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Zweites Kapitel.
Carabin

Herrn Frissons Wohnung, Numero … der Rollinstraße, dritter Stock, bestand aus einem sehr großen Zimmer und einem Alkoven.

Frisson, ein magerer, nervöser, vertrockneter Jüngling von zwanzig oder zweiundzwanzig Jahren, bewohnte das große Zimmer, Carabin, ein untersetzter, fettleibiger, hitzköpfiger Mann zwischen fünfzig und sechzig den Alkoven.

Die beiden hingen weder durch Bande des Bluts, noch angeheiratete Verwandtschaft zusammen; keiner von beiden hatte ein sicheres Einkommen und ebensowenig konnte von bestimmter Geschmacksrichtung die Rede sein, wenn man nicht die Vorliebe für Kaporaltabak und unregelmäßige Lebensweise so bezeichnen will.

Carabin in einer Wagschale würde drei Frissons in der andern in die Höhe geschnellt haben; was Carabin an Lebensmitteln vertilgte, hätte, sagen wir, vier und einen halben Frisson ernähren können, aber was Frisson an Arbeit und Umtriebigkeit leistete, würde, mit dem Dynamometer gemessen, gewiß ein ganzes Gros von Carabins ausgewogen haben.

Denn Carabin verrichtete überhaupt keine Arbeit, ausgenommen die seiner Kinnladen und seines Gehirns. Carabin lebte tatsächlich von Frisson. Er war ein Schmarotzer, der die ganze Theorie über Schmarotzer zu Schanden machte, denn welcher Gelehrte ist je darauf gekommen, daß ein fetter Pudel von einer Fliege leben könnte?

Carabin trug eine bekümmerte Miene durchs Leben, die an Quartaltagen noch düsterer war als sonst, selbst wenn der Hauszins, dank wunderbarer Leistungen Frissons, sei es im Geldverdienen oder Borgen, bezahlt werden konnte. Es gebrach ihm meist an kleinen unerreichbaren Annehmlichkeiten, und in Bezug auf Nahrung war er so voll von Gelüsten, wie eine Frau in andern Umständen. Überdem hatte er auch Kummer.

Frisson hatte eines Tages für irgend eine Handlangerarbeit bei einem eben erschienenen medizinischen Werk Bezahlung erhalten und war, das Herz voll Freude, die Taschen voll Geld, mit einem Papagei in einem Käfig um dreißig Franken nach Hause gekommen.

Carabins Verzweiflung über diese Narrheit war ein Schauspiel. – Jetzt hatten sie einen Schnabel mehr zu füttern.

»Kannst du einen Papagei ins Leihhaus tragen? Kann man einen Papagei versetzen?« stöhnte er.

Auf diese Möglichkeit hin pflegte Carabin nämlich den Wert der Dinge zu prüfen. Carabin war, wie Frisson, Student der Medizin. Er war es schon seit vierzig Jahren, und Lacenaire, der einen Hang zur Mathematik hatte, versicherte, daß Carabin bei gleichbleibendem Tempo des Studiengangs in irgend einem Jahr des dreißigsten Jahrhunderts den Doktor machen werde.

»Was für die Menschheit sehr günstig ist,« bemerkte Lacenaire, »denn bis dahin wird niemand mehr übrig sein, den er umbringen könnte.«

Carabin schwieg dazu, denn er wußte es besser. Er wußte, daß er seinen Doktorhut am selben Tag erlangen würde wie Frisson, das heißt niemals, das hinderte ihn jedoch nicht an scharfsinnigen Mordversuchen.

Er hatte Frisson, er hatte den Hausmeister beinahe vergiftet: er hatte schon so viele Leute nahezu vergiftet, daß er bereits einen schlechten Ruf als Arzt genoß und niemand von ihm behandelt sein wollte, auch nicht unentgeltlich, niemand bis auf Frisson, der ein Opfer der Hypochondrie war und seine Zunge, sobald er sie nicht zum Schwatzen oder Lachen nötig hatte, im Spiegel besah.

Da Carabin also nur diesen einen Patienten hatte, bei dem er in Anbetracht des Umstands, daß Frisson für seinen Lebensunterhalt sorgte, die ärztliche Kunst nur schüchtern und mit Vorsicht anwenden konnte, so verwendete er seinen Scharfsinn auf hunderterlei verschiedene Dinge, und die verzehrende Tätigkeit seines nutzlosen Gehirns wurde nach jeder Richtung und fast gegen alles angewendet. Sie legte die bisherige Wissenschaft der Mechanik in Asche und aus der Asche stieg das Perpetuum mobile auf, dessen Herstellung fünfzehn Franken kostete, das aber nicht ging und nicht einmal versetzt werden konnte.

Dieser Feuergeist versengte den Ruf eines Lagrange und eines Laplace, zerstörte ihre Folgerungen über die Unzerstörbarkeit des Sonnensystems – zu Carabins Genugtuung.

Er zerstörte überhaupt jeglichen Ruhm und zerbröckelte jedes große Werk. Denn Carabin war von tiefer Verachtung beseelt für alles, was Arbeit und Arbeiter hieß, mit einziger Ausnahme der Person und der Werke des krampfhaft arbeitsamen Frisson.

Ihr Verhältnis hatte sich auf folgende Weise angesponnen. Vor zwei Jahren hatte Herr Hans Carabin das schon erwähnte große Zimmer samt dem Alkoven bewohnt. Er hatte damals einsam und armselig gelebt und unpassende Schwänke geschrieben für einen Verleger, der, wie Mallassis, in Paris wohnte, seine Sachen aber in Belgien herausgab. Je derber die Schwänke, desto größer die Einnahme! Dieses Kunstgesetz war für die Hervorbringung maßgebend gewesen, und Carabin hatte in jenen Tagen hauptsächlich unter dem Umstand gelitten, daß auch die Gemeinheit ihre Grenzen hat.

Eines Morgens war der unglückliche Frisson, der am Tag vorher im Examen durchgefallen war, in einer wüsten Nacht all sein Geld verpraßt hatte und, weil er den Mietzins nicht bezahlen konnte, aus seiner Wohnung ausgewiesen worden war, bei Carabin erschienen und hatte um Obdach für ein paar Tage gebeten.

»Ich habe eine Tante, lieber Hans,« hatte Frisson gesagt, indem er auf einen Stuhl sank und den Kopf zwischen den Händen hielt, als ob er ihn vor dem Zerplatzen behüten müßte, »die ist sehr reich. Wohnt in Passy und hat eine bescheidene Summe, die mir durch Erbschaft zugefallen ist, in Verwahrung. Ihr Mann hat ein Schnittwarengeschäft in der Aboukirstraße, und so oft ich die Ausbezahlung des Pflegschaftgelds verlange, machen sie den Versuch, mir einen Teil davon in Strumpfwaren zu Fabrikpreisen anzuhängen. Am Sonntag aber … ach Gott, ach Gott! Mein Kopf! Er ist wie ein Kürbis, mit Schmerzempfindung! … da vergessen sie ihre Bude und speisen im Café, und zwar immer im nämlichen. Dabei unterhalten sie sich, daß die Kellner es hören sollen, über die vornehme Welt, rechnen aber indessen die ganze Zeit den Preis von Essen und Trinken im Kopf aus. Wenn ich nun beim Nachtisch erscheine, gerade so angezogen wie jetzt vor sie hin trete und mein Geld verlange – das Entsetzen kannst du dir vorstellen!

»Die Hand in den Hosentaschen, mit einem krampfhaften Lächeln, als ob ihn einer heimlich kitzelte, lehnt sich der Papa Bordclais im Stuhl zurück und Mama Bordelais schrumpft ein, wie eine Auster, die man in Vitriol wirft.

»›Ach, Karl!‹ rufen sie.

»›Mein Vermögen,‹ ist meine einzige Antwort.

»Ich ziehe mir einen Stuhl an ihren Tisch. Einer von den Kellnern kennt mich; er war einmal acht Tage im Beaujonspital wegen Gelenkrheumatismus. Ich klopfe ihm auf die Schulter und erkundige mich nach seinen Gelenken, dabei wird Papa Bordelais dunkelrot und dreht das Geld in seiner Hosentasche hin und her, Mama Bordelais aber beugt sich zu ihm hinüber und flüstert ihm zu: ›Gib ihm Geld, mein Gott, nur daß er geht.‹ Dann wird mir unterm Tischtuch ein Hundertfrankenschein zugesteckt, und ich verschwinde.«

»Dreitausend Franken haben sie von mir in Händen, und lieber als mir das Ganze ausbezahlen, halten sie meinen alten Rock, meinen alten Hut und meine Unverschämtheiten aus. Um dreitausend Franken würden sie sich den Satan gefallen lassen, aber ich werde mich rächen, ich will mein Mütchen kühlen an ihnen, ich schreibe ein Stück, ich bringe sie aufs Theater … ach mein Kopf! Lieber Hans, mach mir in dem Alkoven ein Bett zurecht und laß mich schlafen … am nächsten Sonntag wollen wir dann in das Café gehen, du und ich. Du kannst außen warten, während ich ihnen das Messer an die Kehle setze, und die Beute teilen wir … ach, mein Kopf! O Gott, o Gott …«

So geschah's, daß Frisson acht Tage lang in Carabins Alkoven schlief, während Carabin seinen letzten Schwank schrieb. Nach Verlauf einer Woche trat nämlich ein jäher Wandel der Verhältnisse ein; der Possenschreiber erklärte sich nämlich für arbeitsunfähig und zog sich in den Alkoven zurück, während Frisson arglos die Last der Geschäfte auf seine schmächtigen Schultern nahm und das große Zimmer bewohnte.

»Ich brauche nichts, tatsächlich nichts,« hatte Carabin seufzend erklärt, »als ein wenig Frieden, ein wenig Zeit, ein wenig Ruhe. Zwanzig Pläne trage ich in mir herum, wovon jeder, wenn ich ihn ausarbeite, uns ein Vermögen einbringt, und ich will sie reifen lassen. Du sagst, die Schriftstellerei mache dir Vergnügen … nun, du sollst das Vergnügen haben.«

So geschah's denn auch. Carabin hatte in einem gewissen Kreis ausgedehnte Bekanntschaften und wußte seinem Sklaven Fronarbeit in Menge zu verschaffen. Das Korrekturenlesen von skrofulösen Romanen und medizinischen Schundbüchern, die Anfertigung billiger Übersetzungen von Übersetzungen, ein geniales Geschäft, das darin besteht, das schlechte Französisch eines andern in noch schlechteres zu verwandeln. Alles und jedes, was sich am Zaun der Literatur und Journalistik herumtreibt, las Carabin wie ein Lumpensammler auf, schleppte es nach Hause und schüttete seinen Sack vor Frisson aus, diesem Frisson, der, von Lebenslust erfüllt, neurasthenisch, hypochondrisch, schwärmerisch, gesegnet und belastet mit einer Phantasie, die Dirnen in Göttinnen, Berge in Maulwurfshügel und Maulwurfshügel in Berge verwandelt, mit der Tatkraft von dreien an die Arbeit ging.

»Wie stünde es jetzt um dich, wenn ich nicht gewesen wäre?« konnte Carabin zuweilen fragen, wenn er seine Pfeife rauchend und seinen Gedanken nachhängend auf dem Bett im Alkoven lag.

Dann warf Frisson die Feder weg, steckte sich eine Zigarette an und rief, lächelnd wie ein sehr häßlicher, hohläugiger Heiliger: »Ach, mein lieber Hans!« Und dann entspann sich zwischen den vom Schicksal zusammengeworfenen, durch gegenseitige Anziehungskraft aneinander geschmiedeten Träumern ein Zwiegespräch.

»Hans …«

»Ja?«

»Was wirst du zuerst tun, wenn wir reich sind?«

»Nichts! Was bedeutet Reichtum dem Mann, der seine Weltanschauung durch Armut gewonnen, der sein Leben lang gearbeitet hat und nichts braucht, nichts … als Ruhe. Ich werde ausruhen, das heißt, mein Körper wird ruhen, denn mein Geist, ach Gott, der findet keine Ruhe, solange drei Probleme ungelöst sind. Die Quadratur des Kreises, das Perpetuum mobile und die Verbesserung der Menschheit.«

»Ja, du bist eben ein Philosoph! Ich aber, ich habe keinen Sinn für Probleme. Mir sind Blumen lieber, schöne Weiber, Musik, grüner Tee, Zigaretten … jawohl, und … Ruhm!«

Ein tiefer Seufzer aus dem Alkoven.

»Karl!«

»Ja?«

»Wie lang ist's jetzt her, daß du dein Stück beim ›Gelben Theater‹ eingereicht hast?«

»O Himmel! Das Stück, das hatte ich ganz vergessen … gestern vor vier Wochen habe ich's eingereicht und heute nacht hat mir von Gold geträumt. Wenn sie's annähmen, wäre unser Glück gemacht, und seltsam ist's, daß du heute davon sprichst und ich von Gold geträumt habe. Das erste, was ich mir kaufen werde, ist eine Angorakatze; ich sah heute eine um fünfzehn Franken. Dir, mein lieber Hans, werde ich einen Überzieher mit Pelzkragen kaufen, und dann gehen wir beide nach Italien. O Himmel, Italien! Nach Italien zu gehen, ist der Traum meines Lebens! So oft ich einen Pifferaro auf der Straße spielen sehe, steht Neapel vor mir, der blaue Golf, die Oliven, in der Ferne der Vesuv und Capri – ach Capri!«

»Karl!«

»Was?«

»Hast du Knoblauch zum Schmorbraten?«

»Du liebe Zeit! Knoblauch! Knoblauch … rein vergessen!«

Ein Stöhnen im Alkoven.

»Ohne Knoblauch können wir den Schmorbraten nicht machen, und ich hatte so darauf gerechnet … aber einerlei, ganz einerlei …«

Und Frisson stürzte die Treppe hinunter, um Knoblauch zu holen, indes Carabin aus dem Alkoven watschelte, um die Pfanne bereit zu stellen.


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