. Juli und ein Dienstag, klopfte es an Lacenaires Türe und unmittelbar darauf stand ein stattlicher schwarzgekleideter Herr vor ihm, der kein andrer war als Le Bon, Sangarelles Diener.

»Ich komme, mein Herr, um Sie von dem Tod meines viel beweinten Herrn in Kenntnis zu setzen; gestern nachmittag um fünf Uhr ist er, zum großen Schmerz aller, die ihn kannten, verschieden. Doch Herr Lacenaire haben das ohne Zweifel schon aus den Zeitungen erfahren, der Figaro hat ihm ja anderthalb Spalten gewidmet.«

Le Bon sprach's mit dem Stolz eines Mannes, der den Wert von anderthalb Spalten im Figaro zu schätzen weiß.

»Ihr Gesicht ist mir bekannt,« sagte Lacenaire, den schwarzen Herrn anstarrend, »aber ich erinnere mich nicht …«

»Ich bin Herrn Sangarelles Diener und komme, um Sie an das Versprechen zu mahnen, das Sie meinem Herrn in Betreff des Herrn Karl Frisson zufallenden Legats gegeben haben.«

»Ach ja!« rief Lacenaire. »Ich entsinne mich!«

Eine Weile saß er in Nachdenken versunken, um sich seines Versprechens deutlicher zu erinnern, und nach und nach tauchte die Sache, beginnend mit dem Muster des Schlafrocks, den Sangarelle getragen, und abschließend mit den drei Streichhölzchen, deren Verbleib ihm damals zu schaffen gemacht hatte, in seiner Seele wieder auf.

»Ich soll Frisson nach Amiens bringen, um ihn von seinen Kameraden zu trennen,« sagte Lacenaire tastend vor sich hin. »Ich erinnere mich, das versprochen zu haben … ich hatte damals keine Idee, daß ich so beschäftigt sein würde …«

»Herr Lacenaire haben es aber versprochen!«

»Ich weiß … wie zum Henker kam ich nur dazu? Aber ein Versprechen ist ein Versprechen … Himmel und Erde! Und all diese Arbeit für den Nautischen Almanach auf dem Hals! Wie viel beträgt denn das Legat?«

»Zwanzigtausend Franken, mein Herr.«

»Und wann wird es ausbezahlt?«

»Auf Verlangen von Herrn Flambard, dem Notar meines verstorbenen Herrn. In diesem Umschlag sind fünfhundert Franken in Papier für die dringendsten Ausgaben. Den Rest mit neunzehntausendfünfhundert Franken wird Herrn Flambards Kollege in Amiens bezahlen.«

Lacenaire überlegte eine Weile.

»Acht Tage früher oder später,« sagte er, »das ist für Frisson ganz gleichgültig, für mich aber sehr wichtig. Ich habe eine Arbeit angefangen, die auf einen bestimmten Termin fertig sein muß. Heute über acht Tage werde ich Frisson in eine Droschke setzen, mit ihm nach dem Nordbahnhof fahren und ihn nach Amiens befördern. Ich weiß ja gewiß, daß er mit dem nächsten Zug nach Paris zurückfahren wird, denn außerhalb von Paris kann er nicht leben, aber das geht mich nichts an. Ich habe nun einmal versprochen, ihn nach Amiens zu bringen, ihm zuzureden, daß er in der Provinz bleibe und einen Laden, einen Tabakladen, eröffne, und das will ich heute über acht Tage besorgen.«

Er machte sich bei diesen Worten einen Knoten ins Taschentuch, ein Kunstgriff, den er de Joy abgesehen hatte. Le Bon zog sich mit dem Bewußtsein erfüllter Pflicht zurück, Lacenaire aber steckte den Briefumschlag mit den fünfhundert Franken in die Tasche und ging wieder an seine Arbeit.

Im Verlauf des Tags sprach er im Vorbeigehen bei Frisson vor, den er im Bett liegend und rauchend antraf. Das Fenster stand offen und ein Topf mit Reseden auf dem Fenstersims erfüllte die Luft mit Wohlgeruch. Auf dem Nachttisch lag ein Stück Papier, das Lacenaire sofort als ein Rezept erkannte.

»Was ist denn das?« fragte er.

»Das? Ach, ein Rezept von Doktor Guiot.«

»Du warst bei ihm?«

»Nein, er war hier. Hans hat ihn geholt, weil ich einen Anfall von Atemnot hatte.«

»Hm … was hat er gemeint?«

»Ich soll nicht mehr rauchen. Zerreiße den Wisch! Ich bin ganz wohl, nie so wohl gewesen im Leben.«

»Du siehst auch ganz wohl aus.«

Am Tag darauf erschien Carabin bei Lacenaire.

»Ich bin in großer Sorge um Frisson,« sagte er, sich auf dem Bett niederlassend. »Guiot hat ihm gar nichts genützt. Diese Spitalärzte taugen überhaupt nichts. Er behauptet, daß Überarbeitung und die Aufregung über das Mißgeschick des ›Bourgeois‹ seiner Milz und den Nerven furchtbar zugesetzt hätten. Simpelhaft! Was hat das Schicksal eines Theaterstücks mit der Milz zu tun?«

»Ach, Frisson ist ja ganz wohl,« bemerkte Lacenaire.

»Entschuldigen Sie, nichts weniger als wohl ist er. Heute früh schrieb er das Motto oder vielmehr die Inschrift, die auf seinem Grab stehen soll, auf … widersprechen Sie mir nicht. Wenn sich's um Frisson handelt, habe ich die ahnungsvolle Seele einer Mutter. Auf dem Vaugirardfriedhof will er begraben sein.«

»Ach, du liebe Zeit!« rief Lacenaire, ungeduldig, wieder an seine Arbeit zu kommen. »Als ob er nicht immer an der oder jener Krankheit stürbe! Seit den drei Jahren, die ich ihn kenne, stirbt er immer, folglich ist sein Zustand ganz normal.«

»›Wenn ich nur mehr Selbstvertrauen gehabt hätte,‹ sagte er heute früh,« fuhr Carabin fort, »›dann wäre der »Bourgeois« nicht zu Grabe getragen worden. Ich hätte dann das Theater nicht mit diesen Tröpfen angefüllt, die das Stück zu Grunde gerichtet haben, statt ihm durchzuhelfen.‹«

»Darin hat er recht,« erwiderte Lacenaire nachdenklich. »Jawohl, wenn Frisson an sich und sein Werk geglaubt hätte, würde er gesiegt haben. Daraus kann sich jeder eine Lehre ziehen!«

»Ihnen hat er Herrn Prud'homme bestimmt in seinem Testament,« bemerkte Carabin.

»Frisson hat ein Testament gemacht?« rief Lacenaire lachend.

»Ja, er hat eins gemacht,« sagte Carabin im Hinausgehen.

*

Drei Tage später, als der Mathematiker ganz versunken in seine Rechnungen dasaß, hörte er auf der Treppe ein Geräusch, als ob ein Elefant heraufstürzte. Die Tür flog auf, und Carabin stolperte händeringend herein.

»Ach, mein Gott, es ist vorüber! Ach, mein Gott, alles ist vorüber! Unser teurer Frisson … ach, mein Gott … tot … tot … tot …«

»Tot!« rief Lacenaire, so ungestüm aufspringend, daß der Tisch samt Tintenfaß und Berechnungen umfiel.

»Tot,« wiederholte Carabin mit Grabesstimme. »Vor ein paar Minuten fand ich ihn gerade so, wie ich ihn beim Ausgehen verlassen hatte, das heißt im Bett liegend, mit den Füßen auf der Ecke des anstoßenden Kamingesimses. Ach, mein Gott … eine Zigarette zwischen den Zähnen, eine Nummer der ›Gaudriole‹ in der Hand. Ich war ausgegangen, um Material zu einem Salat einzukaufen, und als ich heimkam, fand ich ihn so. Da warf ich meinen Salat auf den Tisch und lief zum nächsten besten Arzt. Als er kam, sagte er, das Leben müsse schon seit einer halben Stunde erloschen sein. ›Der seltsamste Fall, den ich je gesehen habe,‹ sagte er, ›ein Mensch, der mit den Füßen auf dem Kaminsims und einer Zigarette zwischen den Zähnen stirbt. Ich habe noch nie gesehen, daß jemand so nonchalant gestorben wäre … höchst seltsam.‹

»Um einer etwaigen gerichtlichen Untersuchung vorzubeugen, erzählte ich ihm dann, was für ein seltsamer Kauz unser lieber Frisson gewesen war. ›Wer gelebt hat wie kein andrer,‹ sagte ich, ›von dem kann man nicht erwarten, daß er stirbt wie alle Welt. Er war vor allem Künstler, und was ist Kunst ohne Originalität?‹«

Lacenaire hatte sich bemüht, seine Gefühle zu beherrschen, trotzdem rollte ihm heimlich eine Träne über die Wangen. Er zog sein Taschentuch heraus, um sich die Augen zu wischen, dabei fiel ihm der Knoten daran auf.

»O Himmel!« rief er.

»Was ist's?«

»Sangarelles Auftrag!«

Carabin zog die Augenbrauen in die Höhe, und dann erzählte ihm Lacenaire die Geschichte.

»Zwanzigtausend Franken!« rief Carabin. »Unbeschränktes Eigentum von Frisson?«

»Ja.«

»Und ich bin Frissons Universalerbe! ›Alles, was ich besitze,‹ heißt es in seinem Testament, ›mit Ausnahme meines Papageis, hinterlasse ich meinem Freund Hans Carabin zu unbeschränkter Verfügung.‹ Das Testament liegt bei Löwenfeld. – Mein Gott! Zwanzigtausend Franken!«

*

Wie man sieht, kam Carabin gut weg am Ende; die Bösen kommen ja meist gut weg.

Als ich im vorigen Jahr am Allerseelentage in Paris war, traf ich Carabin. Er fuhr gerade in einer Droschke nach dem Vaugirardfriedhof und hatte einen großen Kranz neben sich liegen. Als er mich sah, ließ er den Wagen halten und ich stieg ein, um im Weiterfahren ein wenig mit ihm zu plaudern. Carabin machte einen wohlhabenden Eindruck, er hatte nicht nur Sangarelles zwanzigtausend Franken und etliche fünfzehnhundert, die von Frissons elterlichem Vermögen übrig waren, sondern auch das Eigentumsrecht an dem »Bourgeois« geerbt, der zur Zeit auf drei Provinztheatern mit Erfolg gespielt wurde und für den Herbst in Paris angekündigt war.

»Ich will diesen Kranz auf unsres lieben Frisson Grab legen,« sagte Carabin. »Es ist zwar unphilosophisch, ich weiß es, und mein Verstand lehnt sich dagegen auf, aber, du liebe Zeit, man hat eben auch ein Herz.«

Und er muß in der Tat eins haben, denn diesen Kranz auf des armen Frisson bescheidenes Grab zu legen, dazu trieb ihn nicht der Eigennutz. Diese Gefühlsäußerung trug ihm nicht nur nichts ein, sie kostete ihn sogar mindestens zehn Franken, ohne die Droschke zu rechnen.

Man hüte sich also, Menschen allzu hastig zu verurteilen, sonst wird man eines Tags so beschämt sein, wie ich es war, als ich Carabin sein kahles, in der Wintersonne leuchtendes Haupt entblößen sah, um den Kranz von Lilien auf einen weißen Grabstein niederzulegen, der die merkwürdige Inschrift trug:

»Hier bin ich und hier bleibe ich.«

 

 

Ende.

 


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