Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel.
Die Barnaves

Der folgende Tag war ein Sonntag und Peter Alabaster wohnte dem Gottesdienst in der amerikanischen Kirche bei.

Er war mit einem starken Bewußtsein von Entgleisung aufgestanden. Noch schien der Geist des vertraulich plaudernden Frisson an seinem Arm zu hängen; Carabin mit dem leeren Korb und hinter Carabin der schnarchende van Raalte standen vor ihm wie der schwarze Mann in den Kindergeschichten. Dann war er sich auch bewußt, mit einem Clown in einer Garküche gespeist zu haben, und erinnerte sich, daß dieser nicht sehr ehrbare Frisson ihn zum Abschied geküßt und daß er ihm das Versprechen gegeben hatte, bald wieder zu kommen.

All diese Erinnerungen wirkten im kühlen klaren Licht eines Aprilmorgens bedrückend auf Peter Alabaster. Er war durchaus kein Vornehmtuer, schon deshalb nicht, weil er ein vornehmlich gutes Herz hatte, aber er hatte so seine kleinen Ansichten über Kleinigkeiten, zum Beispiel über Kleidung und die Notwendigkeit, seine Rechnungen zu bezahlen. Diese Lebensanschauung war für Hans Carabin in seiner aus einer Papageienkäfigdecke verfertigten Weste schwer verdaulich: daß Carabin nichts dabei fand, mit einem Korb auszugehen, Frissons Rock und van Raaltes Geruch, das waren lauter Dinge, die nicht in seinen Kram paßten. Der anständigste von der ganzen Bande war ja entschieden Herr Prud'homme, und sogar der fluchte.

»Und doch, und doch,« brummte Peter unterm Ankleiden vor sich hin, »und doch ist's schade, denn sie waren alle sehr nett, bis auf Sangarelle …«

Dann fiel ihm aber ein, daß gerade Sangarelle der einzige von der Gesellschaft war, der seinem Anstandsbegriff entsprach, und nachdem ihm dies eingefallen war, gab er das Denken überhaupt auf und zog sich vollends an.

In der Kirche kam er neben einen großen eckigen Herrn von etlichen fünfzig Jahren mit glattrasiertem Gesicht zu sitzen, der die Choräle eifrig und stark durch die Nase mitsang, was so wehmütig klang, wie wenn der Winterwind durch die Straßen von Nantucket heult. Er hatte den jungen Fremdling freundlich ins Gesangbuch einsehen lassen, und als beide nach dem Gottesdienst unter der Kirchentür stehen blieben, um einen Aprilschauer abzuwarten, stellten sie sich gegenseitig vor.

Der große Mann hieß Barnave, Benjamin B. Barnave, und war Vertreter der Nähmaschinenfabrik in Toga, der sein Geschäftslokal auf dem Boulevard des Italiens hatte. Er teilte diese Tatsachen in einer kleinen Ansprache mit, die würdig gewesen wäre, auf eine Geschäftskarte gedruckt zu werden. Es war eine von Herrn Barnaves Eigentümlichkeiten, seine Gedanken auf diese Art zu äußern, und die Gedanken entsprachen seiner Redeweise so vollständig, daß man immer das Gefühl hatte, seine Sätze müßten auf einem Kistendeckel stehen oder um eine Zinnbüchse herumlaufen. Daß sie einem Roman zur Zierde dienen würden, hätte niemand behaupten können, weshalb sie auch hier nicht angeführt werden.

Peter erklärte seine eigene Persönlichkeit in bescheidener Weise, und dann stellte sich's heraus, daß Herr Barnave und Alabaster der Ältere Bekannte waren.

»Sie kennen meinen Vater?« rief Peter.

»Sicherlich kenn' ich ihn,« versetzte Herr Barnave, den jungen Mann freundschaftlich am Arm nehmend, um ihn zum Mittagessen in sein am Boulevard des Italiens gelegenes Heim mitzuschleppen.

Die Familie Barnave hatte ihre Wohnung über dem Geschäftsraum, wo die Nähmaschinen verkauft wurden. Das Wohnzimmer, das auch als Speisezimmer diente, war stattlich und gut eingerichtet. Verschiedene von den geradlehnigen, rohrgeflochtenen Schaukelstühlen, die eben genug schaukeln und nicht mehr, standen da und dort. Über dem Kamin hing das Plakat: »Ost oder West, to Hus is best!« Am Mittelfenster, vom Boulevard aus vortrefflich sichtbar, saß eine junge Dame in kirschrotem Kleid. Sie war aus Wachs gemacht und drehte vermittels des elektrischen Stroms, der zu Beleuchtungszwecken eingerichtet war, eine Nähmaschine. Heute aber tat sie das nicht, denn es war ja Sonntag. Herr Barnave stellte sie als »die Stumme« vor, erklärte ihren Mechanismus und rühmte ihre Vorzüge als Aushängeschild.

»Es wäre schade gewesen, das breite Fenster unbenutzt zu lassen,« fügte er erläuternd bei, »darum habe ich sie hierher gesetzt. Ihr Unterhalt kostet nichts und sie bringt ihre zehn, ja zwanzig Dollars am Tage ein, so wirksam ist sie.«

Zum Essen erschien Frau Barnave, eine magere Dame mit einem traurigen müden Gesicht, die, wie sie sagte, an chronischem Heimweh litt; außerdem litt sie an einer Abneigung gegen Paris. Das war nicht so verwunderlich, denn sie hatte keine Kinder und, wie sie sagte: »Wenn Benjamin fort ist, habe ich niemand, mit dem ich sprechen könnte, als die Stumme und meine Magd, die noch dümmer ist.« Sie äußerte ihre Gefühle in kläglich winselndem Ton und zog sich nach der Mahlzeit in ihr Zimmer zurück, um zu ruhen. Die beiden Herren setzten sich in die Schaukelstühle, Barnave rauchend und über Nähmaschinen redend, Peter der doppelten Aufgabe obliegend, die nahrhafte Mahlzeit zu verdauen und den Mitteilungen seines Gastfreundes zu folgen.

Heute konnte er in Ehrbarkeit schwelgen. Alles, was ihn umgab, machte unbedingt den Eindruck, bezahlt zu sein. Was für ein Gegensatz zwischen dem fetten Kanarienvogel in seinem blitzblanken Käfig und dem ruppigen Herrn Prud'homme, zwischen Barnaves tadellosem Tuchanzug und dem fadenscheinigen Rock, den Frisson mit so glücklicher Unbefangenheit trug. Trotzdem wurde ihm die Zeit hier sehr lang. Herr Barnave ging zwar von den Nähmaschinen zum Zolltarif über, was aber auch keine große Erfrischung war. Nachdem er dieses Thema erschöpft hatte, war es Zeit zum Nachmittagsgottesdienst geworden.

Nach dem Gottesdienst kehrten sie zu einer Art von geistlichem Tee nach dem Boulevard des Italiens zurück. Frau Barnave, die sich seit Mittag umgekleidet hatte, war in etwas heiterer Stimmung; sie öffnete ein Harmonium und man sang Choräle.

»Sie werden öfters kommen, nicht wahr?« sagte Barnave, als Peter sich verabschiedete. »Willkommen sind Sie immer, wir erwarten Sie jeden Sonntag. Wenn Sie mit Ihrer Wohnung nicht zufrieden sind, so könnte ich Ihnen ein Zimmer vermieten, das uns entbehrlich ist – fünf Dollars die Woche. Ob Sie dann auswärts essen, oder sich bei uns in Kost geben wollen, ist Ihre Sache. Überlegen Sie sich's.«

Peter versprach, es zu überlegen, und wanderte heimwärts. Auf der beleuchteten Brücke über die Seine blieb er eine Weile stehen und blickte ins Wasser hinunter. Er war in gedrückter Stimmung. Ob die Nähmaschinen, die Kirche, die Stumme oder das Essen auf ihm lasteten, wußte er selbst nicht recht, aber etwas lastete auf ihm. Er dachte an die Morgue, das Elend der Großstadt, seine Verlassenheit und sein einstiges Ende.

Mit einem Male fiel ihm Carabin ein. Wie ihn Frisson wohl die Treppen hinaufgebracht haben mochte, ihn und den leeren Korb? Über diesen Gedanken vergaß er die Morgue, den trübseligen Klang des Harmoniums und die Stumme, ging in seinen Gasthof zurück und legte sich ins Bett. Am andern Morgen wohnte er zu früher Stunde einer Vorlesung in der Salpetrière an, denn eine Vorlesung wöchentlich in der Salpetrière zu hören, stand auf seinem Programm. Nach der Vorlesung sah er sich am Boulevard Raspail nach möblierten Zimmern um, fand auch ein leidlich eingerichtetes Schlaf- und Wohnzimmer zum Preis von achtzehn Franken die Woche, alles inbegriffen. Was nicht inbegriffen war, stellte sich nach acht Tagen heraus, und die Rechnung belief sich eben auch auf fünfundzwanzig Franken. Das war aber immerhin nicht zu teuer, und seine Wohnung war gemütlicher und freundlicher, als möblierte Wohnungen südlich von der Seine in der Regel sind.

Am Dienstag ging er gegen Mittag zu Frisson. Er wollte einen Verdauungsbesuch machen, wie man in Frankreich sagt.


 << zurück weiter >>