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Viertes Kapitel.
Lacenaire

»Soviel ich weiß, habe ich das Vergnügen, Herrn Karl Frisson zu begrüßen,« sagte Peter, noch breiter lächelnd und eine Visitenkarte zwischen den Fingern drehend.

»Ja … o ja … mein Herr,« murmelte Frisson, diese jählings vor ihm aufgetauchte Verkörperung von Wohlwollen und Wohlhabenheit anstarrend und den tadellosen neuen Rock, den schimmernden Hut, kurz alle Schönheiten des Anzugs ergründend, während Carabin hypnotisiert zu sein schien durch das Wunder von einem Spazierstock, dessen Versatzwert er in Gedanken ausrechnete.

»Mein Name ist Alabaster,« sagte Peter, dessen Mißtrauen zu schwinden anfing, denn in diesem Frisson war etwas, was ihn anzog, desgleichen in Carabin und Herrn Prud'homme, der wieder mit der Miene eines Archäologen an seinem kahlen Hühnerknochen weiter pickte, ja der ganze Raum hatte etwas Anmutendes, einen gewissen Hauch, der vielleicht von dem Schreibtisch und den Anzeichen literarischer Tätigkeit ausging.

»Ich bin Amerikaner und will in Paris Medizin studieren. Am Beaujonspital …«

»Ach, am Beaujon!« rief Frisson plötzlich belebt. »Also ein Kollege – bitte, nehmen Sie doch Platz – Hans, einen Stuhl …«

»Mein Vater hat vor einiger Zeit die Bekanntschaft der beiden Herren gemacht und schrieb mir, daß ich Sie aufsuchen solle …«

»Ja ja, gewiß,« rief Frisson, nach einem Stuhl fahndend, der nicht zusammenbrechen würde. »Und wie befindet sich Ihr lieber Vater? Hans, die Zigarren … Was, Sie rauchen nicht, Herr Ala…«

»…baster,« ergänzte Peter.

»Ja ja, Alabaster. Hans, den Kognak … was, er ist noch nicht geschickt worden? Mein Gott! Ich werde mich an ein andres Geschäft wenden. Wie? Sie trinken auch nichts? Ich übrigens auch nicht. Doch ich habe Sie ja noch nicht bekannt gemacht, komm doch heran, Hans – Carabin, Herr Hans Carabin. Studiert auch im Beaujon, ist aber mehr als Mediziner, nämlich ein Philosoph, der ein Gelübde abgelegt hat, sein Haar nicht zu kämmen, bis er die Quadratur des Perpetuum mobile gefunden hat. Und hier Herr Prud'homme, nicht Sully Prud'homme, sondern Prud'homme schlechtweg, ein ›Bourgeois‹ unter den Papageien, aber ein guter Kerl. Übrigens, mein lieber junger Freund, wie heißen Sie mit dem Vornamen?«

»Peter.«

»Gut, sehr gut. Ich werde Sie Peter nennen. Mein lieber Peter, Sie sind in einem großen Augenblick bei uns erschienen und werden etwas sehr Ergötzliches erleben, wenn Sie bleiben. Wir erwarten nämlich eine Gesellschaft von zwölf Herren, für die wir nichts zu essen haben, wir müßten denn Herrn Prud'homme braten!«

»Ich … ich …« stotterte Peter Alabaster.

»O das hat gar nichts zu sagen,« rief Frisson. »Solche Geschichten passieren einem in Paris alle Tage, wenn auch nicht gerade so schlimm. Die Sache ist die, ein Streik ist ausgebrochen. Meine Tante hat gestreikt, der Bäcker, der Flaschenbierhändler, der Tabakhändler, alle haben gestreikt. Was ist zu machen? Niederschießen oder aushungern können wir die Rebellen nicht, wir müssen also mit ihnen unterhandeln. Das kostet aber Zeit, und mittlerweile ist die Gesellschaft …«

»Wenn … wenn Sie mir erlauben wollten,« stammelte Peter, heiß errötend, »wenn … ich Ihnen aushelfen dürfte …«

»Gewiß … Sie wünschen, sich an der Gesellschaft zu beteiligen … sagen wir mit zwanzig Franken? Ganz das Richtige. Mein lieber Hans, sei so gut und setze deinen Hut auf, nimm den Korb und Peters Goldstück, aber ums Himmels willen, verliere dich nicht unterwegs in philosophische Spekulationen! Denke an die Gesellschaft, sage die Namen der Eingeladenen vor dich hin, mache dir einen Knoten ins Taschentuch und bringe auch ein paar Unzen Papageienfutter für Herrn Prud'homme mit. Dann wird er seinen Mund halten – du weißt ja, wir erwarten auch einen jungen Geistlichen, falls er von der None – oder heißt es Vesper? – loskommen kann. Herr Prud'homme hat nämlich die leidige Gewohnheit zu fluchen,« erläuterte Frisson, nachdem Carabin abgegangen war, mit tugendhafter Entrüstung. »Wir könnten ihn ja zudecken, aber unglücklicherweise hat sich Hans aus dem Tuch, das ich zu dem Zweck mit dem Käfig bekam, eine Weste gemacht. Und nun berichten Sie mir, lieber Peter, wie Ihnen der Beaujon zusagt?«

»Darüber kann ich nicht viel sagen, denn ich war bis jetzt sehr wenig dort. Ich war nicht in der Stimmung zur Arbeit – man fühlt sich so einsam in solchem Gasthof, und dieses Paris ist so groß.«

»O das soll nun anders werden,« sagte Frisson. »Ich werde Ihnen zeigen, wo Sie gemütliche Zimmer bekommen, und Sie werden sich nicht mehr einsam fühlen, nun Sie uns kennen. Wir sind ja ruhige, stille Leute, die aber das Lachen noch nicht vergessen haben – bis auf Carabin. Der lacht nur, wenn er betrunken … will sagen, verstehen Sie mich recht, in guter Laune ist. Mein armer, guter alter Hans! Er ist genau wie Herr Prud'homme brummig, wenn sein Tröglein nicht gefüllt ist, sonst aber der glücklichste und beste Mensch unter der Sonne. Mir ist er Vater und Mutter zugleich gewesen!«

»Da fällt mir ein, der Hausmeister sprach davon, daß … daß jemand hier den Starrkrampf habe?«

»Das war ich,« bekannte Frisson. »Die Symptome waren vollzählig vorhanden, scheinen aber verschwunden zu sein … nein, mein Gott! Ich fühle schon wieder die Steifheit in den Halsmuskeln, es kommt wieder … doch was liegt daran? Mehr als einmal sterben kann der Mensch ja nicht, und vielleicht bin ich auch nur nervös. Paris ist die Stadt der Nerven. Ich kenne manchen Märtyrer der Nerven. Einzelne haben nicht den Mut, in einen Omnibus zu steigen, andre können nicht über einen freien Platz gehen – Sie haben doch von dieser neuen Krankheit gehört, der Platzscheu? Nicht? Sie kommt sehr häufig vor. Ein Bekannter von mir leidet daran. Er erklärt, daß er, wenn es durchaus sein müßte, nur auf Händen und Füßen und mit geschlossenen Augen über die Place de la Concorde gehen kann. Einen kenne ich, der ist ein Opfer des Absinths und leidet an dem Verlangen durchzugehen. Wohin? Das weiß er selbst nicht, nur davonlaufen will er. Aber sprechen wir nicht mehr davon – in mir regen sich schon ähnliche Gefühle. Das ist immer der Fall, wenn ich mich mit einer Krankheit beschäftige, und das ist auch zum Teil der Grund, weshalb ich nie in das Spital gehe. Obwohl ich der wenigst Nervöse aller Sterblichen bin, verdirbt mir das Spital die Stimmung. So oft ich die Dummheit gemacht habe, einer Sektion beizuwohnen, verfolgte mich die Geschichte bis nach Hause. Es mag ja töricht sein, aber Leichen sind mir nun einmal widerwärtig, ich bin mehr für Rosen. Hans denkt ebenso, nur ist er mehr für Bier.«

»Demnach,« begann Peter, der über der Beobachtung dieser höchst eigentümlichen und anziehenden Persönlichkeit sein Heimweh zu vergessen anfing, »haben Sie die Medizin aufgegeben? Entschuldigen Sie die Frage, vielleicht erscheint sie zudringlich …«

»Keineswegs! Ja, ich habe gewissermaßen die Medizin aufgegeben, das Seziermesser mit der Feder vertauscht. Ich schreibe Dramen; demnächst wird das ›Gelbe Theater‹ ein Stück von mir aufführen. Es heißt: ›Der Bourgeois.‹ Der ersten Aufführung müssen Sie auch beiwohnen, ich sammle nämlich die geräuschvollsten Menschen meiner Bekanntschaft, daß sie eine Claque bilden. Sie bekommen da meinen angeheirateten Onkel zu sehen, meine Tante, ihr Kind und den Onkel Julius, der wegen seines Geldes bei der Tante gut angeschrieben ist, und Margot, seine alte Magd, die für fünfzehn Franken in der Woche das doppelte Amt einer Köchin und Geliebten versieht, ferner Lermina, seinen alten Bedienten, der Teilhaber an der Huri Margot ist …«

»Die werden alle im Theater sein?« fragte Peter verwundert.

»Nicht im, auf dem Theater: sie kommen alle in meinem Stück vor. Sie werden Mund und Nase aufsperren! So oft ich meine Tante besuche, setzt sie mir kalten Hackbraten vor, den sie eigens für mich in ihrer Speisekammer verwahrt, denn für diesen Taugenichts von Frisson ist alles gut genug. Den Hackbraten bekommen Sie auch auf der Bühne zu sehen, und auch Frisson, der ihn ißt. Das Stück selbst ist so eine Art von Gehäcksel und am Schluß wird's beinahe tragisch, denn Frisson kommt zu Schaden. Die Liebe streckt ihn mit vergiftetem Pfeil nieder, nämlich nicht mich, sondern den Frisson im Stück. Ich glaube, daß ich bei Carabin Anleihen gemacht habe für diesen Charakter. Ein nervöser Mensch, immer voll von Plänen, voll von Hoffnungen und Ängsten, stets bereit, dem Freund seinen letzten Heller zu geben oder dessen letzten Heller zu nehmen, immer genarrt von seiner eigenen Phantasie, kurz, Hans, wie er leibt und lebt, und doch nicht Hans, denn Hans kann die Weiber nicht ausstehen, und mein Held stirbt an der Liebe … Herein!«

Die Türe ging auf und Lacenaire, der Mathematiker, kam herein.

Dieser Lacenaire war ein schäbig aussehender Mann mit einem wehmütigen Lächeln und Augen, die in unermeßliche Fernen zu blicken schienen. Auch diese Augen nahmen die Pracht von Alabasters Anzug wahr, dann ließ sich ihr Besitzer in sitzender Stellung auf einen Sessel in der Nähe des Tisches fallen. Seine Hand verschwand in dem Tabaksbeutel, der gar freundlich geöffnet auf dem Tisch lag, durchwühlte ihn und kam mit einer zwischen drei Fingern gehaltenen Prise zurück, aus der alsbald eine Zigarette zu entstehen begann.

»Das ist Lacenaire vom Beaujon,« sagte Frisson im Ton eines Menageriebesitzers, der seine Tiere vorführt.

»Ehemals vom Beaujon,« bemerkte Lacenaire, von seiner Arbeit aufblickend.

»Ehemals vom Beaujon, jetzt Rechner, halb und halb bei der Pariser Sternwarte angestellt, eine Art von Kassierer der himmlischen Bank, der sein Leben in einer Dachkammer mit Zählen der Sterne hinbringt, eine sehr unsichere gefährliche Arbeit, denn wenn eines Morgens das geringste Sternchen am Himmel fehlte, wäre er dafür haftbar. Wenn die Sonne die Wasserblattern bekommt und gesprenkelt aufgeht, so fühlt sich Lacenaire den Puls, woraus man ersieht, daß die medizinische Vorbildung nie überflüssig ist. Er hat auch die Entdeckung gemacht, daß der Jupiter schwindsüchtig ist, denn er hat, wie es scheint, an Gewicht verloren. Was für einen Rechenfehler im Gewicht des Jupiter hast du neulich herausgebracht, Lacenaire?«

»Dreizehnhundert Billionen Tonnen,« brummte Lacenaire, seine mittlerweile fertig gewordene Zigarette träumerisch hin und her wendend.

»Wie merkwürdig!« rief Peter. »Man kann also die Sterne wägen?«

»Jupiter ist ein Planet, mein Herr,« brummte Lacenaire. »Er besteht größtenteils aus Nebel und würde, wenn man ihn ins Meer würfe, schwimmen wie eine Blase.«

»Diesen verehrten Jupiter in Badhosen zu sehen,« bemerkte Frisson, »würde mir riesig Spaß machen … Herein!«

Die Türe ging auf und ein Herr mit stark gerötetem Gesicht und heiterem Lächeln trat ein.

»Ach, van Raalte! Mein lieber Peter – das ist van Raalte, weiland vom Val-de-Grace-Spital, jetzt Fabeldichter! Setze dich auf das Bett, mein teurer Johannes, es ist für dich sicherer als ein Stuhl.«

Johannes van Raalte tat wortlos wie ein Automat, was ihm geheißen worden war, und Peter zerbrach sich den Kopf darüber, woher wohl der Branntweingeruch rühren möge und ob dieser Herr van Raalte jemals zu sprechen anfangen und zu lächeln aufhören würde.

Frisson blickte unaufhörlich nach der Türe wie eine nervös werdende Hausfrau, denn Carabins langes Ausbleiben schien ihm beunruhigend, er wußte ja, daß wenn Hans etwa in der »Blauen Traube« oder der »Toten Ratte« eingekehrt und beim Bier in ein philosophisches Gespräch geraten wäre, er sehr spät und ohne einen Pfennig Geld nach Haus kommen würde.

Da bis jetzt weder Bier noch Brötchen anzubieten waren, tat er sein Möglichstes, den Gästen die Zeit mit Gesprächen zu vertreiben und selbst die Tatsache zu vergessen, daß er noch weitere elf zu erwarten hatte, ja vielleicht zwölf, falls der junge Geistliche abkommen konnte von der Vesper – oder war es die None?

»Van Raalte hat eine Fabel verkauft,« sagte er zu Peter, »ich seh's an seinem Lächeln. Mein teurer Johannes, lege dich doch aufs Bett, dabei ruht dein Rückgrat – so ist's recht – stelle seinen Regenschirm in die Ecke, Paul, und hänge seinen Hut darauf. Nichts natürlicher, als daß der Mensch lächelt, wenn er glücklich ist, und wer sollte nicht glücklich sein, wenn er eine Fabel verkauft hat, wer sollte nicht eine Fabel verkaufen, wenn er einen Fabelhändler findet, der sie kauft? Dieses Lächeln unsres Johannes ist aber von einer Beständigkeit und von einer gewissen Zweideutigkeit, die Erklärung verlangt. Er ist nämlich von dreierlei Arten des Lächelns besessen …«

»Es bedarf wirklich …«

»Hören Sie zu, so werden Sie's begreifen! Das erste ist ein selbstgefälliges Lächeln, das zeigt er, wenn er eine Fabel ersinnt, das zweite ein verführerisches Lächeln – damit nähert er sich dem Verleger. Das dritte ist eine Mischung aus beiden, verstärkt durch Absinth und Branntwein, ein kräftiges Lächeln, das vom Geld des Verlegers hervorgerufen wird.«

Er stand auf und trat an das Bett, wo Johannes jetzt gewaltig schnarchte. Wie die Mutter ihr Kind sah Frisson den Schläfer an.

»Selbst im Schlaf lächelt er,« sagte Frisson leise, während Peter, der auch hinzugetreten war, bei dem Anblick nur Widerwillen empfinden konnte. »Welche Unschuld, welcher Frieden! Können Sie aus diesem Lächeln, das glückliche Kindheitstage widerzuspiegeln scheint, etwa erkennen, ob seine Seele in seligen Gefilden wandelt, oder ob sie im Moulin Rouge mit einer Ju-ju tanzt? Dieses Lächeln ist auch eine Fabel, deren Moral wir nicht vergessen wollen …«

Er breitete ein Taschentuch über das Gesicht des Fabeldichters und drehte sich um, denn ein weiterer Gast war, und zwar ohne anzuklopfen, ins Zimmer getreten.


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