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Zwanzigstes Kapitel.
Wie Frisson die Niederlage erträgt

Und Frisson? Er war natürlich vernichtet, sowohl durch Cäcilie, als den »Bourgeois«? Ja, aber nur für zehn Minuten.

»Ich wußte es ja, daß etwas passieren würde,« sagte er, als Lacenaire und Panckoucke, der stark verheiratete Exstudent der Medizin, ihn eilends vom Schauplatz des Unglücks wegschleppten. »Aber ausgepfiffen wurde der ›Bourgeois‹ wenigstens nicht! Der Radau wäre zwar die glänzendste Reklame für die zweite Aufführung, nur daß mein Theater ein Trümmerfeld ist und keine zweite ankündigen kann! Und daß de Joy das Unheil anrichten mußte, er, mit seiner Angst vor Lärm und Licht! Jetzt hat er selbst Lärm genug gemacht und Licht auch, denn um ein Haar wäre die Bude auch noch abgebrannt … Ich habe meinen Hut bei der Geschichte verloren.«

»Und ich meine Uhr,« bemerkte Panckoucke.

»Mein Rock ist am Rücken zerrissen,« sagte Lacenaire, »und es hat nicht viel gefehlt, so wäre ich um meinen Regenschirm gekommen.«

»Ich sah, wie de Joy von zwei Polizisten abgeführt wurde,« erzählte Frisson. »Er trug eine Hose, die nur noch ein Bein hatte und bat seine Schergen flehentlich, ihm doch sein anderes Hosenbein zu suchen. Ich würde mich totgelacht haben, wenn ich nicht gerade geweint hätte.«

»Haben Sie Carabin gesehen?« fragte Panckoucke. »Zwei junge Leute hatten ihn auf ihre Schultern gehoben und benützten ihn als eine Art von Sturmbock. So wahr ich lebe, ich sah, wie er in dieser Lage in die hintern Rocktaschen des Vordermanns griff, ein Taschenbuch und ein Sacktuch herauszog und dazu fortwährend schrie: »Hilfe! Mörder! Diebe!«

»Ei, dort ist ja Carabin!« rief Frisson, auf eine im Mondschein vor ihnen hinwandelnde Gestalt deutend. »Sein Gang ist's, aber – Gott steh mir bei! – so angezogen habe ich ihn noch nie gesehen!«

Sie beschleunigten ihren Schritt und holten den gemächlich Dahinschlendernden ein, der in der Tat Carabin war. Er trug einen Überzieher mit Pelzkragen und Manschetten, wie Schauspieler sie mit Vorliebe auf der Bühne tragen, auf seinem Kopf saß ein nagelneuer Zylinderhut, unterm Arm hielt er eine Violine und die Taschen seines Überziehers waren aufgebauscht von Beute. Als er Schritte hinter sich hörte, schickte er sich an, auf die andre Seite der Straße zu gehen.

»Ach Gott, Frisson!« rief er, die Unvermeidlichkeit dieser Begegnung erkennend. »Nun, wie ist's dem ›Bourgeois‹ ergangen?«

»Wie's ihm ergangen ist? Zum Teufel ist er. Aber weshalb fragst du nur? Du hast's ja mitangesehen. Wo in aller Welt hast du den Pelzrock, die Fiedel und die Angströhre her?«

»Ach Gott, Frisson, dein Stück wird doch nicht durchgefallen sein?«

»Bist du verrückt? Du hast doch den Skandal gesehen – oder bist du besoffen?«

»Ich habe nichts gesehen …«

»Bist du blind? Dann mußt du aber auch gleich taub sein! Wenn du nichts gesehen hast, mußt du doch etwas gehört haben.«

»Ich war gar nicht dort.«

»Nicht dort!« sagte Panckoucke. »Und ich sah Sie doch auf der Bühne Kulissen einreißen!«

»Ich habe einen Freund auf den Westbahnhof begleitet,« behauptete Carabin, ohne sich aus dem Konzept bringen zu lassen.

»Aber höre einmal,« sagte Frisson, »das ist ja der Überzieher, den der Graf in meinem ›Bourgeois‹ tragen wollte; ich kenne ihn von den Proben her.«

»Er gehört dem Freunde, der eben abgereist ist und ihn mir in Gewahrsam gegeben hat.«

»Ein merkwürdiger Geselle muß dieser Freund sein,« bemerkte Lacenaire. »Im Sommer in einem Pelzmantel auf den Bahnhof zu gehen und eine Violine mitzuschleppen …«

»Ehrlich gestanden, ich war im Theater,« unterbrach ihn Carabin. »Sie haben mir den Rock vom Leib gerissen, und da griff ich nach diesem abgeschmackten Kleidungsstück, um meine Blöße zu decken. Wir sind doch nicht auf den Südseeinseln, wo der Mensch nackt oder nur in Hosen ausgehen kann.«

»Und die Violine?« fragte Frisson, sich die Seiten haltend vor Lachen.

»An die habe ich mich angeklammert wie der Ertrinkende an den Strohhalm – ohne mir dessen bewußt zu sein. Erst auf der Straße bemerkte ich, daß ich sie noch im Arm hatte. Nun werde ich sie als Andenken an diesen Abend aufheben!«

»Und Ihr Hut?«

»Was für ein Hut?«

»Der Hut, den Sie auf dem Kopf haben.«

Carabin nahm den Zylinder ab und betrachtete ihn mit höchstem Erstaunen.

»Ja, mein Hut ist das nicht! Großer Gott! Nun habe ich meinen Hut verloren! Das kommt davon, wenn man der Narr ist, in solch ein Schauspiel zu gehen. Mein Hut fort, mein Rock fort! Wundert mich nur, daß sie mir die Stiefel gelassen haben.«

»Strümpfe haben sie dir auch gelassen,« bemerkte Frisson, der heimlich in Carabins linker Rocktasche gekramt hatte. »Das sind ja die Strümpfe, die das Milchmädchen im ›Bourgeois‹ tragen sollte …«

Er zog ein Paar lange rosaseidene Strümpfe mit goldgestickten Zwickeln heraus, und ein nachfolgendes Bündel entpuppte sich als eine geblümte seidene Weste.

»Und, so wahr ich lebe, die Weste des ›Bourgeois‹ selbst – jetzt, in diesem Augenblick, im vierten Akt würde er damit auftreten, wenn nicht – ach, es ist zum Weinen! Herrgott, Hans, du hast ja alle Requisiten meines Stücks eingesackt. Vielleicht auch die Kulissen?«

»Ich habe keine,« versetzte Carabin gereizt, »und es ist an der Zeit, daß wir diese unziemliche Untersuchung beendigen. Ich bin nicht verantwortlich für den Inhalt der Taschen eines eilig aufgegriffenen Rocks. Weshalb sollte ich mir seidene Frauenzimmerstrümpfe aneignen? Trage ich etwa solche? Gut, dann schweigt. Sie haben mich Kulissen einreißen sehen, sagen Sie, und was habe ich sehen müssen? Sie, Panckoucke, einen verheirateten Mann und Familienvater sah ich den Posaunenbläser mit seinem eigenen Instrument über den Kopf hauen und Sie, Lacenaire, einen Mann der Wissenschaft, sah ich, allerdings vergeblich, an einer Gasröhre rütteln, um sie zu knicken und das Haus in Flammen zu setzen.«

»Großartig, so zu lügen!« rief Lacenaire. »Ich hatte mich unter einem Klappsitz verkrochen, bis auch dieser weggerissen wurde, denn Raufereien sind mir ein Greuel …«

»Und ich,« fiel Panckoucke ein, »kam überhaupt nicht in die Nähe des Orchesters.«

»Vielleicht waren's nur Fiebervisionen, was ich sah,« sagte Hans. »Untersuchungsrichter glauben aber nie an Visionen, lassen Sie sich das gesagt sein … Gute Nacht.«

Er stopfte Strümpfe und Weste wieder in seine Tasche, verbeugte sich gegen die Freunde und ging watschelnden Gangs durch eine Seitenstraße heimwärts.

»Alter Halunke!« sagte Frisson. »Natürlich packe ich morgen früh all die Sachen zusammen und schicke sie anonym zurück. Des armen alten Bourgeois' seidene Weste! Und jetzt um die Zeit sollte von Rechts wegen der Vorhang fallen, und mein Stück hätte eingeschlagen und ich würde Sekt trinken im Künstlerzimmer! Aber was liegt daran? Lachen wir!«

Tränen standen ihm auf dem Gesicht.

»Und trinken wir trotzdem Sekt!« rief Panckoucke, in dessen großem Herzen Mitgefühl und die eigene Lust nach einem Gelage die Angst vor seiner Frau überwunden hatten. »Ich habe den Gas- und Wasserzins für das Vierteljahr in der Tasche – hundert Franken! Die Vorsehung wollte, daß ich's zu bezahlen vergaß. Kommt, wir kneipen bei Pradon, bis wir seine rosafarbenen Wände grün sehen mit schwarzen Teufeln gemustert! Meine Frau – hol's der Kuckuck – die bleibt mir morgen auch noch.«

»Hundert Franken!« rief Frisson. »Ich habe fünfundzwanzig. Und du, Lacenaire?«

»Fünfzehn Centimes,« erwiderte Lacenaire, die Kupfermünzen nachzählend. »Ich will aber nicht zu Pradon, ich gehe lieber nach Hause und trinke ein Glas heiße Milch. Übrigens ist mein Rock hinten ganz zerrissen.«

»Du kannst dich ja mit dem Rücken gegen die Wand setzen,« sagte Peter, den Widerstrebenden mit fortziehend. »Ich kannte einmal einen, der so zerlumpt war, daß seine Hosen, sozusagen, hinten lückenhaft geworden waren. Er ging auf der Straße immer seitwärts, wie eine Krabbe, und drückte sich mit dem Rücken an die Mauern, Schaufenster waren sein Greuel, besonders die großen Spiegelglasscheiben mit hübschen Mädchen dahinter. – Da wären wir!«

In dem gedrängt vollen Café sprach man von nichts anderm, als von dem Skandal im ›Gelben Theater‹. Verschiedene Herren mit einem blauen Auge äußerten sich sehr entrüstet über die Roheit der Polizisten, und Lacenaire war nicht der einzige, der einen zerfetzten Rock trug. Frisson wurde sofort umringt, mit Beileid überhäuft und zum Helden des Tags gemacht – es kam einem Erfolg sehr nahe. War eigentlich ebensogut, bis auf den Geldpunkt. Aufsehen zu erregen, und dieses Aufsehen auszunützen, war Frissons Begriff von Erfolg im Leben, und das Aufsehen war ihm die Hauptsache, der Erfolg kam erst in zweiter Linie.

Im Getöse des Caféhauses stieg seine Stimmung wie das Barometer eines geplatzten Ballons. Die Lichter und Stimmen berauschten ihn; er war der Mittelpunkt, um den man sich drängte, und morgen mußte alles in den Zeitungen stehen.

Nach einiger Zeit riß er sich von seinen Verehrern los, um nach Lacenaire zu sehen. Der saß mit dem Rücken gegen die Wand, hatte ein Glas Zuckerwasser vor sich und eine Zeitung in der Hand. Neben ihm saß Panckoucke, eine geöffnete Flasche Bollinger vor sich, aber mit sehr verdrießlichem Gesicht.

»Ein angenehmer Kamerad, wenn man einmal fidel sein möchte,« sagte Panckoucke, mit dem Daumen nach Lacenaire hinwinkend. »Steckt den Kopf in ein Zeitungsblatt und trinkt Zuckerwasser. Sagt man etwas zu ihm, so grunzt er wie ein Schwein.«

Lacenaire hatte zu Ende gelesen, was ihn so sehr interessiert haben mußte, denn er legte die Zeitung hin, starrte aber nun wie ein Nachtwandler um sich.

»Nein, das hätte ich mir nie vorstellen können,« sagte er.

»Was?« fragte Frisson, sich an den Tisch setzend.

»Peter Alabaster wegen Diebstahls verhaftet …«

Lacenaire war ein Mann, der selten lachte, jetzt aber legte er sich plötzlich im Stuhl zurück, schob den Hut aus der Stirn, steckte die Hände in die Hosentaschen, drückte die Augen ein und lachte.

»Peter Alabaster wegen Diebstahls verhaftet!« rief Frisson. »Peter! Ach, das ist ein schlechter Witz!«

»Korsetten,« sagte Lacenaire. »Ein ganzes Dutzend! Mit Hilfe von – ach mein Gott!«

Ihm fiel jählings ein, daß Frisson ja auch mit Cäcilie Bonvalot verhängt war!

Frissons schäumende Neigung für Cäcilie war mit einem Male schal und sauer geworden, nicht durch ihren Verrat, sondern durch das eine Wort in ihrem für Peter Alabaster bestimmten Brief, das Wort vom »kleinen Frisson«. Er war in den Stiefeln fünf Fuß und sechs Zoll hoch, in seiner Einbildung sechs Fuß, und sie sagte der »kleine Frisson«. Das Wort verursachte ihm das nämliche Gefühl wie ein kratzendes Kohlenstäubchen im Auge. Die Liebe war beim Lesen dieses Briefes gestorben. War es Liebe gewesen? Hatte Cäcilie überhaupt die Macht, irgend einem Mann wahre Liebe einzuflößen? Das ist zweifelhaft.

Frisson stützte die Ellbogen auf den Tisch und las den Zeitungsbericht.

»Die Polizei machte infolge im Lauf der Woche erhaltener Anzeigen gestern abend einen sehr wichtigen Fang in Person einer notorischen Ladendiebin namens Luise Bompard, und eines amerikanischen Schwindlers, der den seltsamen Namen Alabaster zu führen vorgibt.

»Luise Bompard hat sich dem Vernehmen nach vor einem Monat als Kindermädchen in einer höchst achtbaren Familie, bei Herrn M. J. Bordelais, wohnhaft in Nummer achtzehn der Montmorencystraße, verdingt. Sie führte sich unter dem Namen Cäcilie Bonvalot ein und wies vortreffliche, natürlich gefälschte Zeugnisse vor.

»Von diesem friedlichen Haus aus hat das Fräulein im Zusammenhang mit einer Gaunerbande, deren Haupt dieser Amerikaner namens Alabaster zu sein scheint, die Läden von Paris und Passy ausgeplündert, wobei sie ihre Kundschaft mit achtenswerter Unparteilichkeit verteilte. Ihr Geschmack ist, der Verschiedenartigkeit ihres Raubs nach zu urteilen, so vielseitig, wie der einer Dohle.

»In möblierten Zimmern der Berg-Taborstraße, die Alabaster, angeblich für seine Schwester, gemietet hatte, wurden zwei umfangreiche Koffer gefunden, die Fräulein Cäcilie vor drei Monaten einem Spediteur in der Amsterdamerstraße zur Aufbewahrung gegeben hatte. Letzten Sonnabend erhielt der Spediteur einen Brief in der Handschrift der Angeklagten, worin ihm Auftrag erteilt wurde, die Koffer sofort nach der Berg-Taborstraße zu befördern. Dort wurden sie von Herrn Alabaster erwartet.

»Die Koffer enthielten Artikel in ergötzlicher Mannigfaltigkeit, Brauchbares und Unbrauchbares durcheinander. Zwölf Korsetten, eine silberne Studierlampe, zweiundfünfzig mit Spitzen besetzte Hemden, einen Pelzmantel (Skunk), ein Diamantarmband, drei künstliche Gebisse, wovon eins in Goldfassung, befanden sich darunter. In dem Gepäck, das sie aus der Montmorencystraße fortzuschaffen versuchte, fanden sich zahlreiche Waren aus dem ›Bon Marché‹, dem ›Magazin du Louvre‹, und auch sämtliches Silberzeug (einige Dutzend Löffel und Gabeln) der beklagenswerten Familie Bordelais.«

Frisson saß wie vom Donner gerührt. Nicht Cäcilies Schlechtigkeit erschütterte ihn – aber Alabaster! Sein rascher Verstand sagte ihm sofort, daß Alabaster so wenig ein Dieb war, als er selbst, und deutlich sah er die Falle, in die Peter gegangen war, wie mit seinen leiblichen Augen sah er ihn darinsitzen. Das alles war indes noch gar nichts, aber daß dieser Peter mit seiner goldgeränderten Brille, seiner unbefleckten Hemdenbrust, seinem tadellosen Rock, Peter, für den er die Art von Liebe empfand, die man für eine Großmutter empfindet, daß dieser Peter ihm Cäcilie verräterisch gestohlen hatte, daß der Brief vom »kleinen Frisson« an diesen Peter gerichtet war, das glauben zu müssen war hart, aber unvermeidlich.

»Die Welt hat sich heute nacht auf den Kopf gestellt,« sagte er. »Zuerst der ›Bourgeois‹ – ein Erfolg durch Mißgeschick in der Knospe geknickt. Dann Hans Carabin auf der Straße im Pelzmantel des Grafen Romakoff mit Herrn Bonhommes seidener Weste in der Tasche und einer Fiedel unterm Arm … ist das nicht ganz, wie die Geschichten, die man im Traum erlebt? Ich trete in ein Café, nehme meine Zeitung in die Hand und erfahre, daß meine Liebste eine Diebin, mein bester Freund ein Verräter ist! Was wird noch kommen? Was werde ich zunächst entdecken? Ich habe ordentlich Angst, nach Hause zu gehen!«

»Ich auch!« rief Panckoucke, der plötzlich die Gestalt seiner Frau vor sich auftauchen sah, aus tiefster Seele. »Wie nett wäre die Welt, wenn es kein ›Zu Hause‹ gäbe! Laßt uns trinken und diese Tatsache vergessen! Kopf hoch, Frisson! Bedenken Sie nur, wenn Sie mit Ihrem Stück Erfolg gehabt und das Mädel geheiratet hätten, das wäre ja noch viel schrecklicher.«


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