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Achtes Kapitel.
Cäcilies Wirkung

Schweigend gingen Frisson und Alabaster zwischen Gärten bis zur Avenue de la Fontaine, von der die Montmorencystraße abzweigt.

»Sie ist schön,« brach Frisson plötzlich los.

»Finden Sie?« fragte Peter geistesabwesend, denn er war tief in Gedanken versunken, Gedanken, die sich in die Worte zusammenfassen ließen: »Sie hat mir die Hand gedrückt, sie hat mir die Hand gedrückt.«

»Ob ich das finde?« rief Frisson. »Ob ich das finde! Ach, ihr Amerikaner, ihr Engländer! Über einen Dampfpflug könnt ihr in Extase kommen, ein Rennpferd könnt ihr vergöttern, aber wenn euch das herrlichste Weib der Erde zu Gesicht kommt, heißt's: ›Finden Sie?‹ Es ist nicht Ihre Schuld, Peter, es ist die Schuld Ihrer Sprache, in der ein Liebeslied wie Husten klingt! Es ist die Schuld Ihres Klimas, wo man durch Nebel und Regen von der Liebe nichts sieht als einen Regenschirm und Gummimantel! Meiner Seel – wie komisch! Sehen Sie den Handschuh dort auf dem Pflaster? Wenn ich nicht wüßte, daß Lacenaire auf der Sternwarte sitzt, würde ich schwören, daß es sein Handschuh sei. Sehen Sie nur – rotes Flanellfutter! Irgend ein Bücherwurm oder Philosoph muß ihn verloren haben, nur ein Gelehrter oder ein Altertümler oder ein Dauerleser der Nationalbibliothek trägt Handschuhe mit rotem Flanellfutter: diesen Leuten ist's ja einerlei, wie sie aussehen. Ach, wäre ich doch auch so, wandelte mit dem Kopf unter den Sternen, könnte mein Herz mit dem Hut im Vorsaal aufhängen und an nichts mehr denken als an Jupiters Gewicht oder die Ringe des Saturn – glücklicher Lacenaire!«

Jawohl, glücklicher Lacenaire!

»Es ist sehr schön!« sagte Peter mit einem verträumten Lächeln, innerlich verwundert über die ganz neue Empfindung, die vom Pflaster durch seine Schuhsohlen heraufzusteigen und durch seine Gehwerkzeuge bis an sein Herz zu krabbeln schien.

»Was denn?« fragte Frisson.

»Das Wetter … dieser Abend … Paris.«

»Finden Sie? Ach, mein Gott! Ich wollte, ich wäre tot,« versetzte Frisson düster.

»Weshalb? Ein seltsamer Wunsch an einem so herrlichen Abend. Was mich betrifft, ich möchte ewig leben, wenn die Welt immer sein wollte wie jetzt, das heißt, ich meine, wenn sie immer wie jetzt so voll köstlichen Blumendufts wäre – wo kommt er nur her? Bemerken Sie ihn nicht?«

Frisson schnüffelte. Er merkte nichts davon.

»Ich rieche nichts, höchstens Knoblauch. Ich rieche immer Knoblauch, wenn ich an Carabin denke, und Carabin fiel mir ein, weil ich eben an meine Tante dachte, die der Teufel hole! Ja, tun Sie nur, als ob Sie nicht entsetzt wären, Sie Musterknabe! Ich sag's noch einmal, der Teufel hole sie, ihr Haus, ihre Mägde und meinen Herrn Onkel! Wenn sie mir in Cäcilies Gegenwart den kalten Hackbraten vorsetzt, betrete ich ihr Haus nicht mehr. Ich werde Champardy auf sie hetzen, daß er ihr mein Geld abjagt, ich werde sie in eine unanständige Posse bringen. Hier ist ein Omnibus, steigen wir ein, der fährt bis zur Madeleine.«

»Der Abend ist viel zu schön, um in einem Omnibus zu fahren,« wandte Peter dagegen ein, »und auf dem Verdeck ist's besetzt. Da kommt eine Droschke, die nehmen wir.«

»Wie Sie wollen. Nehmen Sie einen Leichenwagen, einen Mistkarren, eine Droschke, mir ist alles einerlei.«

Die Straßenlaternen blitzten auf. Paris machte Abendtoilette: es schmückte die Dunkelheit mit Funken und Glanz und Lichtströmen. Als sie in die Avenue des Trocadero gelangt waren, erklärte Peter, daß er sehr hungrig sei.

»Speisen wir irgendwo,« sagte er. »So hungrig war ich noch nie im Leben. Wohin gehen wir?«

»Mir ist's vollkommen einerlei, auch bin ich nicht hungrig. Wenn Sie aber das Bedürfnis haben zu essen, so können wir zu Bindon gehen. Er steckt in einem Winkel der Rousseaustraße, nahe bei den Markthallen; man ißt dort billig, bekommt aber keine Katzen.«

»Katzen?«

»Jawohl, Katzen! Das essen Sie hundert Mal, wenn Sie ein Jahr in Paris bleiben. Wirte haben kein Anstandsgefühl, so wenig wie meine Tante. Katzen! Hat man je eine tote Katze in Paris gesehen, wenn nicht im Restaurant? Die Speisekarte im Restaurant ist wie das Verzeichnis der Gäste auf Quat'z'arts Maskenball. Alte Katzen erscheinen als Kaninchen, Ratten als Schnepfen, kleine Kätzchen als Tauben und der müde alte Droschkengaul als Reh. Es ist ein schauerliches Maskenfest. Es gibt nichts Cynischeres als die Grabschriften auf dem Père Lachaise, ausgenommen die Speisekarten auf den Boulevards. Nie stirbt ein alter Bussard im Zoologischen Garten, ohne daß er im Café Wie-Sie-wollen als Fasan wieder auftauchte, kein alter Schurke stirbt im Faubourg Saint-Germain, ohne daß er im Café Père Lachaise zum Heiligen würde. Dem einen setzt man einen Heiligenschein auf, dem andern einen Schwanz an, es fragt sich nur, an welchem Ende man ihn anheftet. Soll ich Ihnen sagen, wie man an solchen Orten Hummer herstellt? Dann werden Sie keinen mehr anrühren, und doch …«

»Nein, nein, ich will's nicht wissen. Sie haben mir jetzt schon den Appetit verdorben und ich möchte lieber nicht in das Restaurant gehen, von dem Sie sprachen. Wollen wir nicht lieber ein Hotel wählen. In der Honoréstraße sind einige recht gute, wir könnten ja Table d'hote essen.«

»O, bei Bindon ist man vollkommen sicher. Die würden sich's nicht getrauen, Katzen auf den Tisch zu bringen, denn es essen zu viele dort, die vergleichende Anatomie studieren. Bindon ist das Lokal der guten Gesellschaft, das heißt der medizinischen guten Gesellschaft, auch Literaten kommen hin und eine Handvoll Maler. Da wären wir!«

Das Lokal war voll, sie fanden aber doch noch ein freies Tischchen in einer Ecke. Frisson bestellte das Essen, während Peter Alabaster durch seine Brillengläser die Weinkarte studierte.

»Ich denke, wir nehmen Sekt,« erklärte er.

»Was! Ich hielt Sie für einen Anti-Alkoholiker?«

»Ich trinke in der Regel keinen Wein, aber heute abend bin ich in der Stimmung dazu – ich mache hier und da eine Ausnahme, an unserm Nationalfest zum Beispiel, an meinem Geburtstag und wenn ich auswärts speise.«

Das Essen war gut und der Sekt vortrefflich. Peter Alabasters Stimmung, die schon vorher eine gehobene gewesen war, stieg wie das Barometer vor einer Dürre, aber die Gefahr einer solchen war durch die Ströme von Sekt ausgeschlossen. Frisson trank wenig und wurde von Gericht zu Gericht trübseliger.

»Wenn ich mich so umsehe,« bemerkte er, »so sehe ich mindestens ein Dutzend Dummköpfe, und doch macht sich jeder von ihnen ein Vermögen …«

»Und Sie werden sich auch eins machen,« versicherte Peter mit Wärme. »Wenn Ihre Tante aufgeführt wird – ich meine das Stück, worin Ihre Tante vorkommt …«

»Ich glaube nicht mehr, daß es je aufgeführt wird, aber sprechen wir nicht davon. Sehen Sie den Herrn da drüben? Ja, das ist so einer, der sein Glück gemacht hat. Es ist Dourladoure. Was ist Dourladoure? Vor zwei Jahren war er noch ein Bauer in der Camargue, heute ist er Dourladoure; vor zwei Jahren war er niemand, heute ist er der Verfasser von ›Großmutter‹. Sie wissen ja, Paris sucht immer Anregung, Aufregung. Paris hält sich eine Anzahl von Leuten, die nach Trüffeln der Phantasie graben, Männer wie Fine-Gueule in Maupassants Geschichte ›Julots Meinung‹. Einige von diesen geistigen Trüffelschnüfflern sind Verleger, und einer von diesen hat, es sind jetzt achtzehn Monate her, Dourladoure in einer Dachstube aufgestöbert und ans Tageslicht gebracht.

»Es war eine gewagte Sache, denn in seinem Buch ist eigentlich nichts darauf berechnet, Paris zu fesseln, es ist im Grunde eine Lebensgeschichte aus dem Bauernhaus, weder unflätig noch roh, sondern einfach süßlich bigott. Ich habe sie gelesen – mir hat sie übel gemacht. Die alte Frau Dourladoure, die keine Strümpfe trug – diese Tatsache ist im Buch verzeichnet –, wird verherrlicht, beweint, vergöttert. Mit acht Jahren hatte Dourladoure einen Schnupfen und die Mutter rieb ihm die Nase mit Talg ein. Als er zehn Jahre alt war, trat das erste herzbewegende Ereignis seines Lebens ein: seine Großmutter kaufte sich ein Hemd. Weiter bin ich nicht gekommen, Großmütter auszuziehen, ist nicht mein Geschmack, aber Paris nahm das Buch auf wie eine Offenbarung. Die Pfaffen griffen es auf, die Frauen folgten, und den Frauen die Männer. Man erzählte sich, alte Pariser Pflastertreter, die nie im Leben Rührung gefühlt hätten, seien in Tränen zerflossen über das erste Hemd von Dourladoures Großmutter. Im Figaro war ein langer Aufsatz über den Genius, der zuerst das Pathos eines Hemdes entdeckt habe. Er war ironisch gemeint und wurde ernsthaft genommen.

»Sehen Sie ihn an! Der Mann ißt nicht ein Ragout, er ißt seine Großmutter – und sehen Sie den Herrn mit grauem Haar an dem Tisch links von ihm? Der ißt nicht ein Filet von Seezunge, sondern ein Filet von Dourladoure. Er ist Kritiker, stammt gleichfalls aus der Camargue und hat während der letzten sechs Monate von Angriffen auf seinen Freund Dourladoure gelebt; er war nämlich einst sein Freund. Ach mein Gott! Was für eine Welt von Narren und Schurken …«

»Trinken Sie noch ein Glas. Der Sekt ist wirklich gut. Und diese Croquetten sind köstlich – essen Sie noch eine! Der Kaffee ist geradezu klassisch … Mein lieber Frisson, glauben Sie mir, diese Welt ist gar nicht so übel. Ich habe ein gutes Stück von ihr gesehen, ja ich bin fast in der ganzen Welt herumgekommen, und sie ist wirklich ganz nett, besonders in Paris. Über Paris geht nichts, ausgenommen natürlich Neuyork und Boston. Habe ich Ihnen je von dem entzückenden Mädchen erzählt, das ich in Boston kennen lernte? Es war in einer Familienpension. Ich mache kein Hehl daraus, daß ich die Frauen bewundere, die anständigen Frauen, alle Frauen eigentlich, und zwar aus tiefster Seele. Sie haben etwas so Reizendes an sich, sind so ganz anders als die Männer; nur auf dem Fahrrad mag ich sie nicht sehen, das gestehe ich ehrlich. Ich finde, daß Maschinennähen sie viel besser kleidet, weiblicher ist, oder vollends eine Wiege schaukeln. Sie kennen doch das schöne Gedicht, wo es am Schluß heißt: ›Die Hand, die eine Wiege beherrscht, schaukelt die Welt,‹ oder vielmehr: ›Die Hand, die eine Wiege schaukelt, beherrscht die Welt.‹ …«

»Aber, mein Gott, Peter, man schaukelt doch die Wiege nicht mit der Hand, sondern mit dem Fuß! So machen's diese gewissenlosen Dichter« – er war selbst einer oder schrieb wenigstens Verse – »alles nur auf den Effekt berechnet! Und das Ding in der Wiege beherrscht das Haus, worin eine steht, nicht die Frau, und außerdem hat man gar keine Wiegen mehr, und die Kinderfrauen, nicht die Mutter, sorgen für das Kind …«

»Mein lieber Frisson, je mehr Frauen ich kennen lerne, desto höher schätze ich sie …«

»So, so! Was mich betrifft, so schätze ich sie um so höher, je weniger ich von ihnen zu sehen bekomme – ausgenommen eine, ein Mädchen, das ich kennen lernte, als ich noch ein Kind, das heißt ehe ich Student war … Reden wir von etwas anderm.«

»Wie hieß sie denn, lieber Frisson?«

»Wir wollen lieber nicht von ihr sprechen.«

»Gut … Kellner, noch eine Flasche Sekt!«

»Haben Sie's darauf abgesehen, mich betrunken zu machen, mein lieber Peter? Sie sind ja ein Sybarit, und ich hielt Sie für einen Mäßigkeitsapostel! Abermals eine zerstörte Illusion.«

»Ich sage Ihnen ganz unverhohlen, lieber Frisson, daß ich weder mäßig, noch ein Apostel bin … nehmen Sie noch ein wenig von der süßen Speise, mir geht nichts über süße Speisen … Gar kein Tugendbold bin ich, ja ich fürchte, daß ich zu meiner Zeit ein rechter Taugenichts gewesen bin! In Yale habe ich einmal beim Poker fünfzig Dollars an einem Abend verspielt, seither aber keine Karte mehr angerührt. Ich habe ein Gelübde getan, nicht mehr zu spielen … es war vor zwei Jahren am 6. Oktober … Trinken Sie doch noch ein Glas! Es war ein sehr kalter Winter damals und wir waren viel auf dem Eis. Beim Schlittschuhlaufen lernte ich ganz reizende Mädchen kennen, ein Fräulein Wilkinson zum Beispiel, deren Vater Zuckerpflanzungen auf Jamaika hatte. Wir fuhren viel miteinander … Gorgonzola, bitte? … was sagte ich doch gerade? Ja, Jamaika … Kellner, zwei Gläser Portwein. Zum Käse trinke ich immer Portwein.«

»Ich rate Ihnen, es bleiben zu lassen, mein lieber Peter. Portwein und Sekt vertragen sich sehr schlecht, der eine oder andre steigt zum Herzen.«

»Ohne Sorge, mein lieber Frisson, ich könnte ein Dutzend Flaschen Portwein trinken. Mein Kopf ist von Eisen. Unglücklicherweise habe ich freilich ein Herz, jawohl, ich habe eins! Ich weiß, daß es albern klingt, von seinem Herzen zu reden, aber ich habe eins und schäme mich nicht einmal daran. Sobald ich Sie sah, hatte ich Sie lieb, Frisson, sobald ich ihn sah, hatte ich Herrn Carabin lieb, sobald ich ihn sah, hatte ich ihn lieb, den Herrn …«

»Lacenaire?«

»Jawohl, Lacenaire. Und sobald ich Cäcilie sah … will sagen Herrn Prud'homme … ich vergesse ihn nicht, wie er auf dem Bett lag …«

»Das war ja van Raalte!«

»Welcher war van Raalte?«

»Der auf dem Bett!«

»Welcher auf dem Bett?«

»Eben van Raalte. Herr Prud'homme saß im Käfig.«

»Einerlei, ich hatte ihn lieb. Kellner, die Rechnung, ein paar Zigaretten und zwei Curaçao.«

»Rauchen Sie nicht, Peter, wenn Sie nicht daran gewöhnt sind.«

»Ach, eine Zigarette! Die kann jeder rauchen.«

»Wie Sie meinen.«

»Köstlich, diese Zigarette. Wollen wir gehen?«

»Ja, es wird gut sein.«

»Wie kalt die Nachtluft ist, aber diese Zigaretten sind köstlich, die halten einen warm. O Cecily … Cecily … Cecily …«

»Donnerwetter, was faseln Sie denn, Peter?«

»Ich verstehe Sie nicht, Frisson, ich verstehe kein Französisch mehr, es ist mir abhanden gekommen, ich kann nur noch Englisch sprechen. Sonderbar … ich bin in Paris und kann nicht Französisch. Was für greuliche Straßen … fahren wir nach Passy! Ich will Cecily sehen, ich muß Cecily sehen. Hören Sie, Frisson, ich muß Cecily sehen.«

»Was plappern Sie denn nur? Ich verstehe kein Englisch. Sprechen Sie doch Französisch! Vor einer halben Stunde noch ging es Ihnen so glatt vom Munde wie einem Einheimischen. Nehmen Sie meinen Arm, sonst fallen Sie ja! Großer Gott, lieber hätte ich meine eigene Großmutter betrunken sehen mögen!«

»Das ist sehr merkwürdig,« erklärte Peter Alabaster, indem er stehenblieb und das Pflaster anlächelte. »Frisson ist betrunken und kann nicht mehr Englisch. In diesem Zustand kann ich ihn unmöglich mitnehmen nach Passy zu Cecily. Cecily! Sie hat mir die Hand zerquetscht, Cecily!«

»Stecken Sie Ihre Brille in die Tasche! Ich sagte es Ihnen ja, nur keinen Portwein! Was soll ich nur mit Ihnen anfangen?«

»Ich liebe alle Menschen. In erster Linie liebe ich einen Engel …«

»He! He! Kutscher! – Da ist ein Wagen, Peter, steigen Sie ein! Steigen Sie ums Himmels willen ein, die Leute gaffen schon.«

»Weg mit der Droschke!« schrie Herr Peter Alabaster. »Ich weigere mich rundweg, vor morgen nach Hause zu gehen!«

Damit nahm er Platz auf dem Straßenpflaster.


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