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Zwölftes Kapitel.
Nachmittagsgedanken

Beflügelten Schritts ging Frisson die reinliche Montmorencystraße entlang. Er klimperte mit den Goldstücken in seiner Tasche und flehte des Himmels Segen auf Peter Alabaster einer- und Tante Elise und Magdalene anderseits herab. Daß Peter sich weigern würde, die ihm zugedachte Rolle zu spielen, davor war ihm nicht bange.

»Jedenfalls wird er ihr ein wenig den Hof machen,« sagte er sich, obwohl es ihn kalt überlief bei der Vorstellung, Magdalene den Hof machen zu sollen. »Wenn ich mich nicht täusche, hat er Talent für junge Mädchen – ach, und er hat ja gestern abend gesagt, sein Ideal sei ein junges Mädchen an der Nähmaschine! Magdalene ist wie geschaffen für ihn! Eine Nähmaschine hat sie allerdings nicht, aber ich könnte mir sie gut daran nähend vorstellen. Eigentlich ist die ganze Person eine Nähmaschine, die nur geölt werden sollte, und ölen wird sie Peter! Der arme Kerl! Im Grunde tut er mir leid!«

Als er in die Passystraße einbog, sah er eine Gestalt vor sich herschreiten, die ihn an ein Leichenbegängnis erinnerte. Es war Sangarelle, der sich mit einem braun eingewickelten Paket in der einen, einem schwarzen Regenschirm in der andern Hand ins Trokaderotheater begab. Frisson holte ihn rasch ein und begrüßte ihn fröhlich, indem er sich nach seinem Befinden erkundigte.

»Ich bin ganz wohl,« sagte Sangarelle, »bis auf die verdammte Hitze.«

»St … horch!« rief Frisson, entzückt stehen bleibend.

Durch die warme Abendluft klang aus einem nahen Garten der Schlag einer Drossel.

»Eine Nachtigall,« sagte Frisson, der von Vogelsang nur Spatzengeschrei und Herrn Prud'hommes melodische Töne kannte.

Sangarelle lauschte mit verzerrtem Gesicht und dem Ausdruck eines Menschen, der auf einer Schiefertafel kritzeln hört. Dann setzten die beiden ihren Weg fort, jeder von Schwermut übermannt, Frisson von der süßen Schwermut der Liebe, Sangarelle von seiner höchsteigenen Sonderschwermut.

»Wenn jemand zu Ihnen käme,« begann Sangarelle nach einer Weile, »und Ihnen sagte: ›Mitunter habe ich plötzlich einen jähen Schmerz. Er beginnt am Herzen, läuft am linken Arm hinunter und ist so heftig, daß ich schreien muß,‹ auf was für eine Krankheit würden Sie aus diesen Symptomen schließen?«

»Auf Angina pectoris,« versetzte Frisson unverzüglich.

»Und wenn er hinzusetzte: ›So oft der Schmerz kommt, ist mir's, als ob ich sterben müßte!‹«

» Angina pectoris,« wiederholte Frisson. »Mein Gott, reden wir nicht davon! Das ist eins von meinen Schreckgespenstern, wie Hydrophobie, Starrkrampf und Aneurysma.«

»Im Gegenteil, reden wir darüber. Wie lang würden Sie dem Mann noch zu leben geben?«

»Ein Jahr, einen Monat, einen Tag – er kann jeden Augenblick tot umfallen. Das ist furchtbar. Ich wollte, der liebe Gott hätte uns mit Kupferhülsen um die Adern geschaffen und mit Nerven, die dem Starrkrampf widerstünden, und wenn er die Erschaffung der Hunde vergessen oder lauter Katzen daraus gemacht hätte, wäre die Welt auch weit erträglicher. So oft ich einen Hund mit heraushängender Zunge laufen sehe, möchte ich auch laufen – in entgegengesetzter Richtung!«

»Sie würden dem Mann, der an Angina pectoris leidet, nicht sagen, was diese Anzeichen bedeuten?«

»Großer Gott, nein! Es wäre denn, ich wollte ihn wahnsinnig machen vor Angst! Warum fragen Sie nur?«

»Weil Sie mir eben die Wahrheit gesagt haben.«

Frisson starrte den Mann an, der ihm so hinterlistig sein Urteil entlockt hatte, aber Sangarelle schien gar nicht erschüttert zu sein darüber, er kam ihm sogar etwas heiterer vor als sonst.

»Ich wußte es,« sagte er, dem Omnibus, der in die Richtung des Trokadero fuhr, ein Zeichen machend, »Sie haben mir nur bestätigt, was ich bereits wußte. Fahren Sie nicht auch?«

»Nein,« versetzte Frisson, durch Sangarelles Gelassenheit über dessen Gesundheitszustand beruhigt, »ich bin heute ein reicher Mann, und da mir Omnibusse unausstehlich sind, werde ich mir eine Droschke gönnen. Fahren Sie mit mir!«

Er zog sein Geld aus der Tasche und Sangarelle hätte beinahe über diesen Anblick gelächelt.

»Ihr Monatseinkommen,« sagte er, »das Sie möglicherweise heute abend noch verprassen!«

»Ja, das kann wohl sein,« gab Frisson zu, als ob von einem möglichen Wetterumschlag die Rede wäre.

»Und wenn dieses Gold in Ihrer Tasche verzwanzigfacht würde, wären Sie im stande, es ebenso zu vergeuden?«

»Vielleicht.«

»Wissen Sie, was für ein Gedanke mir kommt?«

»Da Ihr Kopf nicht von Glas ist, kann ich Ihre Gedanken nicht wohl sehen, Verehrtester!«

»Sie würden sich vorzüglich dazu eignen, als eine Art von Wasserspeier dem Volk ein Vermögen zurückzugeben, das aus den Taschen des Volkes stammt.«

»Eine prachtvolle Idee! Wenn's doch irgend ein Baumeister mit mir versuchen wollte! Ich versichere Sie, lieber Sangarelle, ich würde Geld heraussprudeln, wie Rochefort Unsinn, ganz Paris sollte überflutet werden, wenn man mir nur die Gelegenheit gäbe.«

»Die kann kommen,« sagte Sangarelle orakelhaft und stieg dabei, ohne auch nur ein Guten Abend hinzuzufügen, in seinen Omnibus.

Frisson, dem mit einem Male Cäcilie und Peter einfielen, rief eine vorüberfahrende Droschke an und ließ sich nach dem Boulevard Raspail fahren, wo der unglückliche Alabaster, obwohl es mittlerweile sechs Uhr geworden war, erst ans Ankleiden ging. Es hatte sich getroffen, daß Champardy und van Raalte gestern abend auf dem Heimweg vom Café d'Harcourt zur Residenz des Fabeldichters zufällig an Nummer 121 des Boulevard Raspail vorübergekommen waren und gesehen hatten, wie Frisson sich mühte, Peter Alabaster erst aus der Droschke und dann die Treppe hinaufzubringen. Als in solchen Hilfeleistungen wohlerfahrene Männer hatten sie ihre Dienste angeboten und sich dafür bezahlt gemacht, indem sie ihre lebhafte Phantasie an Peter und seiner Behausung ausließen.

Während Champardy sein Haar mit Peters Brillantine verschönte und alle Schränke nach Trinkbarem durchsuchte, strich van Raalte unter wieherndem Gelächter Peters Gesicht mit Schuhwichse an, bis Frisson, der seinem Freund mit Aufgebot aller Kraft die Stiefel von den Füßen zog, um Gnade für den Unglücklichen flehte. So kam es, daß Peter, als er Morgens acht Uhr mit heftigen Kopfschmerzen erwachte, eine lebensgroße Büste der Minerva samt dem Helm an seinen Busen geschmiegt fand, ein Platz, den van Raalte der Göttin angewiesen hatte. Er entdeckte, daß alle Bilder verkehrt an der Wand hingen, worin sich Champardys Humor geäußert hatte. Er stieg aus dem Bett, um die Minerva auf den Boden zu stellen, und legte sich dann stöhnend wieder hinein.

Peter bezweifelte nicht einen Augenblick, daß er selbst die Minerva ans Herz geschlossen, die Bilder und den Spiegel gegen die Wand gekehrt, die Vorhänge als Guirlanden aufgebunden und seine Brille der Büste der Klytia aufgesetzt habe, die aus dem andern Zimmer hereingekommen war und ihm gegenüber auf einem Tisch stand.

Die entsetzliche Frage, die sich ihm aufdrängte, war nur: »Was kann ich sonst noch getan haben?« Was für ein Verbrechen, was für eine Torheit mochte er außerdem begangen haben? Sündhaft und töricht genug kam er sich, weiß der Himmel, vor, als er so dalag, die ausgetrockneten Lippen mit der nicht minder ausgetrockneten Zunge anzufeuchten strebte und das bißchen Verstand zusammensuchte, das ihm noch geblieben war und ihm über die Vorgänge der vergangenen Nacht Auskunft geben sollte.

Das war ungefähr, wie wenn man Buchstaben auf verkohltem Papier entziffern will. Daß er sich mitten auf der Straße, von einem Volkshaufen umgeben, niedergesetzt hatte, das brachte er noch heraus, das übrige war Nacht und Dunkelheit. Er erinnerte sich auch noch, daß er verlangt hatte, man solle ihn nach Passy bringen, er wolle »Cecily« sehen.

»Großer Gott,« stöhnte er, als diese Erinnerung in ihm auftauchte, gepaart mit dem fürchterlichen Gedanken, er könne am Ende vor einem Straßenpublikum über Cäcilie gesprochen, dieses Engels Namen in der Gosse, buchstäblich in der Gosse, herumgezogen haben.

Er steckte seinen Kopf unter die Betttücher, als ob er die Gedanken ersticken, Vergessenheit finden könnte, aber ein noch greulicherer Verdacht trieb ihn wieder aus seinem Versteck, und er mußte sich, den schmerzenden Kopf zwischen den Händen haltend, aufrecht setzen. War er gar in Passy gewesen? Hatte jemand die Grausamkeit gehabt, ihn hinzubefördern? Hatte er sich in diesem fürchterlichen Zustand jenen reinen Augen preisgegeben?

Johann, ein gutherziger, schlurkender junger Mann für alles, zu dessen Obliegenheiten es gehörte, die Zimmerherren zu bedienen und ihnen so viel Zeit zu widmen, als er vom Zeitungslesen und Zigarettenrauchen erübrigen konnte, kam mit Alabasters heißem Badewasser herein. Still vor sich hin lächelnd, hob er die Rollvorhänge auf und machte die künstlerisch geschlungenen Gardinen zurecht. »Der Herr waren sehr heiter gestern abend,« bemerkte er.

»Wirklich?« fragte Peter.

»Gewiß, gewiß,« versicherte Johann, indem er die Klytia von ihrer Brille befreite, sie ins Wohnzimmer trug, die Bilder umkehrte und den Spiegel an seinen Platz brachte, alles in einer gelassenen Weise, als ob es sich um eine ganz selbstverständliche Beschäftigung gehandelt hätte. Er plauderte ganz lustig dabei und beschrieb Peter, wie er die Treppe heraufgeschleppt worden sei. Der eine Freund habe ihn an den Schultern gehalten, der andre die Beine getragen, er selbst sei mit dem Licht nebenher gegangen und Frisson habe den Transport geleitet.

»Ein drolliger Herr, dieser Herr Frisson!« bemerkte er, von der Arbeit ausruhend und einen Tabaksbeutel nebst Zigarettenpapier aus der Tasche ziehend, um sich eine Zigarette zu drehen. »War auch ein großer Freund des Herrn Joyeuse, der voriges Jahr diese Zimmer hatte. Der war auch wie Sie gestern abend, Herr Alabaster, nur passierte es bei dem jede Nacht, und dann haben Herr Frisson und Herr Carabin ihn heimgebracht. Dreimal hat er in dem nämlichen Bett, wo Sie liegen, Herr Alabaster, am Delirium krank gelegen. Er hatte immer einen Stock im Bett, um die Ratten zu verscheuchen, und zehn Kerzen mußten die ganze Nacht brennen, denn wenn auch nur ein Fleckchen wie meine Hand so groß im Zimmer dunkel war, so sah er dort eine Ratte oder eine Schlange auftauchen. Drei Kerzen mußten stets auf dem Fußboden stehen, drei auf dem Toilettentisch, drei auf dem Waschtisch und eine im Kamin, damit kein Teufel durch den Schornstein herunterfahre. Es war urkomisch! In der Nacht, als er starb, brannten zwölf Kerzen im Zimmer, und dabei rief er fortwährend: ›Mehr Licht! Mehr Licht!‹«

»Lassen Sie mich in Ruhe!« rief Peter von Grauen erfaßt, indem er sein Gesicht gegen die Wand kehrte.

Johann ging, um alsbald mit einer Suppe für den Dulder zurückzukehren, denn er hatte trotz seiner seltsamen Begriffe von Komik ein gutes Herz.

Es war sechs Uhr vorüber, als Frisson in seiner Droschke anlangte. Peter rasierte sich gerade im Dämmerlicht und dachte dazu über seine Sünden nach.

»Wie steht's, altes Haus?« rief Frisson. »Was? Erst beim Ankleiden?«

»O mein Lieber,« sagte Peter, das Rasiermesser weglegend und den Seifenschaum von der noch nicht enthaarten Gesichtshälfte wischend. »Ich bin in einem elenden Zustand, trostlos elend. Wenn ich mich nicht der Sünde fürchtete, würde ich mir wahrhaftig den Hals abschneiden. – Wie habe ich mich entehrt, meinen Namen mit Schmach beladen, daß ich mich nicht mehr blicken lassen kann vor den Leuten in diesem Haus, und wie habe ich jenen – Engel beschimpft. Ich werde Paris verlassen oder doch jedenfalls eine andre Wohnung suchen.«

»Was? Was soll denn das heißen? Was haben Sie denn angestellt, Sie Unglücksmensch?« rief Frisson betroffen, indem er sich im stillen überlegte, ob sein Freund als Falschspieler oder Falschmünzer ertappt worden sein könne oder ob er der Hausmeisterstochter unziemlich begegnet sei.

»Angestellt?« sagte Peter, der sich in einen Lehnstuhl gesetzt hatte und seine Kinnladen streichelte.

»Hoffentlich gibt's keine Ungelegenheiten mit der Polizei,« bemerkte der nun ernstlich beunruhigte Frisson.

»O sprechen Sie mir nicht davon! Ich will nicht hoffen – ich glaube nicht.«

»Mein Gott, mein Gott! Und gerade vorhin war ich so von Herzen vergnügt! So geht's immer, wenn ich einmal glücklich bin! Man sollte auf dieser Welt nie lachen, aus Angst, daß die Götter es sehen könnten, höchstens in sich hinein lachen darf der Mensch. Soll ich Champardy holen? Niemand ist so brauchbar wie er, wenn man in der Patsche sitzt – er beweist alles, und falls es sich um Fräulein Joulots Unschuld handelt, nun, so wird er beweisen, daß sie die nicht mehr zu verlieren hatte. Kopf hoch, Mann, die Freunde stehen zu Ihnen! Carabin schwört jeden Eid, den ich von ihm verlange, aber Sie müssen mir offen sagen, was vorliegt.«

»Ich brauche Ihnen nichts zu offenbaren, Sie haben ja alles mit angesehen … Sie waren ja Zeuge meines schmählichen Zustands, haben mich zu Bett gebracht.«

» Was!« brüllte Frisson. »Das ist die ganze Geschichte? Von einem Rausch machen Sie so viel Aufhebens?«

»Ich mache kein Aufhebens, ich fühle mich nur erniedrigt, angeekelt …«

»Das ist zum Bersten! Gestatten Sie, daß ich mich totlache! Ja, mein Bester, Sie haben auf der weiten Welt nichts Schändliches getan, nur gelächelt und sich gesetzt – allerdings aufs Pflaster, aber das war gerade das Originelle an der Sache. Wenn man betrunken ist, wird man immer originell. Als wir Sie dann ins Haus brachten, haben Sie nicht einmal Randal gemacht – nur gelächelt und sich gesetzt haben Sie. Der Hausmeister war geradezu entzückt von Ihnen; er sagte, jetzt könne man sehen, was für ein gutes Herz Sie hätten. Van Raalte nannte Sie sogar ein Gedicht und selbst Champardy fand Wohlgefallen an Ihnen. Sie hätten in jede Gesellschaft treten können – wenigstens fast in jede, ohne bei irgend jemand Anstoß zu erregen, und wäre Ihr unglücklicher Hang nicht gewesen, sich niederzusetzen, ehe ein Stuhl da war, man hätte Sie für nüchtern halten können, so nüchtern wie ein Bischof.«

»Habe ich … geschwatzt?« fragte Peter etwas beruhigt.

»Nein, denn Sie hatten mit einem Male all Ihr Französisch vergessen, das war das Komische … Sie bildeten sich ein, in Sizilien zu sein, oder sehnten sich, nach Sizilien zu kommen, denn Sie schwatzten unaufhörlich von ›Sizilien‹.«

»Dem Himmel sei Dank!« dachte Herr Alabaster sichtlich erleichtert.

»Ich war in Passy,« setzte Frisson hinzu, indem er seine Fingernägel mit Peters Rasiermesser bearbeitete, »dort haben Sie geradezu einen Sturm erregt.«

»O mein Gott! Mein Gott!« stöhnte Peter.

»Was ist Ihnen denn? Was ficht Sie jetzt wieder an?«

»Das wird doch nicht so sein?«

»Was?«

»Was Sie sagten?«

»Was habe ich denn gesagt?«

»Daß ich in Passy einen Sturm erregt hätte!«

»Das ist so! Das ganze Taubenhaus flattert durcheinander.«

»Dann ist's entschieden – ich muß Paris verlassen,« sagte Peter, indem er aufstand und in seine Taschen griff, als ob er das Geld für die Überfahrt abzählen wolle.

»Das ist zu viel! Zu viel!« sagte er, im Zimmer auf und ab gehend. »Ich weiß ja, daß ich ein Narr war, aber Sie, Sie waren nüchtern, Sie hätten mich beschützen sollen vor mir selbst, alles aufbieten, um mich zu verhindern, daß ich mich in der Verfassung vor – vor Ihrer Tante bloßstellte.«

»Aber Sie haben sich nicht bloßgestellt vor meiner Tante! Wie kommen Sie nur darauf?«

»Ich war also nicht in Passy heute nacht?«

»Keine Rede.«

»Ja, aber … wie komme ich dann dazu, einen Sturm erregt zu haben in Passy?«

»Das weiß ich wahrhaftig selbst nicht,« sagte Frisson, dem seine Äußerung von vorhin gänzlich entfallen war, der sich aber plötzlich darauf besann, daß sie ja der Köder hätte sein sollen, um seinen lieben Freund in die Falle zu locken. »Es müßte denn durch Ihre angenehme Erscheinung geschehen sein, denn meine Cousine Magdalene brennt förmlich darauf, Sie kennen zu lernen, und meine Tante desgleichen.«

»Großer Gott, das ist ja sehr liebenswürdig von diesen Damen, sehr freundlich, aber woher wissen sie denn, wie ich aussehe, daß ich überhaupt auf der Welt bin?«

Frisson war verblüfft, aber sofort kam ihm ein erleuchteter Gedanke.

»Sie müssen durch Cäcilie von Ihnen gehört haben, natürlich, natürlich! Die hat ja auch immerzu von Ihnen gesprochen – wie sagte sie doch gleich? O ja! Sie fragte, wie es meinem entzückenden Freund gehe, dem Herrn Alabaster! Sie erinnern sich doch dieser Cäcilie?«

Der Name dieser Zauberin berauschte Frisson derart, daß er Verstellung und Arglist in den Wind schlug und gestikulierend wie ein wahnsinnig gewordener Affe in die Worte ausbrach: »O mein Lieber, es hilft ja nichts, wenn ich's auch verheimlichen wollte – ich bin verschlungen! Wer verschlingt mich? Cäcilie? Ja, Cäcilie! Es ist, als ob ein Schmetterling sich auf unsre Hand niederließe und man plötzlich die Entdeckung machte, dieses Schmetterlings Gefangener zu sein, als ob man die Hand ausgestreckt hätte, eine Rose zu berühren, und diese Rose schlänge sich plötzlich um unser Handgelenk, wüchse mit Zauberkraft, den Arm umrankend, an uns empor, sich an die Stelle des Herzens drängend, den Mund mit ihren Blüten füllend, daß er überströmte nicht von Worten, sondern von Rosenblättern, die sich als Lieder in die Weite schwingen und aller Welt zuflüstern: Cäcilie, Cäcilie, Cäcilie! Das ist die Liebe. Ich habe nie daran geglaubt bisher.«

»Das ist furchtbar,« sagte sich Peter, der verzweiflungsvoll im Zimmer auf und ab ging, denn dieser Rhapsodie zu lauschen und dabei kühl und gelassen zu erscheinen, war keine Kleinigkeit.

»Ich habe nie daran geglaubt,« wiederholte Frisson, »denn verliebt war ich schon oft, doch ein paar Stunden darauf würde ich keinen Hosenknopf mehr um das Mädchen gegeben haben. Aber bei der ist's anders! Haben Sie ihre Augen bemerkt?«

»Ihre Augen? Ja, ich glaube … ich besinne mich darauf …«

»Sie sind mit Blindheit geschlagen! Das ist ja nicht Ihre Schuld, denn Sie haben das beste Herz, aber Sie sind eben ein Angelsachse. Ihr seht nur nach einem bei den Mädchen, nach den Knöcheln, gerade wie beim Gaul nach den Fesseln. Sind die Fesseln und die Knöchel in Richtigkeit, so kauft ihr das Pferd oder das Mädchen. Ich habe mir sagen lassen, daß in Smithfield – oder war's Mayfair? – Mädchen verkauft werden gerade wie Pferde. Man sieht nach ihren Zähnen, ihren Fesseln, um die Augen schert sich niemand, und was die Herzen betrifft, nun die untersucht ein Tierarzt und stellt ein Zeugnis darüber aus, das man mit der Quittung und dem Trauschein zusammenheftet. Dann führt Herr Goddam die Gemahlin nach Haus und spannt sie am andern Tag vor den Pflug. Ach, mein Lieber, Ihr könnt Kanonen gießen, Kriegsschiffe bauen, Geld verdienen, aber von der Liebe verstehet ihr nichts. Ihr werdet eines Tags die Welt beherrschen und von der Höhe eines gußeisernen, mit Dampf geheizten, mit Kugeln bekrönten und mit einem Sicherheitsventil für eure überschüssige Größe versehenen Parthenon hinabblicken auf eine unendliche Fabrikstadt mit eisernen Straßen, eisernen Männern, Weibern aus Messing, Kindern aus Zinn, Gärten, worin nichts wächst als Kohl, Kohl, gedüngt mit den Überresten der romanischen Völker, mit toten Nachtigallen und verwelkten Rosen.«

»Jawohl, jawohl,« sagte Peter, immer noch auf und ab gehend und erfreut über diesen Wechsel des Gesprächsstoffs, der ihm Zeit ließ, mit sich ins reine zu kommen, ob er freimütig erklären solle: »Ich liebe Cäcilie auch,« oder seine Gefühle verheimlichen. Wenn ein schönes Mädchen uns vom Fenster aus zulächelt, uns die Hand drückt und uns einem andern gegenüber als einen »entzückenden Freund« bezeichnet, so ist es zum mindesten verdrießlich, diesen andern mit Besitzermiene für sie schwärmen zu hören, besonders wenn dieser andre weder hübsch, noch gut gekleidet und obendrein ein Franzose ist.

Und doch hätte er um die Welt Frisson nicht sagen mögen: »Cäcilie hat mir im ersten Augenblick, als sie mich sah, zugelächelt und mir Grund genug gegeben, mir einzubilden, daß ich ihr – hm – nicht ganz gleichgültig sei,« denn das hieße Frissons Gefühle verletzen, und zwar tödlich. Außerdem würde er ihn sich damit zum Feind machen, und Frisson zum Feind haben, hieß sich den Zugang zu Cäcilie versperren. Anderseits war es aber auch nicht ehrenhaft, die Herzensergüsse eines Nebenbuhlers, das Lallen einer neugeborenen Liebe, die man zu erwürgen entschlossen ist, schweigend mitanzuhören.

»Jawohl, jawohl,« sagte er, »Sie haben ganz recht, wir sind zu praktisch, viel zu praktisch … aber ich habe Ihnen ja noch gar nichts angeboten. Leider habe ich keinen Tabak, keine Zigaretten. Trinken Sie vielleicht ein Glas Bier? Ich kann klingeln, Johann wird es gleich holen …«

»Nein, ich danke,« erwiderte Frisson, eine Zigarre aus der Tasche ziehend und ansteckend. »Ich habe keinen Durst und will gleich wieder gehen, aber erst müssen Sie mir Ihren Beistand versprechen. Was ich verlange, ist nicht schwierig, Sie müssen nur mit mir nach Passy kommen …«

»Jetzt?«

»Nein, übermorgen. Wir sollen nämlich den Tee bei meiner Tante trinken, und es liegt mir sehr viel daran, daß Sie mit ihr verkehren. Ich möchte auch gern wissen, was Sie von meiner Cousine halten; Magdalene hat sich wunderbar nett gemacht, seit ich sie zuletzt sah. Schön kann man sie ja nicht nennen, aber sie ist gescheit und hat die Gabe, Männer anzuziehen. Haben Sie nie beobachtet, daß geradezu häßliche Frauen solchen Zauber ausüben können? Überdies bin ich von Ihrem guten Willen abhängig, mein Bester, denn ich besuche ja meine Tante nur, wenn ich Geld brauche – wenn Sie mich begleiten möchten, so wäre das ein Vorwand, öfter zu kommen. Tun Sie mir den Gefallen, mein Lieber, spielen Sie ein- oder zweimal den liebenswürdigen Elefanten, und Sie haben mich zum Freund für immer! Außerdem sind Sie wie geschaffen zum Weiberbesieger, ein halbes Jahr Pariser Leben und eine Pariserin wie Magdalene als Übungsfeld sind alles, was Sie brauchen. All diese Anziehungspunkte biete ich Ihnen, und Sie brauchen nur in einen Omnibus zu steigen, um ihrer habhaft zu werden. Ob irgend ein andrer großmütig genug wäre, einem Wolf in Schafskleidern wie Sie freie Birsch bei seinen eigenen Verwandten zu gewähren? Denn ein Wolf sind Sie, daß Sie's nur wissen! Erst gestern sagte Carabin zu mir: ›In dieses Alabasters Augen liegt ein Don Juan.‹ Das soll kein Vorwurf sein, denn was können Sie dafür, daß die Natur sie so geschaffen. Also denn, kommen Sie mit oder nicht?«

Peter Alabaster streichelte sein Kinn.

»Die Sache liegt nämlich so: wenn Cäcilie reich wäre, würde ich einfach zu meiner Tante sagen: ›Ich heirate sie,‹ und dann wär's abgemacht. Nun ist sie aber arm und obendrein würde man die Heirat nicht ›standesgemäß‹ finden. Ihr Vater, der früher sehr vermöglich war, hat vor einiger Zeit Bankrott gemacht, und nun ist sie als Kinderfräulein im Dienst bei meiner Tante.«

»Was?«

»Wie ich sagte,« versetzte Frisson, beinahe weinerlich. »Ich traf sie auf der Straße – den Kinderwagen schiebend.«

Alabasters Gefühle für Cäcilie erfuhren eine bemerkenswerte Wandlung der Farbe. Das Teekleid und die durchbrochenen Strümpfe, alles, was seine Flamme zur Dame gestempelt hatte, verschwand; er sah sie des Putzes bar als Dienerin vor sich. Aber dieser Abstieg auf der Gesellschaftsleiter schwächte seine Leidenschaft nicht ab, sie wuchs im Gegenteil, denn seine Dulcinea erschien ihm nun erreichbarer.

»Den Kinderwagen schiebend!« wiederholte der Dramatiker.

»Den Kinderwagen schiebend,« ließ sich Peter wie ein Echo vernehmen, denn er fühlte, daß die Klugheit irgend eine Bemerkung harmloser Art von ihm erheische.

»Es hätte mich gar nicht so erschüttert,« fuhr der andre fort, »wenn es nicht der Kinderwagen dieses greulichen kleinen Montmorency gewesen wäre. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie unausstehlich mir dieses Kind ist. So oft es mich sieht, brüllt es los. Und weshalb? Das weiß der liebe Himmel! Vermutlich angeborener Widerwillen. Ich habe den Bengel seine Finger zählen sehen, gerade wie wenn er jetzt schon an den Fingern den Profit ausrechnen wollte, den er später einmal im Geschäft machen wird; ich habe beobachtet, daß er meinen Anzug mit einer Art von höhnischem Grinsen musterte. Sagen Sie nichts dagegen! Wenn dieses Kind sprechen könnte, Sie würden sich entsetzen; es ist gar kein Kind, es ist ein kondensierter alter Jude! Doch lassen wir den Jungen und bleiben wir bei der Sache – Sie kommen also mit, nicht wahr?«

»Gewiß,« sagte Peter. »Was ich für Sie tun kann, werde ich mit Freuden tun. Ich kann's Ihnen ja nie genug danken, wie Sie heute nacht für mich gesorgt und mich nach Haus gebracht haben.«

Frisson drückte dem Freund die Hand.

»Ich muß machen, daß ich fortkomme, denn Herr Prud'homme harrt der Erlösung. Ich habe ihn unserm Hausmeister übergeben – dabei fällt mir ein, daß ich ihm etwas Papageienfutter mitbringen muß, um ihn gnädig zu stimmen. Er flucht sonst noch acht Tage lang, denn dem Hausmeister als Pfand überlassen zu werden, ist ihm unerträglich, es verletzt seine persönliche Würde. Sein Magen und sein Selbstgefühl, verbunden durch ein ziemlich mürrisches Temperament, sind ja alles, was der arme Herr Prud'homme Seele nennen kann.«

Damit ging Frisson ab. Peter Alabaster aber verließ bald darauf wohlrasiert und sorgfältig angezogen gleichfalls seine Wohnung, um die Barnaves zu besuchen und sich durch den Dunstkreis dieses ehrbaren, nüchternen Haushalts von den Ausschweifungen der vergangenen Nacht läutern zu lassen.


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