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Siebzehntes Kapitel.
Frissons letzte Gesellschaft

Es war erster Juni und ein Sonntag. Der »Bourgeois« sollte morgen aufgeführt werden und Frisson hatte eine Gesellschaft geladen. Fünfzehn männliche Wesen, jedes mit einer Zigarre im Mund, saßen in der Stube herum, einige auf dem Bett, andre auf dem Tisch, einige auf Stühlen, andre auf dem Fußboden. Carabin war in Hemdärmeln, denn er hatte Weinflaschen zu entkorken. Herr Prud'homme, der sich irgendwie beleidigt glaubte, hockte trotzig in seinem Käfig, dem gegenüber jetzt ein zweiter hing mit einem »Unzertrennlichen«. Der andre war nämlich gestern mit Tod abgegangen und Frisson war auf die geistvolle Idee gekommen, ein Stück Spiegelglas am Ende des Stäbchens zu befestigen. Der Beraubte hatte sich dicht zu seinem Spiegelbild hingesetzt und schien ganz befriedigt zu sein.

»Eine Parabel von der Liebe,« bemerkte van Raalte, der ausnahmsweise nüchtern und gesprächig war. »Es erinnert mich an eine meiner ›Lehrfabeln von der Ratte, der Katze und dem Schwan‹. Soll ich sie euch hersagen? Es dauert nicht länger als zwanzig Minuten.«

Niemand beachtete seinen Vorschlag, denn in diesem Augenblick war de Joy, geisterhaft bleich und schmerzlich lächelnd, unter der Tür erschienen. Er starrte die Gesellschaft unsicher an, dann hatte er offenbar den Eindruck, so vielem Licht und Geräusch nicht gewachsen zu sein, denn er machte kehrt und wäre entflohen, wenn Frisson ihn nicht festgehalten und mit Hilfe von einigen andern gewaltsam in die Stube gezerrt hätte.

»Laßt mich los!« schrie de Joy, als sie ihn auf einen Stuhl niederdrückten. »Ich bin im Sprung! Bringt mich die Treppe hinunter und auf die Straße, dort laßt mich laufen. Wenn ich nicht laufe, muß ich sterben!«

»Haltet ihm die Beine!« rief Frisson. »Sonst schlägt er alles kurz und klein! Geben Sie ihm rasch einen Schnaps, van Raalte! Großer Gott! Nun haben wir keinen Absinth im Hause!«

»Bringt mich irgendwo ins Dunkle!« flehte dieser angenehme Festgenosse zwischen zwei Schlücken Schnaps. »Schickt eure Freunde weg! Mir ist jetzt wohler, der Schnaps hat den Aufenthalt gesprung… will sagen, den Sprung auf … aufgehalten. Himmel! Nun schwelle ich an wie ein Luftballon!«

»Bringt ihn in den Alkoven,« schlug Carabin vor. »Dort ist's dunkel und er kann auf mein Bett liegen.«

Man legte ihn auf Carabins Bett, machte die Tür zu und die Unterhaltung nahm ihren Fortgang. Philosophie war an der Tagesordnung. Jeder von den Anwesenden hatte einmal Medizin zu studieren angefangen, bis auf de Joy, der aber im Alkoven lag und nicht mitzählte, und jeder, der's einmal mit der Medizin probiert, trägt einen Anflug von Philosophie mit durchs Leben.

Ein Beispiel dafür ist Panckoucke, ehedem Hörer im Val-de-Grâce-Spital, jetzt Besitzer eines kleinen Ladens. Der Laden ist Panckouckes Eigentum und Panckoucke ist Eigentum seiner Frau, die ihn seit Jahren das Leben der Verdammten führen läßt, und doch hat er das Lachen nicht verlernt – denn er hat einmal Medizin studiert.

»Ich fühle mich wohler als je,« erklärte Frisson, indem er sich unruhig um seine Gäste bemühte, »und diese Gesellschaft ist entschieden gelungen, denn man hört seine eigene Stimme nicht mehr. Es gibt drei Abstufungen von Gesellschaften – die eine, die man vom Vorplatz aus hört, die andre, die man auf der Treppe hört, und die dritte, die man auf der Straße hört. Wenn der ›Bourgeois‹ morgen einschlägt, werde ich eine Gesellschaft geben, die man auf dem Boulevard Michel hören soll; Posaunen und Sekt müssen die Grundlage dafür bilden. O Gott! Dieses ›Morgen‹, was enthält es nicht alles? Bankrott und Verzweiflung oder barbarische Üppigkeit – diesen Ausdruck habe ich von Joyeuse; er gefällt mir und ich werde barbarisch üppig werden oder üpbarisch barpig, wie de Joy wohl sagen würde! Trinkt, Kinder, und raucht, obwohl es sein mag, daß ihr mein Blut trinkt und mein Gehirn raucht, denn alles, was ihr vor euch habt, ist auf Borg gekauft, und wenn morgen gestern sein wird und ›gestern‹ ein Durchfall war, so werden die Gläubiger das Haus stürmen. Bah! Eine Drehorgel und ein Äffchen bleiben einem immer noch übrig, und die Nächte sind so warm, daß man im Freien schlafen kann. Geht's auch damit schief, so hat man wenigstens noch seinen eigenen Witz. Lacenaire hat einen gekannt, der drei Jahre lang von seinem Witz gelebt, sich einen Wagen gehalten und sich an Salm zu Tod gegessen hat.«

Wie durch seine Namensnennung herbeschworen, kam Lacenaire in diesem Augenblick mit einem Bündel Schriftlichkeiten unterm Arm zur Tür herein. Er setzte sich auf Schneiderart dicht neben Frisson auf den Boden und wickelte sich eine Zigarette.

»Komme geradeswegs mit einem scheußlichen Kopfweh von Juvissy,« berichtete er. »Flammarion hat mir einen gräßlichen Haufen Arbeit gegeben, der mich acht Tage nicht zu Atem kommen lassen wird. Guter Gott! Wie elend du aussiehst, Frisson!«

»Das macht nur der ›Bourgeois‹! Was hat dir denn Flammarion aufgeladen?«

»Berechnungen der Parallaxe eines Sterns im Kohlensack.«

»Was in aller Welt ist denn der Kohlensack?«

»Ein Loch in der Milchstraße. Gib mir ein Streichholz.«

»Aber jedenfalls kommst du doch morgen abend?«

»Wohin?«

»Wohin? Großer Gott! In die Aufführung des ›Bourgeois‹!«

»Des ›Bourgeois‹?«

»Mein Stück, du alter Nachtwandler.«

»Ach richtig! Aber ich entsinne mich genau, daß du mir gesagt hast, es werde erst in vier Wochen aufgeführt?«

»Allerdings, das habe ich aber vor vier Wochen gesagt.«

»Zugegeben. Ich hatte es vergessen. Morgen abend sagst du? Ich werde kommen, das heißt, es ist rein unmöglich. Jede Sekunde ist von höchster Wichtigkeit. Rambaut, der königlich irische Astronom, bearbeitet das Problem auch und wir müssen mit unsern Ergebnissen zuerst hervortreten.«

»Aber bedenke doch, lieber Paul, was mein Stück mir bedeutet. Ich rechne auf Unterstützung von all meinen Freunden. De Joy wird nicht im stande sein, hinzugehen, fürchte ich, er hat's wieder einmal mit dem Laufen und kann weder eine Menschenmenge, noch Geräusch aushalten. Van Raalte muß zur Hochzeit einer Schwester, und das kleine Scheusal von Champardy führt, wie man mir sagt, eine Störung der Aufführung im Schild. Ich brauche also eine kräftige Claque, davon hängt Sieg oder Untergang für mich ab.«

»Aber ich bin der ungeschickteste Mensch von der Welt, wo es gilt, Lärm zu machen. Ich hasse jeden Radau, ich bekomme Kopfweh davon.«

»Du kannst aber doch mit den Füßen stampfen und Bravo schreien!«

»Allerdings, das könnte ich.«

»Du kannst auch deinen Regenschirm mitbringen. Jedermann bringt einen Stock oder Schirm mit. An ›donnerndem Applaus‹ wird's überhaupt nicht fehlen, denn ich habe die geräuschvollsten Leute aus dem ganzen Stadtviertel zusammengetrommelt. Auch zwei Kritiker habe ich mir eingefangen, und van Raalte wird in der ›Gaudriole‹ einen zündenden Artikel bringen, gewissermaßen eine Parabel über die Unsittlichkeit, worin er beweist, daß der ›Bourgeois‹ das unsittlichste Stück des Jahrhunderts ist. Er sieht die Aufführung zwar nicht, aber darauf kommt es ja nicht an. Von siebzehn Mädels weiß ich, daß sie kommen und obendrein ihre Plätze bezahlen. Von dir weiß ich, daß du aus Freundschaft kommst, und du wirst dich auch viel besser unterhalten, als wenn du mit dem Kopf in deinem Kohlensack daheim hockst.«

»Ich komme, ich komme,« versetzte Lacenaire in etwas gequältem Ton. »Es wird mich zwar greulich zurückbringen, aber ich komme.«

De Joy, dessen Nerven sich mittlerweile beruhigt hatten, streckte den Kopf zur Alkoventüre heraus, und da die Luft von undurchdringlichem Tabaksqualm erfüllt war und niemand auf ihn achtete, schlich er herein und setzte sich neben Lacenaire.

»Mir ist jetzt wieder wohler,« sagte er. »Wickle mir eine Zigarette, lieber Paul.«

»Bei alledem ist's ein großer Schaden für mich,« bemerkte Lacenaire, die Zigarette zurichtend.

»Was?« fragte de Joy.

»Morgen abend wird ja Frissons Stück aufgeführt. Ich habe rasend zu tun, muß aber doch hingehen.«

»Das hatte ich ganz vergessen,« sagte de Joy. »Natürlich müssen wir alle hingehen.«

»Dir würde ich nicht dazu raten,« bemerkte Frisson. »Es könnte dir wieder schlecht werden wie heute abend.«

Wenn Frisson gesagt hätte: »Ja, ich bitte dich, zu kommen,« so würde de Joy sein Kommen zugesagt und zehn gegen eins sein Versprechen vergessen haben. Ihm von etwas abzuraten, war der sicherste Weg, ihn dazu zu veranlassen. Ohne ein Wort zu erwidern, machte er einen Knoten in sein Taschentuch und steckte seine Zigarette an.

»Ich habe seit zwei Tagen nichts von Cäcilie gehört,« flüsterte Frisson dem Mathematiker zu, »und sie bat mich in ihrem letzten Brief, weder zu kommen, noch zu schreiben, ehe ich Nachricht von ihr hätte.«

»Himmel!« rief Lacenaire. »Ich vergaß …«

»Was?«

»… daß ich einen Brief von ihr habe, den ich noch nicht abgegeben …«

Damit zog er einen rosenfarbenen Briefumschlag aus der Tasche und starrte mit Entsetzen darauf. Der Brief trug keine Aufschrift, und der unselige Sterngucker, der gestern abend treue Bestellung gelobt hatte, wußte nicht mehr, wem er ihn zu geben habe. Sein jählings angerufenes Gedächtnis versagte den Dienst. War der Brief für Alabaster oder für Frisson bestimmt? Er wollte sich darauf besinnen. Juvissy, Flammarion, der Kohlensack tauchten vor ihm auf, dazwischen Cäcilies Gesicht unter der Laterne in der kleinen Anlage. Sie hatte den Botendienst mit drei Küssen vorausbezahlt.

»Du gibst ihn doch gewiß ab?« hatte sie gesagt, aber an wen, davon hatte der unglückliche Liebesbote keine Ahnung mehr.

Frisson streckte die Hand aus. Er kannte das Briefpapier, das Cäcilie bevorzugte: geschmacklose rosa Umschläge mit gezacktem Rand, die in einer Ecke der Klappe ein goldenes C trugen.

»Halt,« stammelte Lacenaire in heller Verzweiflung. »Es fällt mir eben ein, der Brief könnte auch von einer andern sein …«

»Nur her damit! Ich kenne das Papier und es trägt ja auch ihren Namen.«

»Allerdings …« stieß Lacenaire heraus, dem zu Mut war wie der Ratte in der Falle, und der den Brief nun doch hergab – er konnte ja am Ende doch für Frisson bestimmt sein.

Der Dramatiker öffnete ihn und las:

 

»Mein Geliebter!

Ja, ich werde morgen zu dir kommen. Einen Teil meines Gepäcks habe ich schon in die Wohnung geschickt. Das Geld habe ich richtig erhalten. Alles weitere mündlich.

Cäcilie.

P. S. Ich kann Dir nicht sagen, was ich unter den Aufdringlichkeiten des Papa Bordelais und des kleinen Frisson ausgestanden habe. Ich will aber nicht klagen, denn von morgen ab bin ich unter Deinem Schutz. C.«


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