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Sechzehntes Kapitel.
Doktor Guiot

Hans Carabin war sehr angefochten in seinem Gemüt. Frisson war erstens verliebt und zweitens haperte es mit seiner Gesundheit. Es war jetzt drei Wochen her, seit der Direktor des »Gelben Theaters« die Tatsache kundgetan hatte, daß der »Bourgeois« in vier Wochen aufgeführt werden solle, und diese drei Wochen hatten dem Verfasser des »Bourgeois« bös mitgespielt.

Cäcilie und die Proben hatten derart zusammengewirkt, daß er zum Strich abgemagert war; er klagte über Kopfweh, Schwindelanfälle, Gliederstarre, hatte auch Guiot aufgesucht, den Nervenmann, der ihm verordnet hatte, sich auszuruhen, das Rauchen aufzugeben und Ammoniumbromid, 10 Gramm ter die ex aqua zu nehmen.

»Ich will seine Verordnung teilweise befolgen,« erklärte Frisson mit einer Zigarre zwischen den Zähnen und einem Glas Absinth vor sich. »Das Wasser mit ein paar Tropfen Pernod darin, und was seine übrigen Vorschriften betrifft – nun, das Rauchen gebe ich erst auf, wenn ich mich gehörig ausgeruht habe.«

»Du wirst dich ganz einfach umbringen,« wehklagte Carabin, »und was soll dann aus deinem Stück werden, was aus mir?«

»Bah! Sterben kann man ja doch nicht mehr als einmal.«

»Einmal! Großer Gott, du bringst mich zum Wahnsinn! Einmal! Das ist's ja gerade, warum niemand sterben will! Wenn man's zwanzigmal tun könnte, würde man sich aus dem einen Male nicht viel machen. Einmal! Freilich kannst du nur einmal sterben! Du richtest dich zu Grunde! Guiot sagt: ›Nicht mehr rauchen!‹ Ja, nun wirst du wütend! Aber wem zuliebe rege ich mich denn so auf? Nur deinetwegen. Bedenke doch, was im Falle deines Todes aus mir werden sollte – in meinem Alter verlassen in dieser Wildnis von Paris. Arbeiten kann ich, wie du sehr wohl weißt, nicht mehr, das ist vorüber, wenigstens nicht mit den Händen, und die philosophischen Spekulationen verzehren mein Leben, statt mich zu ernähren. Kann ich von Träumen leben? Du nimmst das Leben nie ernst genug. Der Hunger steht immerdar vor unsrer Türe und du kaufst Vögel! Einen Papagei hattest du schon, gegen den will ich ja nichts einwenden, denn er machte dir Vergnügen; freilich hat er dreißig Franken gekostet. Weißt du etwa, daß man um dreißig Franken fünfzehn gute Mahlzeiten haben kann oder drei Paar Stiefel oder einen Überrock samt einem Paar Hosen – daß man fünfzehn Dutzend Austern zweiter Güte oder siebeneinhalb Dutzend erster dafür kaufen kann? Statt all dieser guten Dinge hast du ein ruppiges Federvieh im Käfig! Aber einerlei, ich will dich ja nicht stören in deinen berechtigten Freuden, und wenn ich so unumwunden mit dir spreche, geschieht's nur, weil ich das Gefühl habe, eine Art von Vormund für dich zu sein, ein Vormund aus freiem Willen, der nur seinem eigenen Gewissen zu gehorchen hat! Wie manche Kleinigkeit versage ich mir nicht, nur daß meine Selbstverleugnung dir zu gute komme. Was brummst du da? Daß ich dir gestern abend all dein Geld genommen und es für eine einzige Mahlzeit ausgegeben hätte? Jawohl, das ist tatsächlich, mathematisch richtig. Ich hab's getan, aber weshalb? Hast du nie davon gehört, daß man eine Sprotte auswirft, um einen Walfisch zu fangen? Nun, ich wollte mit dieser Mahlzeit einen neuen Verleger, den Voison, ins Netz locken. Was? Champardy sagt, er habe mich allein essen sehen? Das ist ebenfalls richtig, denn Voison kam einfach nicht. Das Essen war bestellt und mußte verzehrt werden – aber ich habe diese fruchtlosen Erörterungen satt.«

Er stand auf und watschelte nach einem andern Tisch hinüber, wo deutsche Studenten Bier tranken. Frisson wandte sich an einen elsässischen studiosus juris, der Carabins Reden aufmerksam gelauscht hatte.

»So ist er nun einmal, dieser Hans! Schreit die persönlichsten Angelegenheiten im Café aus! Das kommt davon, daß er sich wieder in einer Anwandlung von Tugendhaftigkeit befindet, und die Tugend bringt ihn regelmäßig um sein Anstandsgefühl. Man soll seine schmutzige Wäsche nicht in der Öffentlichkeit waschen; ist die Wäsche aber nicht nur schmutzig, sondern sogar zerlumpt, so soll man's zweimal bleiben lassen. Und überdies, weshalb den Schein preisgeben? Nichts Besseres als den Schein wahren. Matthieu, der den römischen Preis davongetragen hat, erzählte mir, daß er halb verhungert sei, während er das Bild malte, das ihn berühmt gemacht hat, er hat aber den Schein gewahrt und niemand wußte darum. Die letzten vierzehn Tage hat er sich von Hundekuchen ernährt, die er auf Borg bekam, weil er dem Mann weismachte, er müsse einen Hetzhund für eine Preisbewerbung herausfüttern. Hundekuchen, müssen Sie wissen, gehören zu den Dingen, die man noch am ehesten auf Borg bekommt, während man Wein und Zigarren, überhaupt alles Angenehme bar bezahlen muß. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie verkehrt die Dinge gedeichselt werden in dieser verkehrten Welt, diesem Omnibus, der führerlos nach keinem Ziel fährt! Matthieus Bild stellt das Fest des Belsazar dar. Denken Sie sich einen verhungernden Menschen, der ein schwelgerisches Gelage malt! Paris wimmelt von derartigen Widersprüchen; ich kenne ihrer Hunderte. Wenn ich eine Hölle schreiben wollte, die würde Dantes Buch totmachen. Ich kann Dante nicht lesen, der Geruch halbgerösteten Menschenfleisches macht mir übel. Die Höllische Komödie hätte er's nennen sollen oder das Göttliche Kochbuch! Haha! Wovon sprach ich doch eben? Aha, den Schein wahren, denn der Schein bildet die Säule, die den Tempel des Kredits trägt. Heute über acht Tage wird der ›Bourgeois‹ aufgeführt. Beim bloßen Gedanken daran würde ich in meinen Schuhen erschauern, wenn ich nicht Stiefel trüge. Fällt er durch – nun, ich bin so ans Unglück gewöhnt, daß ich nur noch lächle, wenn mich ein neues trifft, auf ein Lächeln mehr oder weniger kommt's ja nicht an. Trotzdem bin ich nervös. Ein Mensch, der ein Theaterstück auf die Bretter bringt, ist ungefähr ebenso dran wie eine Frau, die ein Kind zur Welt bringt – ich habe auch jeden Morgen Erbrechen. Frauen in meinen Umständen verschlingen mitunter, wie ich gelesen habe, rohe Rüben; in diesem Stadium bin ich zwar noch nicht, aber mich befällt oft ein krankhaftes unwiderstehliches Gelüste nach Austern, Porter, Sekt, grünem Tee und russischen Zigaretten, kurz nach all den guten Dingen, die mir der ›Bourgeois‹ einbringen kann, wenn er gefällt. Kellner, eine Zigarre!«

Später am Nachmittag begab sich Carabin in dem berühmten Rock, dessen hintere Taschen den Umfang von Reisesäcken hatten, zu Doktor Guiot, um sich persönlich Auskunft über Frissons Gesundheitszustand zu holen.

Auf eine entlehnte Karte hatte er geschrieben: »Hans Carabin, stud. med.«, und obwohl das Wartezimmer gedrängt voll stand, verschaffte ihm seine Eigenschaft als Student der Medizin vor allen andern Einlaß. Doktor Guiot machte ein etwas erstauntes Gesicht, als er dieses Studenten ansichtig wurde, bat ihn aber, Platz zu nehmen.

»Ich möchte Ihre Ansicht über den Zustand eines mir sehr nahe stehenden Freundes namens Karl Frisson hören,« begann Carabin.

»Frisson, Frisson? Ja, der war heute bei mir,« versetzte der Arzt, ein schmächtiger, alter Herr mit gütigem Gesicht und goldener Brille, dessen geübter Blick Carabins charakteristische Punkte, den schweren Bauch, kahlen Kopf und die aufgedunsenen Hängebacken rasch überflog.

»Er ist mein teuerster Freund, Herr Doktor, und seine Gesundheit liegt mir mehr am Herzen als meine eigene. Ach, mein Gott, was sollte aus mir werden, wenn er stürbe! Sehen Sie …« Carabin schneuzte sich geräuschvoll in ein buntes Taschentuch von ungewöhnlichem Umfang … »verzeihen Sie … eine Träne … es ist vorüber. Um mich kurz zu fassen, ich möchte genau wissen, was Sie, geehrter Herr, von meines Freundes Zustand halten?«

»Sind Sie ein Verwandter des Herrn Frisson?«

»Bis auf den Umstand, daß ich dem Heimatlosen Obdach gegeben, ihm literarische Arbeit verschafft habe, die ihn in stand setzte, den Hunger fernzuhalten, und daß ich ihn, soweit es in meiner Macht stand, vor schlechter Gesellschaft bewahrt habe, kann ich keine Verwandtschaft nachweisen, und doch darf ich mich seinen Vater nennen. Er ist nicht leiblich, aber geistig mein Werk.«

»So so … und Sie wollen Klarheit haben, wie es um ihn steht. Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Es ist einer von den wunderlichen Fällen, die da und dort auftauchen. Kein Organ ist in Ordnung, und doch ist eigentlich keines krank. Sie haben Ihrem ›Werk‹ etwas zu viel Geist eingepflanzt, Herr …«

»Hans Carabin.«

»Und einen zu unruhigen. Ich spreche mich sonst nur Angehörigen gegenüber über meine Patienten aus, und Herr Frisson sagte mir ausdrücklich, er habe keine Verwandten. Da Sie sich aber seinen besten Freund nennen, Herr Hans Carabin, und er Sie mir heute früh auch in diesem Sinn genannt hat, will ich Ihnen Auskunft geben. Er hat eine vergrößerte Milz und anämisches Geräusch, ungleiche Pupillen, aber dabei normale Kniegelenke, kurz eine Menge von Symptomen, die einander widersprechen. Zudem ist er entsetzlich hypochondrisch. Als ich auf das Darmbein drückte und ihn fragte, ob die Stelle empfindlich sei, sagte er entschieden: ›Nein!‹, bat mich dann aber, noch einmal hinzudrücken, daß er sich genauer beobachte, und fühlte dann heftigen Schmerz, natürlich in der Einbildung. Trotzdem ist sein Zustand höchst unbefriedigend. Achten Sie wohl auf ihn! Tabak und Aufregungen können schweres Unheil bei ihm anrichten. Passen Sie gut auf, Herr Carabin!«

»Ach!« seufzte Hans Carabin. »Ich habe immer acht gegeben auf ihn, habe ihn behandelt wie ein Vater seinen Einzigen, habe im Unglück meine letzte Brotkruste, im Glück meine erste Flasche Wein mit ihm geteilt, und zum Lohn dafür verliebt er sich in ein Frauenzimmer, das ich nie gesehen habe und dessen zweifelhafte Gefühle meiner Überzeugung nach weder seinem Leib, noch seinem Geist, sondern seinem Geldbeutel gelten!«

»Ach so, er hat einen begehrenswerten Geldbeutel?« fragte Doktor Guiot, der in den letzten Minuten ernstlich über die geheimnisvollen Gründe von Carabins Anteil an seinem Nebenmenschen nachgedacht hatte. »Den Eindruck eines Kapitalisten hat er mir nicht gerade gemacht.«

»Darin haben Sie recht gesehen,« sagte Carabin. »Frissons Finanzen sind so unstet wie seine Gesundheit, und der Hunger lauert immer an unsrer Schwelle. Ich für meine Person bin vollständig bedürfnislos; ich bin Philosoph und habe weltlichen Ehrgeiz längst schwinden lassen zu Gunsten freier Gedankenarbeit, äußeres Behagen mit der Tonne des Diogenes vertauscht – bildlich gesprochen.«

»Versteht sich,« bemerkte Doktor Guiot, dem die Vorstellung von Hans Carabin in einer Tonne ein Lächeln entlockte.

Hans empfahl sich und schritt dann gedankenvoll durch die Straßen. Er hatte zwanzig Franken in der Tasche, die er dem menschenfreundlichen Arzt als Darlehen abgeschwätzt hatte. Guiot hatte sie gegeben, ohne sich in Illusionen zu wiegen, daß die Guttat wohl angebracht sei, wie man einem Bären ein Stück Brot zuwirft oder einem Elefanten einen Apfel reicht, weil uns die Tiere Spaß machen.

Carabins »Gedankenarbeit« bestand augenblicklich darin, daß er die Vorzüge zweier Restaurants gegeneinander abwog. – Sollte er bei Pradon oder Roche speisen? Nebenbei beschäftigte ihn auch die Sorge um Frisson. An einer Straßenecke machte er halt, klopfte mit seinem Stock aufs Pflaster und sagte laut: »Ich werde ins Café Roche gehen.« Und etwas leiser setzte er hinzu: »Ich muß ihn dazu bringen, daß er ein Testament macht.«


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