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Siebentes Kapitel.
Der Botschafter

Frisson war an diesem Dienstag sehr kleinlaut. Er hatte so gut wie Peter Alabaster einen trübseligen Sonntag verlebt und einen noch trübseligeren Montag. Mit der Gewißheit, doch jedenfalls fünfzig Franken herauszuschlagen, hatte er sich am Sonntag in das Café begeben, wo das Ehepaar Bordelais zu speisen pflegte, hatte aber niemand getroffen. Sein Bekannter, ein Kellner, der acht Tage im Beaujonspital gewesen war, hatte ihm gesagt, daß Herr und Frau Bordelais schon seit zwei Sonntagen ausgeblieben seien.

»Sie haben das Lokal gewechselt,« dachte der unglückliche Frisson. »Das würden sie längst getan haben, wenn dieses Café nicht um drei Groschen billiger wäre als andere von gleicher Anständigkeit. Ohne Zweifel ist ihnen eine erleuchtete Idee gekommen – sie bezahlen die drei Groschen aus meinem Vermögen, setzen dem nächsten Kunden drei Groschen mehr auf die Rechnung, geben den Armen drei Groschen weniger und ziehen ihren Dienstboten um drei Groschen Butter in der Woche ab. Das macht neun Groschen die Woche, und dafür essen sie in einem besseren Café – das ist eine Vereinigung von kaufmännischer und mathematischer Progression. Ach, Lacenaire, der du dem Hundsstern nachjagst, was will die Bewegung des Sirius heißen im Vergleich zur Bewegungskraft eines Bourgeois unterm Einfluß der Habgier?«

Er eilte wieder auf die Straße, wo Carabin seiner harrte und die fünfzig Franken in Gedanken schon ausgegeben hatte.

»Aber was sollen wir denn beginnen?« rief er, als Frisson die traurige Mär berichtet hatte. »Sollen wir in den Straßen von Paris nach Gold graben? Sind wir in Italien, wo eine Traube den Hunger stillt und wo Trauben für ein ›Vergelts Gott‹ zu haben sind? Sind wir in Bagdad und wird uns an einer Straßenecke der Kalif begegnen und uns zum Essen einladen? Nein, wir sind in Paris, im wahrhaftigen Paris, und darum wiederhole ich: was sollen wir tun?«

»Ich weiß es nicht,« versetzte Frisson kläglich. »Wenn du gestern nicht den ganzen Napoleon mit diesen verdammten Deutschen …«

»Mein Gott! Du treibst mich noch zum Wahnsinn mit diesem Napoleon! Hab' ich dir denn nicht gesagt, daß ich ihn gar nicht ausgegeben habe, sondern daß er mir gestohlen worden ist? – Ei sieh da: Champardy!«

Sie waren auf den Opernplatz eingebogen, in dessen Nähe das bisher von den Bordelais bevorzugte Café lag, und waren dabei fast mit einem kleinen Herrn zusammengerannt, dessen Gesicht nichts weniger als geistreich war und dessen Kneifer im Gaslicht glitzerte. Er war sehr gut gekleidet, dieser Champardy, denn er war ja Gehilfe bei einem Notar mit einem Jahresgehalt von zweitausend Franken.

»Gerade vorhin habe ich van Raalte getroffen,« beeilte er sich zu erzählen. »Ein Pumpgenie ist dieser Mensch! Meinen letzten Napoleon hat er mir aus der Tasche gelockt vor zehn Minuten. Die neue Zeitschrift »Der Mond« hat eine Fabel von ihm angenommen, eine Fabel von einer Gans, die ihr Ei in das Nest einer Feldlerche gelegt hat. Könnten Sie mir nicht mit fünf Franken aushelfen, lieber Hans, nur bis morgen?«

»Ach, dieser Fuchs!« sagte Frisson, Carabin am Arm weiter ziehend. »Mit seiner Gans und seiner Feldlerche! Er hat van Raalte nicht von weitem erblickt, aber uns sah er kommen, dein Gesicht hat er auf die ganze Länge der Rivolistraße erkannt. Ich kenne keinen Menschen, der den Inhalt seiner Börse so auf dem Gesicht angeschrieben trägt wie du, mein teurer Hans. Du hättest vor Wonne grinsen sollen, als wir um die Ecke bogen. Was? Du kannst nicht um die Ecke sehen? Ach, mein lieber Alter, nur die Menschen, die um Ecken, durch Mauern, durch Weiber sehen, bringen's zu etwas im Leben! Aber einerlei – wir gehen in die »Drei Groschen«. Kohlsuppe bekomme ich auf Kredit und dann stopfen wir uns die Taschen voll mit Brot. Ein wahrer Segen, daß du deinen guten Rock anhast. Die hintern Taschen sind ja wahre Reisesäcke. Wir müssen eben bedenken, daß wir nicht zu unserm Vergnügen, sondern aus Notdurft essen, ja, daß wir sogar für heute und für morgen essen müssen. Ich werde mir drei Gänge zu Gemüt führen: Suppe, Fisch, Nachtisch …«

»Das ist barer Unsinn,« sagte Carabin, wie aus tiefem Nachsinnen erwachend. »Deine Tante ist nicht gekommen, also mußt du zu deiner Tante gehen.«

»Unmöglich!«

»Vollkommen möglich!«

»Um diese Stunde?«

»Gewiß.«

»Ich habe aber nicht einmal Geld für den Omnibus.«

»Dann gehen wir zu Fuß! – Alles besser als Kohlsuppe.«

»Nein, ich gehe nicht nach Passy. Lieber nie mehr zu Mittag essen! O mein lieber Hans, ich bin nicht in der Verfassung, einen Bourgeois zu ertragen. Ich weiß, daß es nach Schwäche klingt, aber eher einem hungrigen Tiger entgegen laufen, als diesem satten Bourgeois, meinem Onkel! Lieber Kohlsuppe hinunterschlingen bis zum »schwarzen Kaffee« und dann platzen und die ganze Geschichte hinter sich haben, als diesen Menschen verdauen! Weißt du etwa, daß er mit den Schlüsseln in seiner Hosentasche klimpert, während man mit ihm spricht, und das Muster des Bodenteppichs anstarrt, als ob er mikroskopische Beobachtungen zu machen hätte? Damit gibt er einem zu verstehen, wie gleichgültig man ihm ist. Weißt du, daß er einen ansieht, als ob er jedes Kleidungsstück, das man am Leib trägt, einschätzen müßte? Damit will er seine Aufmerksamkeit bekunden. Du kannst auf seinem Gesicht ablesen, wie hoch er die Sachen taxiert. Der Rock fünf Franken, die Halsbinde fünfzig Centimes, die Hosen sieben und einen halben Franken, die Stiefel – ach, das ist sein wunder Punkt! Bei Stiefeln kann er den Wert nie genau angeben, weil er die Sohlen nicht sieht. Ich habe einem Mörder, einem Dieb, ja sogar deinem Verleger gegenübergestanden, aber solchen Schauder hat mir keiner eingejagt.«

»Ach, mein Gott, du zitterst ja wie Espenlaub …«

»Mir kriecht ein Bourgeois den Rücken herauf. Jetzt krabbelt er wieder hinunter und wieder herauf, das sind meine Nerven! Komm, laß uns zum Essen gehen!«

Sie speisten auf Kredit in den »Drei Groschen« und Carabin füllte seine Säcke mit der Geschwindigkeit eines Taschenspielers voll Brot.

»Unerhört!« sagte der schmierige Kellner, als sie gegangen waren. »Den ganzen Brotkorb ausgegessen!«

Auch am andern Morgen fühlte Frisson noch nicht die Kraft, den verzweifelten Schritt zu tun.

»Wir wollen Lacenaire hinschicken!« sagte er.

Carabin fing Lacenaire auf der Treppe ab und schleppte ihn vor Frisson, der ihn anflehte, das Botschafteramt zu übernehmen.

»Du sollst zehn Prozent haben,« sagte er, »ja zwanzig, wenn du nur hingehen willst, und obendrein darfst du meine besten Hosen anziehen. Im Grund ist sie gar nicht so übel, meine Tante, und vor der Wissenschaft hat sie höllisch Respekt. Sag ihr, ich hätte den Fuß übertreten, oder noch besser, es sei mir ein Blutgefäß geplatzt. Nein, das geht nicht, da könnte sie mich besuchen wollen, denn mein Tod liegt ihr sehr am Herzen, weil ihr dann all das Geld zufallen würde. Lassen wir's also beim verstauchten Fuß! Meine blaue Krawatte kannst du auch nehmen, und ich bitte dich, Paul, sieh recht vornehm aus! Ich gebe dir ein Briefchen mit, worin ich dich gleich als Herrn Paul von Lacenaire von der Pariser Sternwarte vorstellen werde. Nun sei so gut, Alter, und wirf dich in Wichs. Hans kann dir einstweilen die Stiefel putzen!«

Während Lacenaire sich umkleidete und Hans Stiefel wichste, schrieb Frisson an die Tante.

»Hans wird dich bis an ihr Haus bringen,« erklärte er. »Er kann den Omnibus bezahlen – hat heute früh Geld bekommen. Geht bis zur Madeleinekirche und steigt dort in den Omnibus.«

Sie gingen und Frisson blieb erwartungsvoll zurück.

»Der Bourgeois, hundertunderste Aufführung.«

»Der Bourgeois von Karl Frisson etc. etc.« so kritzelte er, um sich die Zeit zu vertreiben, auf seine Schreibunterlage.

Es dauerte lang, endlich aber kam Carabin nach Hause.

»Ich sah ihn hineingehen,« berichtete er.

»Auch in das richtige Haus?«

»Montmorencystraße, Nummer achtzehn!«

»Ja! Sie haben doch ihr jüngstes Kind Montmorency getauft, weil sie in der Montmorencystraße wohnen. War's eine grüne Haustüre?«

»Ja, die Haustüre war grün. O Himmel! Wenn ich nur Tabak hätte!«

»Sobald Lacenaire zurück ist, besorgen wir uns Zigarren und dann speisen wir in der ›Kleinen Ananas‹; an der Kohlsuppe habe ich für vierzehn Tage genug. Wir werden uns Hammelkoteletten mit Tomatensauce gönnen.«

»Es wäre mir lieb, wenn du nicht von Hammelkoteletten sprechen wolltest, wenigstens nicht, ehe wir ihrer sicher sind.«

Es schlug fünf Uhr; Frisson sah zum Fenster hinaus, Carabin zog sich den Leibriemen enger und Herr Prud'homme holte aus den Tiefen seines Bewußtseins einen deutschen Fluch hervor, den er, Gott weiß wo, erlernt hatte.

Um sechs Uhr war Carabin etwa anzusehen wie der wilde Mann in einer Schaubude.

»Wenn er nur die Hosen nicht hätte!« stöhnte er.

»Ach, er muß jetzt jeden Augenblick kommen,« tröstete Frisson, aber es wurde sieben, acht, neun Uhr.

»Entweder ist er in seiner Zerstreutheit von einem Omnibus überfahren worden,« sagte Frisson, »oder bringt er mein ganzes Vermögen mit.«

Zehn Minuten darauf hörte man Schritte im Flur und Lacenaire erschien – lächelnd, mit einer Rose im Knopfloch. Frisson hätte ihn beinahe umhalst.

»Welche Ewigkeit das gedauert hat! Aber gleichviel, du kehrst als Sieger heim, ich sehe dir's an! Wieviel ist's, mein Alter? Wieviel hat der Drache ausgespieen?«

»Der Drache …?«

»Das Geld her, das Geld!« rief Carabin. »Rasch, mein Junge. Bist du etwa taub?«

»O Himmel!« rief Lacenaire erblassend. »Das Geld! Das Geld! Das habe ich rein vergessen …«

» Das hast du vergessen?«

»Ja, mein lieber Frisson, vergessen. Aber sei nur ruhig, lieber Junge, ich laufe gleich wieder hin und hole es.«

»Das hat keinen Zweck,« sagte Frisson, die Hände in die Hosentaschen steckend. »Jetzt ist's zu spät. Lacenaire, du bist mein Verhängnis! Und dabei wirft er noch Geld hinaus für Rosen!«

»Ich hab' sie nicht gekauft, diese Rose,« sagte Lacenaire, seinen gewohnten Platz neben dem Bett einnehmend und bestürzt in Carabins Gesicht starrend, das so schlaff geworden war wie ein geplatzter Luftballon.

»Woher hast du sie dann?«

»Geschenkt habe ich sie bekommen.«

»Von meiner Tante?«

»Großer Gott – nein!«

»Einerlei – das ist eine nette Lage! Aber sag mir nur, was du den lieben langen Tag getrieben hast?«

»Ich habe mich unterhalten, lieber Frisson, mit – mit deiner Tante.«

»Mit meiner Tante kann sich kein Mensch unterhalten! Was in aller Welt solltest du mit ihr sprechen können? Sie versteht nichts von Astronomie, und du verstehst nichts von kleinen Kindern. Sie beschäftigt sich, wie mir scheint, mit nichts anderm, als Kinder in die Welt zu setzen, und wenn sie gerade keins zur Welt bringt, spricht sie von den lebendigen. Dabei ist sie furchtbar anzusehen und hat gelbe Zähne, muß aber trotzdem, wie ich sehe, Männer fesseln können – du verfällst ihrem Zauber, während deine Freunde Hungers sterben! Freilich, du bist ja ein Süßholzraspler und widerstehst keiner Schürze. Das hätte ich bedenken und dich der Versuchung nicht aussetzen sollen.«

»Es tut mir sehr leid, Frisson,« sagte Lacenaire, sich unter der Last seiner Schuld und diesem Wortschauer zusammenduckend.

»Das Leidtun nützt gar nichts,« erklärte Carabin im Ton des Gerechten, der sich der Macht des Schicksals beugt. »Zieh die Hosen aus, dann will ich sie dem Hausmeister bringen. Fünf Franken leiht er uns schon darauf. Da wir doch nicht Hungers sterben können, müssen wir essen. Ich werde Schmorbraten machen.«

»Und ich werde zwei Flaschen Wein dazu spendieren,« rief Lacenaire aufleuchtend, während er sich der Hosen entledigte. »Ich kenne Leute, die mich ihren ganzen Keller ausräumen ließen.«

Eine Stunde darauf saßen alle drei seelenvergnügt beim festlichen Mahl, ohne sich mit Sorgen zu quälen, ohne an morgen zu denken. Aber an diesem folgenden Morgen war Frisson, wie es am Anfang des Kapitels steht, gedrückt. Lachend war er zu Bett gegangen, freudigen Sinns, voll von Plänen für morgen, von Hoffnung auf den »Bourgeois«. Beim Aufwachen saß ihm der »Bourgeois« wie ein Alp auf der Brust, ein bleierner Bourgeois mit bleiernen Augen und Lippen, die ohne Worte zu sagen schienen: »Ich werde nie aufgeführt werden. Das ›Gelbe Theater‹ wird entweder abbrennen, oder in andre Hände übergehen, du wirst sterben, oder es wird dir sonst etwas zustoßen, du wirst schon sehen …«

Als Peter Alabaster kurz vor zwölf Uhr zu ihm kam, war es, als ob ein Sonnenstrahl ins Zimmer fiele.

»Sie retten mich vor mir selbst,« sagte Frisson, die Feder niederlegend, womit er sorgfältig »Fahnen« korrigiert hatte, und dann klagte er ihm sein Leid.

Peter machte den Vorschlag, einstweilen, bis Frau Bordelais zur Vernunft kommen würde, ein kleines Darlehen von ihm anzunehmen, aber Frisson ging nicht darauf ein. Der von Carabin so schlecht angewendete Napoleon lag ihm noch im Magen, und dann war Peter auch nicht, was er »einen von uns« zu nennen pflegte. Er war zu gut gekleidet, war ein Amerikaner und allem nach ein fleißiger Student. Somit gehörte er nicht oder noch nicht hinreichend zur Familie.

»Ich mag kein Geld von Ihnen entlehnen,« sagte Frisson, »aber … da kommt mir ein Gedanke! Sie können uns trotzdem helfen!«

»Auf welche Weise? Wenn ich Ihnen irgendwie beistehen kann, ist mir's eine große Freude.«

»Das können Sie! Sie können mit mir zu meiner Tante gehen!«

»Zu Ihrer Tante?« rief Peter verwundert. »Ja, wie käme ich denn dazu, die Dame zu besuchen?«

Ja, wie kam er dazu? Aus dem einfachen Grunde, weil er eine goldgefaßte Brille, einen neuen, gutsitzenden Rock, blanke Stiefel und eine Diamantnadel trug. Solch eine Erscheinung, dessen war Frisson gewiß, mußte auf Frau Bordelais Eindruck machen, besonders wenn man sie ein wenig beiseite nahm und ein Wort fallen ließ, daß Peters Vater Millionär sei.

»Ein Eisenbahnkönig, liebe Tante Elise, der sich im Gold wälzt, und ein sicherer Mann – das siehst du ja dem Sohn an.«

»Wie Sie dazu kommen? Weil ich moralische Unterstützung brauche, mein lieber Peter, und das ist in dieser Stadt, wo Moral so gut wie gar nicht vorkommt, ein seltener Artikel. Stellen Sie sich vor, wenn einer zum Beispiel Carabin als moralische Unterstützung mitnehmen wollte! Ein vortrefflicher Mensch, wohlgemerkt, aber von der Vorsehung nicht dazu geschaffen, einem etwas erschütterten Ruf Halt zu geben! Ein weiterer Grund ist, daß wenn Sie mit mir gehen, meine Tante mir keine Vorlesung über das Schwänzen der Vorlesungen halten und dem häßlichen Hausmädchen, der Manon, nicht den Befehl geben wird, ›den kalten Hackbraten für Herrn Frisson‹ hereinzubringen. Ferner werde ich, wenn ich's in Ihrer Anwesenheit verlange, sicher hundert Franken von meinem Geld bekommen. Sie brauchen nicht rot zu werden, wenn ich vor Ihren Ohren Geld verlange, Zartgefühl läßt man am besten zu Hause, wenn man meine Tante besucht.«

»Meinetwegen,« sagte Peter, sein Kinn reibend.

Es war ihm nicht recht wohl bei der Sache, aber er mochte Frisson die Gefälligkeit nicht abschlagen, und so machten sie sich denn miteinander auf den Weg. Peter fühlte sich höchst unbehaglich, als er wahrnahm, wie schäbig sein Begleiter im hellen Tageslicht aussah. Frisson aber hängte sich frohgemut lachend und plaudernd an Peters Arm, voll Stolz auf dessen Rock und allgemeine Ehrbarkeit, voll freudiger Hoffnungen, die der helle Frühlingstag wachrief.

»Soviel gelacht habe ich noch nie auf dem Weg zu meiner Tante,« bemerkte er, als sie in einen Omnibus stiegen.

Dieser war gedrängt voll, was aber Frissons Mitteilungsbedürfnis durchaus nicht beengte. Er schwatzte getrost weiter und Peter mußte in tödlicher Verlegenheit, bald rot, bald blaß werdend, den Zuhörer abgeben.

»Meine Tante hält sich nur häßliche Dienstboten,« erzählte er. »Sie müssen sich die Antonie, die Kinderfrau, wirklich ansehen, so etwas kommt weder im Märchenland, noch in bangen Träumen, ja nicht einmal in England vor! Bei der Anna, der Köchin, drücken Sie lieber ein Auge zu. Sie könnten sonst beide einbüßen, und das Hausmädchen, die Manon – ach, die sehen Sie sich am besten mit geschlossenen Augen an. Nehmen Sie sie blindlings hin, die einzige Art und Weise, wie je ein Mann diese Manon nehmen wird! Meine Tante hat nicht etwa eine künstlerische Vorliebe fürs Groteske, sie ist nur rasend eifersüchtig auf ihren Mann, darum hält sie sich diese drei Dienstmädchen, ohne zu bedenken, daß sie in ganz Paris die einzigen drei Frauenzimmer außer ihr selbst ausgesucht hat, die einen Mann wie ihn ansehen würden.«

Diese Schlußbemerkung wurde zum guten Glück mit gedämpfter Stimme gesprochen, da der Omnibus eben anhielt. Sie stiegen aus und gelangten in die Montmorencystraße, die mit ihren zwei Baumreihen überaus friedlich und ehrbar aussah. Nummer achtzehn war ein Einfamilienhaus, rings von Garten umgeben, und als Peter Alabaster das ihm gewiesene Haus betrachtete, erblickte er an einem Fenster im oberen Stock ein Gesicht. Es war das Gesicht eines wunderbar hübschen, schwarzhaarigen Mädchens. Das Näschen war fast platt gedrückt an der Fensterscheibe, und als die Augen denen des jungen Mannes begegneten, lächelten sie, nein sie lachten, und dann war das Gesicht verschwunden.

»Wir sind zur Stelle,« sagte Frisson, der, ohne hinaufzusehen, die Gartentüre geöffnet hatte.

»Sie meinen?« fragte Peter Alabaster mit der Stimme eines jäh aus dem Schlaf Erwachenden, indem er seine Brille zurechtrückte, als ob das schöne Traumgesicht ihm die Gläser verschoben hätte.

»Was ist Ihnen denn, mein Bester? Kriegen Sie's mit der Angst?«

»Ich? Nein … o gar nichts! Das ist das Haus, sagten Sie?«

»Jawohl,« erwiderte Frisson, auf die Klingel an der Haustüre drückend.

Die Glocke erklang, die Besucher warteten.

»Bereiten Sie sich auf Manons Anblick vor!« sagte Frisson. »Wenn ich's recht bedacht hätte, wär's besser gewesen, Sie hätten schwarze Brillengläser aufgesetzt … zum Teufel, sind die da drinnen denn taub?«

Er klingelte wieder.

»Am Ende sind sie ausgegangen.«

»An einem von den oberen Fenstern sah ich jemand stehen,« bemerkte Peter.

»Aha, jetzt höre ich Tritte. Manon kommt, aber weshalb macht sie denn nicht auf? Ich bin's, Karl … ich bringe einen Freund mit!«

»Mein Herr,« rief eine Stimme durchs Schlüsselloch, und es klang, als ob sie vor Lachen erstickte, »ich bitte Sie, weiterzugehen. Ich habe nicht gelächelt, das heißt, ich habe nur unserm Kanarienvogel Fifi zugelächelt. Ich bitte inständig, daß Sie gehen! Wenn meine Patin nach Haus käme und Sie hier träfe, würde sie sehr böse werden … außerdem ist auch ein scharfer Hund da …«

»Mein Fräulein,« rief Peter aus Teilnahme für die Schönheit in Nöten, Frisson und die ganze Welt vergessend, »ich versichere Sie, daß ich nicht angenommen habe … daß ich nicht im entferntesten dachte, Sie könnten gelächelt haben. Wir kommen nur, um eine Tante von Herrn Frisson zu besuchen!«

»O ja,« versetzte die Stimme in spöttischem Ton. »Ich kenne diesen Herrn Frisson und seine Tante, sie wohnt aber gar nicht hier. Gehen Sie, ich bitte Sie um Himmels willen!«

Frisson sperrte vor Erstaunen Mund und Nase auf.

»Gehen wir, gehen wir!« rief Peter in wahrer Verzweiflung.

»Ja, gehen Sie!« sagte die Stimme. »Wenn Ihnen daran liegen sollte, mich wiederzusehen – nächsten Sonntag, beim Musikpavillon, aber Sie dürfen mich nicht anreden. Jetzt gehen Sie, ich bitte, gehen Sie!«

Frissons aufgesperrter Mund klappte plötzlich zu und dann begann er zu reden.

»Wer sind Sie denn? Sie, hinter der Türe da? Ist dies meiner Tante Haus oder nicht? Bin ich bei Sinnen, oder bin ich verrückt? Ich habe nicht das geringste Verlangen, Sie am Musikpavillon zu treffen, ich will nur Geld, das Geld, das mir von Rechts wegen gehört! Machen Sie auf, oder ich werde den Schutzmann holen!«

Ein Gekicher entstand hinter der Türe und man hörte halb unterdrückt »zu drollig« murmeln.

»Jawohl, sehr drollig,« sagte Frisson draußen, »Sie sind's, Manon, ich kenne Ihre Stimme.«

»Mein Gott, er kennt die Manon!« rief es innen.

»Halt, jetzt merk' ich's! Sie sind nicht Manon, sondern Antonie. Öffnen Sie, Antonie, ich habe die Narrenspossen satt!«

»So, so, Antonie, hab' ich dich!« murmelte es drinnen.

»Antonie ist ausgegangen, mein Herr. Ich hatte keine Ahnung, daß Antonie Verehrer hat, aber wenn Sie jetzt nicht gehen, werde ich's meiner Patin sagen.«

»Wer zum Henker kann es denn sein?« fragte Frisson, sich plötzlich an Peter wendend. »Meine Tante Bordelais ist es nicht, und …«

»O Himmel!« rief die Stimme, die mit einem Male etwas verstört klang. »Was höre ich, mein Herr? Sollten Sie es wirklich sein – sollten Sie der Neffe sein?«

»Natürlich, Karl Frisson, Student der Medizin.«

»Jawohl,« stimmte Peter ein. »Ich versichere, daß es Herr Frisson ist.«

Der Schlüssel knarrte, die Türe ging auf, das Engelsgesicht, das Herrn Peter Alabaster zugelächelt hatte, und eine reizende Gestalt in einem duftigen Teekleid kamen zum Vorschein.

»Ach! Welche Erlösung!« rief die Holdselige in einem Ton, der ganz Heiligkeit war. »Sie können sich gar nicht vorstellen, welche Todesangst ich ausgestanden habe! Ich hatte ja solche Angst, Sie wären Diebe, darum sprach ich von einem Hund, sprach davon, Sie am Sonntag zu treffen – war das nicht tapfer von mir? Sie kennen mich nicht,« fuhr sie fort, während sie die Haustür verschloß und die beiden Herren ins Wohnzimmer führte. »Ich bin Cäcilie Bonvalot und bin bei Frau Bordelais, meiner Patin, auf Besuch, sie und ihr Mann aber haben heute einen Tagesausflug gemacht. Wollen Sie sich nicht setzen? Ach, mein Gott, ich zittre ja noch – sehen Sie nur meine Hand! So allein im Haus zu sein, ist furchtbar unheimlich. Nein, entschuldigen Sie sich nicht, es war ja nur ein Irrtum. Die Dienstboten sind alle ausgeflogen zu ihren Bekannten …«

Frisson bot alles auf, um zu vergessen, daß er diesen Engel durch die Türe angeschnauzt hatte, und Peter Alabaster starrte vor sich hin und rief sich in halbem Traumzustand das Lächeln zurück, das ihn vom Fenster her gegrüßt hatte. Es kam ihm jetzt ganz unmöglich vor, daß dieses verträumte Gesichtchen, das ihn an irgend eine Heilige erinnerte, vom Schlafzimmerfenster aus unbekannten jungen Männern zulächeln sollte, und mochten alle Gesetze der Optik und der Physiologie dagegen sprechen, wenn sie überhaupt gelächelt hatte, so konnte es nur Fifi, dem Kanarienvogel, gegolten haben.

»Ich kannte nämlich,« sagte Fräulein Cäcilie, unter dem Teekleid ihrer Patin, das sie trug, die Spitze eines winzigen Fußes hervorstreckend, »ich kannte nämlich Ihren Familiennamen gar nicht, denn die liebe Frau Bordelais spricht immer nur von ihrem Neffen Karl. Ich weiß überhaupt in nichts Bescheid, denn ich komme frisch vom Land, von Angers, Herr Karl. Dort habe ich mein Leben lang bei einer Tante gewohnt, und erst seit drei Wochen bin ich in Paris. Es hat heiße Tränen gekostet, als ich das alte Haus verließ, worin ich so viele glückliche Tage verlebt habe – alle Tage meines Lebens,« setzte Cäcilie mit träumerischem Ausdruck auf den kindlichen Zügen hinzu, als ob sie sich in Betrachtungen ihrer eigenen Jugend versenkte, der Jugend eines Landmädchens, ein Bild voll Frühlingssonne, mit Äpfelblüten, weißen Lämmern, einem alten Schloß und altmodischem Garten.

»Ach, das Landleben!« sagte Frisson, der endlich wieder Herr seiner Stimme wurde.

»Ach, das Landleben!« wiederholte Cäcilie, die Augen schwärmerisch aufschlagend.

»Ja, das Landleben,« stimmte Peter Alabaster mit einem Seufzer ein, »das ist in der Tat etwas andres als Paris …«

»O ja, mein Herr,« versetzte Cäcilie, indem sie ihre schönen Augen voll auf sein Gesicht heftete und ihn mit der Kühnheit der Unschuld und der Jugend und zugleich mit einer gewissen Wehmut ansah, die Peter das Herz im Leib umdrehte. »O ja, mein Herr, ganz anders als Paris. Wälder, Wiesen, Blumen, wo hat man die in Paris? Es mag ja sein, daß die Bäume auch hier grün sind, daß auch hier Blumen blühen, aber ich finde sie nicht in dem Getöse der Stadt!«

»Ach, das Getöse von Paris!« sagte Frisson beinah weinerlich und so tragisch, als ob die stille, kleine Montmorencystraße von brüllenden Löwen wimmelte, die nur darauf warteten, Cäcilie zum Frühstück zu verspeisen.

Ihr Blick zog sich langsam von Alabasters Augen zurück und wirkte dabei wie eine Art von Saugapparat. Im Geiste des jungen Mannes entstand ein leerer Raum, den das Herz auszufüllen strebte. Dann senkte sie die Saugeröhrchen in Frissons Hirn und Herz, und er, der sonst zu schnattern pflegte wie eine Elster, wurde stumm. Hilflos sah er zu Peter hinüber, aber der war auch der Sprache beraubt.

»Meine Tante kommt also nicht nach Hause, Fräulein Cäcilie?« fragte er.

»Nein,« erwiderte sie. Ihm die Mitteilung zu machen, daß Herr und Frau Bordelais schon seit vierzehn Tagen verreist waren und ihr die Obhut des Hauses anvertraut hatten, was auch deren Verschwinden aus dem Café erklärt hätte, hielt Fräulein Cäcilie nicht für nötig. »Sie machen einen Besuch bei Freunden auf dem Lande, sonst wäre ich nicht so allein. Alleinsein ist schrecklich. Haben Sie je unter Einsamkeit gelitten, Herr Karl?«

»Einsamkeit?« wiederholte Frisson, an ihren Augen hängend. »Sie ist der Inhalt, die Krankheit meines ganzen Lebens!«

»Auch ich habe viel darunter gelitten,« bemerkte Peter. »Das heißt natürlich zuzeiten, eigentlich möchte ich sagen immer, seit ich in Paris bin.«

»Ach Sie! Männer haben ja immer Zerstreuungen. Sie gehen aus, speisen im Café … Sie sehen, ich weiß von Ihrer Verderbtheit! Herr Bordelais spricht manchmal von der Verderbtheit in Paris, vom Boulogner Gehölz und Longchamps und dem Moulin – Moulin – o ja, dem Moulin-Rouge.«

»Ich kann Ihnen mein Wort geben, daß ich nie dort gewesen bin,« sagte Peter.

»Und ich auch nicht. Wo ist denn dieses Moulin-Rouge?« fragte Frisson.

»Wie käme ich dazu, das zu wissen,« sagte Cäcilie, indem sie den Fuß etwas weiter vorstreckte, weit genug, daß man ihre weiße Haut unter Frau Bordelais' durchbrochenem Strumpf schimmern sah. »Aber ich habe oft davon sprechen hören und habe mir oft gewünscht, hinzukommen, wenn mich jemand mitnähme … kommt Ihnen das seltsam vor?«

»Aber Sie dürfen nicht hin!« rief Frisson beunruhigt. »Nicht, als ob es etwas Schlimmes wäre, es ist einfach abgeschmackt und schlechterdings kein Ort für Sie!«

»Nein, wahrlich nicht,« pflichtete Peter mit einer Ehrfurcht bei, als ob er einen Engel vor Gefahr zu schützen hätte.

»Da habe ich Sie!« rief Cäcilie lachend und gleichzeitig all ihre schönen Zähne und den Teufel, der in ihr steckte, enthüllend. »Nun habe ich die Heiligen in der Falle! Sie wissen, wie abscheulich es dort zugeht, und wissen doch nicht einmal, wo das Moulin-Rouge ist! Aber ich weiß es, es ist auf dem Montmartre! Man fährt mit der Omnibuslinie von … o Himmel! Wer ist das?«

Es hatte geklingelt und sie spähte durch den Laden eines Seitenfensters im Erker nach der Haustüre. Dann drehte sie sich in großer Bestürzung nach den Herren um.

»O mein lieber Herr Karl, Sie müssen gehen! Eine alte Dame steht vor der Türe, eine Betschwester, die sehr befreundet ist mit meiner Patin. Wenn sie die beiden Herren hier träfe, wäre sie entsetzt und würde mich bei Frau Bordelais verklatschen – ach, ich hätte Sie nicht hereinlassen sollen! Es war sehr unpassend, aber Sie können ja morgen wieder kommen, wenn meine Patin zu Hause ist. Dann sehe ich Sie morgen. Jetzt kommen Sie mit mir durch den Garten; es ist ein kleines Pförtchen da, durch das Sie unbemerkt entschlüpfen können.«

Sie lotste die Herren durchs Vorzimmer in einen kleinen Wintergarten, von wo ein paar Stufen in den Garten hinter dem Haus führten.

»Dort ist das Pförtchen,« sagte Cäcilie, »und nun auf Wiedersehen! Kommen Sie morgen nachmittag!«

Sie drückte Frisson die Hand und warf ihm einen Blick zu, sie drückte Alabasters Hand und vergiftete sie durch eine kleine Quetschung, daß sie kraftlos und matt herabhing. Dann lief sie, ein Wölkchen von Vervainduft und ein klingendes Lachen hinter sich lassend, ins Haus, und das Letzte, was die beiden von ihr zu sehen bekamen, war die weiße Hand, womit sie ihnen zuwinkte, ehe sie die »Betschwester« hereinließ.


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