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Drittes Kapitel.
Eine Gesellschaft bei Frisson

Nachdem Herr Peter Alabaster der Jüngere im Grand Hôtel de la Haute Loire am Boulevard Raspail ein Zimmer bezogen, seine Bücher ausgepackt, Kollegien belegt und den Louvre besucht hatte, was ihn drei Tage lang in Anspruch nahm, fand er Zeit, nachzudenken, und im selben Augenblick siel er der Melancholie anheim.

Ein Anfall von Heimweh hatte sich eingestellt, von Heimweh schlimmster Art, dem der Umstand, daß er überhaupt keine Heimat hatte, durchaus keinen Abbruch tat.

Daß er nicht rauchte, verschlimmerte den Fall noch.

Er wunderte über die Seine und trieb sich auf den großen Boulevards herum. Ach, ein Mensch, mit dem er hätte sprechen können! Er saß in Cafés, trank Vichywasser und dachte sich aus, daß er unverzüglich nach Amerika zurückkehren wolle. Statt dessen ging er wieder in seinen Gasthof, und nach einer halben Stunde von dort wieder nach den großen Boulevards. Wer Heimweh hat, muß sich Bewegung machen; es ist die einzige Krankheit, für die Ruhe nicht zuträglich ist.

Oft und viel wurde Peter auf seinen Wanderungen von Fremdenführern angeredet, hie und da auch von jenen schurkischen Bauernfängern, die sich in der Rivolistraße und an den Toren des Louvre herumtreiben und sich erbieten, jungen Männern Paris und andres zu zeigen. Aber Peter bedurfte keines Führers, und der einzige Anblick, wonach er sich sehnte, war der von Sandy Hook. Voll des Jammers, der seiner Unschuld zum Beschützer wurde, ging er an ihnen vorüber, das sanfte Gesicht von Trauer erfüllt, die kurzsichtigen Augen in unerreichbare Fernen gerichtet, ein Bild des Wohlwollens und der Schwermut mit goldgefaßter Brille.

Am sechsten Morgen nach seiner Ankunft in Paris kam ihm ein Einfall. Zu rastlos und unbefriedigt, um seine Studien im Spital zu beginnen, beschloß er, die beiden Franzosen aufzusuchen, die ihm sein Vater empfohlen hatte – die Herren Carabin und Frisson. Er nahm sich vor, am Nachmittag hinzugehen, und als der Nachmittag gekommen war, bestellte sich Peter eine Droschke und fuhr in einem nagelneuen Gehrock, hohem Hut, Lackschuhen und einen Spazierstock mit Silberkrücke in der Hand nach der Rollinstraße. Da es ein feierlicher erster Besuch war, hatte er auch seine Visitenkartentasche bei sich.

Es muß hier eingeschaltet werden, daß in den zweifelhaften Verhältnissen des Carabin-Frissonschen Haushalts ein Umschwung eingetreten war. Das »Gelbe Theater« hatte wunderbarerweise die von Herrn Karl Frisson eingereichte Komödie gelesen und zur Aufführung angenommen.

Vor sechs Monaten war diese Nachricht in den Carabin-Frissonschen Dachstock gedrungen und hatte dort große Verheerungen ungerichtet. Frisson hatte in seiner Freude das Tintenzeug an die Decke geworfen, wobei das Tintenzeug zerschellt und die Zimmerdecke bespritzt worden war. Der Schadenersatz von fünf Franken, den der Hausherr forderte, war heute noch nicht bezahlt. Frisson hatte sich ferner eine himmelblaue Krawatte gekauft, weil himmelblau ihn an Italien erinnerte, an Neapel und die blaue Flut, die an die Marinella und Capri schlägt – ach Capri!

Carabin hatte gelassen seine Stiefel aus den Klauen des Pfandverleihers erlöst und sich betrunken. Dann war der Rückschlag eingetreten. Ach! Zwischen der Annahme eines Stückes beim Gelben Theater und seiner Aufführung liegt oft ein recht langer Zeitraum. Jeden Morgen war Frisson überzeugt, daß sein Stück in der nächsten Woche, jeden Abend, daß es nie das Licht der Rampen erblicken würde!

Oder es wurde aufgeführt und fiel durch, nicht weil das Stück Mängel hatte, sondern weil so mancherlei Dinge passieren konnten. Ein Krieg mit England zum Beispiel oder mit Deutschland. Von Angst erfüllt, begann Frisson die politischen Nachrichten im »Kleinen Journal« gründlich zu studieren. Sogar ein Krieg zwischen England und Rußland konnte die Teilnahme des Publikums von seinem Stück ablenken, falls er gerade um die Zeit der ersten Aufführung ausbrach.

Ferner konnte es auch sein, daß er selbst sterben würde, kurz, er war überzeugt, daß irgend etwas ihm Freude und Ruhm vergällen werde, und seine Hypochondrie blühte mehr als je. Vom Anfang seiner medizinischen Laufbahn an hatte er die meisten Krankheiten, die in den Büchern geschildert waren, gefühlt, und nun machte er sie von Zeit zu Zeit alle noch einmal durch.

Die Folge davon war, daß ihm die Brotarbeit fast unmöglich wurde. Carabin geriet darob in Verzweiflung, Verzweiflung erfaßte den Hausmeister, den Flickschuster, den Tabakhändler, denen sie Geld schuldig waren, und Herr Grognard, der Hausbesitzer, kam keuchend und pustend die Treppen herauf und drohte, die Freunde an die Luft zu setzen. Dann griff Frisson wieder zur Feder und vergaß seine Krankheiten, und Carabin ging aus, um junge Gemüse oder Knoblauch auf Borg zu kaufen.

Trotz alledem spielte ihnen die Posse, wie Lacenaire sagte, böse Possen. Frisson zehrte in Erwartung und Enttäuschung zum Skelett ab und hatte sich einen Husten beigelegt, der Carabin nachts am Schlafen verhinderte.

An dem Tag, als Peter Alabaster seinen ersten Besuch machte, waren diese Zustände auf einem gewissen Höhepunkt angelangt. Frisson, den sein Genius trieb, immer das unrechte Ding zur unrechten Zeit zu tun, hatte am Abend zuvor Einladungen zu einer Gesellschaft erlassen, war seelenvergnügt ins Bett gegangen und mit dem Starrkrampf aufgewacht. Es war eigentlich nicht Starrkrampf, sondern genau besehen ein steifer Hals. Da Starrkrampf aber mit Steifigkeit in den Halsmuskeln anzufangen pflegt und er sich drei Tage vorher in den Finger geschnitten hatte, so war diese Diagnose nicht ganz unbegründbar. Lacenaire, der über ihnen wohnte und von der Medizin zur Mathematik übergegangen war, brachte die Einspritzung eines Gegengifts in Vorschlag.

»Ich gehe schnell zu Roux,« sagte er, »der leiht mir wohl eine Spritze. Sicher ist sicher, und auf ein bißchen Schmerz kommt's ja nicht an.«

Aber Frisson lehnte diese Behandlung ab. Im Grunde glaubte er selbst nicht an seine Krankheit – kein Hypochonder glaubt daran –, der Gedanke daran machte ihn nur elend und verschaffte ihm also die Befriedigung, wonach die Hypochondrie verlangt. Angebot und Nachfrage, diese Losungsworte der Geschäftsleute, sind auch Losungsworte für das Reich der Nerven. Ist eine Nachfrage da, so findet sich ein Angebot, selbst wenn der Artikel auf Kredit von der Phantasie bezogen werden müßte. Irgend etwas in Frisson verlangte nach irgend einem Anfall. Die Phantasie lieferte einen Anfall von Starrkrampf, und das Etwas in Frisson war befriedigt.

Das war vielleicht der Grund, weshalb er dem Tod in schrecklicher Form gefaßt entgegensehen und sogar Zigaretten rauchen konnte. Die Gesellschaft, die er geladen hatte, versprach dagegen einen großen Mißerfolg, denn die dadurch gebotene Nachfrage nach belegten Brötchen, Bier und Tabak fand keine Befriedigung.

»Ich bekomme nichts,« sagte Carabin, zwanzig Minuten nach zwei Uhr mit leerem Korb zurückkehrend, wobei seine Hängebacken von der Anstrengung des Treppensteigens leise zitterten. »Ich war überall, aber unser Kredit ist rein aufgebraucht. Wie wir unsre nächste Mahlzeit beschaffen sollen, ist ein schwierigeres Problem als die Quadratur des Kreises. Zwölf hast du eingeladen, wie du sagst. Wozu? Zum Essen? Zum Trinken? Ich weiß nicht, was sie essen werden, falls sie nicht einander anknabbern, weiß nicht, was sie trinken sollen, wenn nicht ihr eigenes Blut!«

»Geh noch einmal ins Café, lieber Hans,« bat Frisson mit schwacher Stimme, indem er seinen Hals betastete, »und sage ihnen, daß es meine letzte, meine allerletzte Gesellschaft im Leben sein wird, daß …«

»Ich habe der Frau Fromont gesagt, daß wir ernstlich fürchten müßten, du habest den Starrkrampf,« erwiderte Carabin, sich die Pfeife stopfend, »und daß dein ganzes Herz daran hänge, die Freunde noch ein letztes Mal um dich zu versammeln, sie hat aber nur gelacht. ›Wenn er den Starrkrampf hat,‹ gab sie mir zur Antwort, ›braucht er ja nichts zu essen. Vermutlich hat seine Börse den Starrkrampf, nicht er.‹ Natürlich wollte ich ihr die Rücksichtslosigkeit solcher Bemerkungen klar machen, sie befahl mir aber, das Lokal zu verlassen. Einer Frau gegenüber, der man Geld schuldig ist, sind Gründe machtlos, diese Erfahrung habe ich schon mehrmals im Leben machen müssen. Deine Verrücktheit ist an allem schuld – du bist wirklich nachgerade verrückt! In den letzten sechs Wochen hast du drei Krankheiten gehabt, erst Lungenentzündung, dann Typhus, nun den Starrkrampf. Ich glaube übrigens gar nicht an diesen Starrkrampf!«

Auf diese Bemerkung hin fuhr Frisson wütend im Bett auf, Carabin schlurkte furchtsam in den Alkoven und Herr Prud'homme, der Papagei, ließ den Knochen fallen, an dem er gepickt hatte, um in Frissons Schimpfen, das einem wütenden Waschweib alle Ehre gemacht hätte, um die Wette einzustimmen.

In diesem Augenblick stieg Peter Alabaster an der Ecke der Rollinstraße aus seinem Wagen und begann die Suche nach den Unbekannten. Ein kleiner Laden, wo Tabak und Postwertzeichen verkauft wurden, erschien ihm als der geeignete Ort, um die nötige Auskunft zu erlangen. Die rundliche Frau hinter dem Ladentisch lachte ihm ins Gesicht, als er in zierlichstem Französisch nach den beiden Herren fragte.

»Ob ich Herrn Frisson kenne? Meiner Seel', ich kenne ihn wohl, Herrn Frisson, den Theaterdichter!«

Das schien Peter nicht zu stimmen, und er wandte ein, daß der Gesuchte Medizin studiere und mit einem Herrn Carabin zusammenlebe.

»Versteht sich, der ist's, nur daß der Herr Carabin Medizin studiert, ein Mann von sechzig oder siebzig Jahren, wenn er auch erst wie vierzig aussieht. Der Knoblauch erhalte ihn so jung, sagt er – ein Mann mit fetten Hängebacken und unersättlichem Magen, nicht wahr?«

Um weiteren Schilderungen zu entrinnen, erklärte Peter die Beschreibung für zutreffend und begab sich in das ihm gewiesene Haus. Ein Student der Medizin von sechzig oder siebzig Jahren! Die Frau mußte wirr im Kopf sein.

»Im dritten Stock,« lautete der Bescheid des Hausmeisters, der auch zu lachen angefangen hatte, als Peter Frissons Namen nannte. Es war aber ein Lachen, das so wenig lustig klang als die Hammerschläge auf einen Sargdeckel, ein Lachen, das nach getäuschten Hoffnungen, unbezahlten Rechnungen, Groll gegen das Schicksal und Verbitterung klang. »Dritter Stock. Sie finden ihn zu Hause, er hat nämlich den Starrkrampf.«

»Den Starrkrampf?« rief Peter entsetzt.

»Ja, mein Herr, den Starrkrampf. Sie können ihn schon unten an der Treppe schimpfen hören; er zankt sich mit Herrn Carabin! O Gott, den Starrkrampf!«

Daraufhin vertiefte sich der Wackere wieder in sein Tageblatt, als ob der Fremde vom Erdboden verschwunden wäre, und dieser stieg in etwas verblüfftem Zustand die Treppen hinauf.

Frisson hatte sich mittlerweile in immer größere Wut gesteigert; die Hände in den Hosentaschen, rannte er im Zimmer hin und her, gegen Gott und die Welt, seine Tante und Frau Fromont lästernd. Aus dem Alkoven aber erklangen Carabins mit dumpfer Stimme gesprochene Gegenreden.

»Habe ich die Welt geschaffen? Habe ich deine Tante gemacht? So nimm doch Vernunft an, Karl. Bin ich etwa für deine Tante verantwortlich? Nein. Nun so mache ihre Schlechtigkeit nicht mir zum Vorwurf. Mein Gott! Ich würde ja mit Vergnügen deine Tante in Frau Fromont, Frau Fromont ins Weltall und das Weltall in den Hades stopfen, wenn es nur einen solchen Ort gäbe, um derartiges Kehricht zu verbrennen.«

Plötzlich wurde an die Türe geklopft und die stürmische Szene brach jäh ab. Frisson zog die Hände aus den Hosentaschen, der Papagei stellte sein Fluchen ein und kratzte sich den Kopf und Carabin kam in dem Augenblick, als Peter, in einer Hand den Hut, in der andern den Stock mit dem Silbergriff, ein unsicheres Lächeln auf seinem liebenswürdigen Gesicht, über die Schwelle trat, aus dem Alkoven herausgeschlurkt.


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