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Am 10. November begehn wir Deutschen den hundertundfünfzigsten Geburtstag Schillers, und wiederum wird uns an diesem Gedenktage nicht nur die hinreißende, siegreich die Zeit überdauernde Gewalt seiner Dichtungen mit voller Wucht in die Seelen brennen, sondern wir werden und müssen nicht minder des großen Volkserziehers gedenken. Wenn in einem noch heute für unser mitschwingendes Gefühl von leidenschaftlichem Schmerz bebenden Nachruf Goethe an dem Freunde rühmt, daß die Dämmrung, die Nacht, die uns entkräftigt, ihn immer noch im Würdigsten beschäftigt gefunden habe, so hat er zugleich das unvergleichliche Streben himmelan hervorgehoben, das Schillers Seele je und je erfüllt, getragen, in sich vollendet hat:
Nun glühte seine Wange rot und röter
Von jener Jugend, die uns nie entfliegt,
Von jenem Mut, der früher oder später
Den Widerstand der stumpfen Welt besiegt,
Von jenem Glauben, der sich, stets erhöhter,
Bald kühn hervordrängt, bald geduldig schmiegt,
Damit das Gute wachse, wirke, fromme,
Damit der Tag dem Edlen endlich komme.
Fast als empfände er unausgesprochenermaßen an einer tiefverschwiegenen Stelle seiner Seele, welch kurzes Maß von Tagen ihm nur zubeschieden sei, hat Friedrich Schiller ruhelos, mit immer wieder belebter Spannkraft gearbeitet, geschaffen, gepredigt, 249 aufgerufen und in einer kurzen Schaffenszeit einen unermeßlich reichen Kreis höchster geistiger Arbeit umschritten und erfüllt. Dem Leben und dem Tod früh vertraut, wirkte er mit der echten Gebärde des ganz großen Menschen für jenes, als ob es diesen nicht gäbe. Und keiner hat die Erziehung des Volks durch die Kunst, durch geistige Werte überhaupt, die einst Gottsched in Deutschland begann, Lessing, Herder, Goethe fortsetzten, mit solchem Feuer, mit so genialer Kraft weitergeführt und vorbildlich dargestellt wie er. So kann sich, wer das Volk und die Literatur in ihren inneren und äußeren Beziehungen betrachten will, von niemandem besser leiten lassen als von ihm.
In jenen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen, die Schiller 1793 auf 1794 an den Herzog Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-Augustenburg schrieb, hat er das Problem von allen Seiten erfaßt. Wohl verstand er den Einwand, daß die Wirkungen der Schönheit gefährlich sein könnten, aber er widerlegt ihn, einmal durch das in jedem Menschen wohnende Bedürfnis nach der Schönheit, das er in die scharf geprägten Worte zusammenfaßt: »Um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt«. Und dann läßt er die Vernunft sprechen: »Der Mensch soll mit der Schönheit nur spielen, und er soll nur mit der Schönheit spielen«.
Und in der Tat, das tiefe Bedürfnis nach Schönheit, nach einem höhern Leben über den Alltag ist vorhanden und ist vorhanden heute mehr als je, je weiter mit der allgemeinen Bildung, dem allgemeinen Wohlstand, der allgemeinen politischen Freiheit, der Einzelne emporgestiegen ist und emporsteigen will. Wie wir aus einem Zeitalter voller Gebundenheiten – rechtlicher, kirchlicher, sozialer, ständischer – hinübergeglitten sind in unablässiger Arbeit in ein Zeitalter individueller, ja, subjektivistischer Freiheit, Bildungsfreiheit vor allem, so hat sich auf immer breitere Kreise der Wunsch und die Sehnsucht ergossen, das Schöne, die Kunst, die 250 Literatur zu genießen, zu erwerben. Die Tatsache ist unleugbar, der Drang ist vorhanden. Wir wollen nicht verschweigen, daß er gefährlich werden kann, wenn er nämlich mündet in eine bloß ästhetische Bildung, in ein verweichlichendes Genießerwesen. Erst jüngst hat mit ergreifendem, sittlichem Ernst ein angesehener süddeutscher Naturforscher davor gewarnt, zu viel Gewicht auf die künstlerische Heranbildung und Erziehung des jüngeren Geschlechts zu legen – wir brauchen, meint er, vor allem ein gesundes, tüchtiges, kräftiges, der Not und der Arbeit, schweren Volksgeschicken gewachsenes Volk, nicht eins von lauter fertigen Beurteilern der Kunst und Literatur. Und wer wollte Professor von Gruber widersprechen, wenn er so auf das corpus sanum hinweist, das die Grundlage aller Gesundheit des Einzelnen und der Masse ist. Aber wenn wir nun das alte Wort vollenden, so gelangen wir zur mens sana in corpore sano, und da scheint uns denn freilich jener starke Zug eines wohlhabender gewordenen Volks zur Lektüre und zum Kunstgenuß ein gutes Zeichen der Zeit zu sein. Ich meine nicht, wie manche, daß die künstlerische Erziehung die religiöse ersetzen könne – aber sie hat die Aufgabe, geistige Grundlagen zu schaffen, auf denen der erwachsene und erzogene Mann und die reife Frau ihr vielleicht sehr einfaches und nüchternes Leben in aller Bescheidenheit ausbauen und schmücken können. Dann erst wird es ihnen möglich sein, jenen Schillerschen Spieltrieb wirklich als einen kostbaren und guten Lebensinhalt neben andern zu pflegen und zu veredeln. Ein geistreicher Mann hat einmal gesagt, unter allen Erfindungen wäre die der Petroleumlampe die größte gewesen, weil sie erst dem Armen die Möglichkeit gab, seinen Abend zu erhellen, und weil sie ihm den Drang schuf, den hellen Abend auszufüllen. Das gilt doppelt für das Zeitalter des Gaslichts und der Elektrizität. Nur mit herzlicher Bewegung können wir es heute sehn, daß in einer kleinen Stadt wie Jena Abend für Abend Scharen kleiner Leute in das von dem großen Menschenfreund Ernst Abbe 251 gestiftete Volkshaus eilen, wie Lampe für Lampe dort aufglüht und nun rauhe Hände ehrfürchtig Blatt für Blatt an den Büchern und Zeitschriften wenden, die dort für jedermann ausliegen. An vielen Orten, leider noch an nicht allen, die Geld und Platz dafür hätten, öffnen sich jetzt abends solche Stätten, von denen jeder ein Buch an sein Lämpchen heimträgt, oder, wenn ihm die Häuslichkeit zu eng ist, mit Genossen an langen Tischen sitzend, in den gastlichen Räumen der Bücherei den dargebotenen Lesestoff genießt. Das sind Erscheinungen eines aufsteigenden Volks, Triebe, die gehegt und gepflegt werden müssen, und mit um so tieferer Betrübnis muß es uns erfüllen, wenn wir im Gegensatz dazu nun sehn, wie Hunderttausende immer noch den Lesestoff, nach dem ein unstreitig edles Gefühl in ihnen hungert, von der Hintertreppe her beziehn, wie sie unsaubere Produkte unsauberer Phantasie schwarz auf weiß in ihre Lade tragen.
Die Erscheinung ist nicht so neu, wie sie scheinen möchte. Schon im Jahre 1818, also fast vor einem Jahrhundert, erließ zum Beispiel Johannes Falk, ein Mann aus Goethes Kreis, einen Aufruf, zuvörderst an die weimarischen Landstände, aber darüber hinaus an das deutsche Volk – einen Aufruf »über eine der schauderhaftesten Lücken unserer Gesetzgebung, die durch die traurige Verwechselung von Volkserziehung und Volksunterricht entstanden sei«. Sie sehen, die Überschrift träfe manchen Orts noch heute zu – leider auch der Inhalt. Denn der wackre Mann klagt da unter anderm »über die Flut schlechter Lesebücher«, die sich über alle Stände ergieße und nur zu bereitwillige Aufnahme fände. Nur nimmt all das, wie jede Erscheinung des Volkslebens in unsrer demokratischen Zeit, in einem Volke von sechzig Millionen mit seinem großen öffentlichen Leben ganz andern Umfang an, gerade auch durch die wachsende Bildung, dieses hohe Gut.
Je kräftiger der Drang zum Schönen und der Hang nach Bildung im Volke ist, um so gefährlicher ist die Vergiftung durch schlechten Stoff, den man den Hungrigen darbietet. Wir wissen es heute genau, 252 wie verderblich diese Art sogenannter Literatur wirkt; ich nenne aus Schriften der letzten Zeit nur die Arbeiten von Pfarrer Hermann Schachemann in Basel und Lehrer Hans Muggli in Wetzikon und das Buch von Ernst Schultze über die Schundliteratur, Werke, in denen mit dem Gewicht amtlicher Erfahrungen und statistischer Zahlen dargetan wird, wie schwer dieser Schaden ist. Es erfüllt nicht nur den Jugendlehrer, den Arzt, den Politiker, sondern jeden Vater, jede Mutter, jeden, der sich für das Volk verantwortlich fühlt, geradezu mit Entsetzen, wenn er sieht, wie halbwüchsige Jungen den einzigen und oft den letzten Groschen, den sie den Eltern abgepreßt haben, allwöchentlich an irgendeine Stelle tragen, von der sie den Greuel aufreizender und aufpeitschender Detektivgeschichten beziehn. Und oft genug hilft das Kinematographentheater die Phantasie vergiften! Wie soll man freilich Besseres von der Jugend erwarten und verlangen, wenn die Eltern Millionen des Volksvermögens hinwerfen für Erzählungen niedrigster Art, ohne eine Spur von innerm Wert, nur voll von dem raffinierten Reiz der gröbsten Spannung. Wird doch, wie Kenner beweisen, an einem einzigen Kolportageroman oft mehr verdient, als gediegene Werke einem Schriftsteller oder Verleger lebenslänglich einbringen. Und wenn man etwa in den Abteilen eines großstädtischen Stadtbahnzuges Kinder mit allen technischen Ausdrücken über die Phasen des neuesten Sensationsprozesses, möglicherweise eines Sexualprozesses, sprechen hört, den die Sensationspresse in unnötig breiter Weise auftischt zum Behagen von tausenden lesender Eltern – so tragen die Eltern die Schuld, die das Blatt ruhig vor den Augen der eben heranwachsenden Kinder auf dem Tisch liegen lassen und den eignen Gesprächsstoff daraus bestreiten.
Aber seien wir gerecht. Bismarck hat einmal gesagt: »Zum Volk gehören wir alle, Seine Majestät der König so gut wie Sie und ich.« Und so muß es denn mit aller Schärfe ausgesprochen werden, daß hier keine Kluft zwischen den sonst leider so mannigfach geschiednen Klassen unsres Volks besteht, daß der Ungeschmack 253 und die Verführung der Sensation unten nur denkbar ist, weil in den obern Schichten des Aufbaus der bürgerlichen Gesellschaft nicht überall die sittliche Energie besteht, die vorbildlich und durch ihr bloßes Vorhandensein erzieherisch in jenem schillerschen Sinn wirken kann. Ich will nicht von jener pornographischen Literatur sprechen, die sich unter irgendeinem Deckmantel sogenannten Kulturinteresses in verschwiegenen Fächern manches anständigen Buchladens und manches Verlages birgt; denn diese glänzend ausgestatteten und gemeinhin sehr teuren Werke finden einen engen Kreis von Liebhabern, die wir nicht beneiden, aber die mit dem Volke doch nur in sehr losem Zusammenhang stehn. Sehr viel schlimmer aber ist es, daß heute solche Bücher, wie die von Rideamus und andern, tausende von Käufern finden, Bücher, in denen ein greller, nur um seiner selbst willen existierender Witz alles, schlechthin alles in seine trübe Sphäre hinabzieht. Schlimm ist es, daß in allen Teilen der Nation Witzblätter geduldet werden, die zur Hälfte von Pornographie leben, zur andern Hälfte unter der Maske wirklicher Künstlerschaft, angeblich nationaler Leidenschaft, in Wahrheit mit dem kalten, eisigen Lachen faunischer Zerstörerfreude alles, schlechthin alles, vom Herrscher bis zum Arbeiter – ja, Gott im Himmel nicht ausgenommen – lieblos und anstandslos verzerren, verkleinern, jede Erhebung und jede wirklich aus einem leidenschaftlichen vaterländischen Herzen stammende Kritik erdrosseln in den Schlingen einer giftigen Geschäftssatire. Wie dürfen wir, die Männer und Frauen der sogenannten gebildeten Stände, vor Arbeiter hintreten, die vielleicht eben mit Andacht vor einer freien Volksbühne den Werken eines wirklichen Dichters für ein paar ersparte Groschen gelauscht haben, wenn wir hundert und fünfhundert und tausend Mal – angeblich nur der Musik wegen – das Haus eines Kunstspekulanten füllen, in dem eine schmutzige Operette immer wieder gegeben wird, wenn alle Kreise der besten Gesellschaft – niemand ist dabei auszunehmen – der Aufführung von Stücken in großstädtischen Theatern zur 254 Hundertzahl verhelfen, von Stücken, in denen sich Zote an Zote reiht, deren einziger Reiz in pikanten Entkleidungsszenen besteht und bestehn soll.
Ja, wir dürfen uns nicht scheuen, noch über all dies, was ja noch nicht Dichtung sein will, emporzusteigen in eine höhere Sphäre. Was soll das Volk sagen, wenn ein literarischer Richterkreis zugleich mit dem Werk eines gottbegnadeten und tief ernst emporstrebenden Poeten, wie Gerhart Hauptmann, das von einer krankhaften Phantasie getragne Stück eines durch und durch künstlichen Dichters mit einem sogenannten Volkspreise krönt. Was soll es zu dem Wildekultus weiter Kreise sagen! Und eine auf eignen Füßen ohnmächtige Phantasie unternimmt es in unsern Tagen immer wieder, sich schlingpflanzenmäßig an überkommne, hohe Gestalten anzuranken und ihnen, unter dem Beifall vieler Gebildeten, statt des eignen reinen Bluts das unreine perverser Instinkte einzuflößen. Dürften wir uns noch wundern, wenn wir eines Tages die holde, tief menschliche Weiblichkeit Gretchens oder Klärchens auch in einem Brunstmantel sogenannter moderner, sogenannter triebhafter, in Wirklichkeit überkünstelter, krankhaft erhitzter Sinnlichkeit einherschreiten sähen?
Denn das muß hervorgehoben werden: nicht die moderne Literatur an sich trägt Schuld an allem diesem. Noch eben haben wir einen Dichter zu Grabe tragen müssen, der so ganz dem deutschen Leben der Bismarckzeit und unsrer Tage angehörte, und der in seiner vollen Modernität, in seinem neuen Impressionismus geradezu wie ein Heilbringer und ein Herzenstrost erscheint: Detlev von Liliencron. Ihm sind in diesem Jahre zwei so ganz im großen Sinne deutsche Gestalten vorangegangen wie Ernst von Wildenbruch und Hans Hoffmann. Wir haben nicht nur die Alten, unsern unvergleichlichen, tiefen, nie auszuschöpfenden Wilhelm Raabe unsern Paul Heyse, dessen Wort wir heute gerade brauchen können: »Nur eins scheint mir hoffnungslos: das Gemeine«. Wir haben ja auch Gerhart Hauptmann, den leidenschaftlichen 255 Menschendarsteller, haben Gestalter, die so auf der Höhe wandeln wie Carl Spitteler, Lyriker von der echten Inbrunst Richard Dehmels und von der innigen, hohen Empfindung und Anmut Gustav Falkes und wie viele noch in unsrer unvergleichlich reichen Literatur. Wir haben das Gut, das uns genug sein darf, und das die Hoffnung auf künftige Ernten in sich trägt, und wir brauchen all jenes Perverse und Ungesunde wahrlich nicht. Wir brauchen nicht mit der größten Dichterin dieses Landes, das uns heute gastlich aufnimmt, mit Annette von Droste-Hülshoff, die Vergangenheit anzurufen:
Da lachte nicht der Lehre
Der übersatte Spott,
Man baute die Altäre
Dem unbekannten Gott.
Wir müssen nur, wir alle, wir selber sein, um all dies Häßliche und Ungesunde abzustoßen, müssen mit Wilhelm Raabe bewußt sagen: »Es ist der höchste Genuß auf Erden, Deutsch zu verstehn«, und müssen darnach handeln, lesen, weitergeben.
»Der Künstler«, sagt Schiller in jenen Briefen, »ist zwar der Sohn seiner Zeit, aber schlimm für ihn, wenn er zugleich ihr Zögling oder gar noch ihr Günstling ist.« Und was da mit doppelter Betonung von dem Künstler gesagt ist, gilt von uns allen, die wir an der Volksbildung und ihrer Veredelung arbeiten. Denn wenn wir nun von der Betrachtung des Zustandes zu den Mitteln übergehn, wie ihm abzuhelfen wäre, so müssen wir alle, jeder an seiner Stelle, die Augen über die Zeit hinaus richten auf große, reine, ewige Ziele. Es heißt: »Wer der Zeit dient, der dient redlich.« Aber es heißt auch, und gerade im Gebiete der Kunst und wieder mit den Worten jener Schillerbriefe: »Ehe noch die Wahrheit ihr siegendes Licht in die Tiefen der Herzen sendet, fängt die Dichtungskraft ihre Strahlen auf, und die Gipfel der Menschheit werden glänzen, wenn noch feuchte Nacht in den Tälern liegt.« Immer also muß die Volksbildung und die literarische Volkserziehung, 256 von der allein wir hier zu reden haben und die freilich nur ein Teil des Ganzen ist, ihre Blicke auf diese Gipfel richten. Aber sie kann der tief eingerissenen Verderbnis nur steuern, wenn sie bescheiden von unten anfängt, wenn sie langsam wieder den Blick der Tausende, der an dem düstern Licht verführerischer Sensation hängt, umlenkt, zunächst einmal auf das ruhig brennende Feuer schlichter, echter Darstellung. Immer wieder macht ja der Arbeiter im Dienste der Volksbildung die Erfahrung, wie gut im Grunde der Kern des Volkstums ist, wie rasch es gelingt, den Menschen, der vielleicht nur zufällig durch schlechte Umgebung und schlechte Erziehung das Gute nicht in die Hand bekam, an das Gute zu gewöhnen. Und freilich muß man da zunächst dem Schlechten das Bett abgraben, indem man es ganz bescheiden anfängt und gelegentlich auch von dem Verbreiter des Unechten lernt, wie man das Echte geben soll. Schlichte, gesunde Kunst, daneben schlichte, gesunde und nicht unkünstlerische Unterhaltungsliteratur haben gerade wir Deutschen zur Genüge. Was kann allein ein einziger Volksschriftsteller, wie Jeremias Gotthelf, zumal unsern süddeutschen Landsleuten, aber keineswegs nur diesen, sein! Wie haben Liliencrons Kriegsnovellen schon auf tausende und tausende einfacher Leute gewirkt, die in ihnen beides fanden, die Spannung, die ein durch harte Arbeit abgespannter Geist vor allem in seiner Lektüre sucht, und zugleich jene immanente, in der Darstellung selbst phrasenlos liegende Erhebung über der Dinge gemeines Maß. Wie viel kann Ludwig Anzengruber, wie viel ein echter Volksdichter von Roseggers Art noch wirken! Was kann wiederum insbesondre den Norddeutschen ein noch lange nicht genug gewürdigter Dichter wie Willibald Alexis bedeuten, und das sind ja nur ein paar Namen aus der großen Zahl. Wenn nur der Mut zur Unternehmung da ist, so folgt auch das Gelingen. So haben wir ja in den letzten Jahren, erfreulich genug, eine ganze Reihe von Sammlungen entstehn sehn, die sich ganz ruhig der äußern Mittel der schlechten Volksliteratur bedienten, und die hinter dem bunten, 257 den unverwöhnten Geschmack anziehenden Gewande Gutes, Tüchtiges, Ehrliches boten. Ich nenne die »Bunten Bücher« von Enßlin & Laiblin, nenne die »Münchner Volksschriften«, die Groschenhefte der »Deutschen Jugendbücherei« des Hillgerschen Verlages, dann die vortrefflichen »Wiesbadener Volksbücher«, ohne daß ich es in diesem Zusammenhang als Notwendigkeit empfände, Ihnen ein vollständiges Material vorzulegen. Und wieviel bieten unsre alten Sammlungen: Meyers Volksbücher, Hendels Bibliothek der Gesamtliteratur, die Rheinische Hausbücherei, die Deutsche Bücherei, Hesses Volksbücher, die Cottasche Handbibliothek und vor allem der unvergleichliche Reclam! Schon empfindet auch der anständige Buchhandel die Verpflichtung, einzugreifen, er hat sich in seiner großen Organisation nicht damit begnügt, einen scharfen Protestbeschluß gegen die Schundliteratur anzunehmen, er will jetzt – gerade in diesen Tagen – zu scharfen Maßnahmen gegen die Berufsgenossen vorschreiten, die jenes Gift verbreiten. So stellt er sich neben die vielen Geistlichen, Lehrer, Bibliothekare, neben die zahlreichen Organisationen für Veredelung der Volksbildung, unter denen die unsere eine der ältesten ist und gute Nachbarschaft halten soll mit allen andern in diesem großen nationalen Kampf. Aber freilich, auch jeder Einzelne muß in seinem Kreise mitarbeiten, sei der Kreis klein oder groß, muß vor allem sein Haus reinhalten von dem Schmutz und der Unkunst, – es ist Saat auf Hoffnung, auch die bescheidenste Arbeit bringt reichen Lohn, vor allem inneren. Denn all diese Arbeit ist nur Übergang; sie soll das Volk wieder zu den Quellen hinführen, aus denen ihm der Strom unsrer großen deutschen Dichtung fließt, nicht zu einseitiger ästhetischer Bildung, sondern zu jenem Genuß, der durch die ästhetische Hebung die Anknüpfung erreicht an der Menschheit Würde, wie sie Schiller in die Hand der Künstler legte. Nicht ein Volk von Kunstgenießern wollen wir werden, sondern ein Volk, das in seiner Kunst einen Ausdruck alles Höchsten findet, das es in seinem Leben bewegt, erfüllt, 258 vorwärtsbringt. Wir haben diese Kunst, und unsre Aufgabe kann nur sein, sie allen Volksgenossen unverschüttet und unverstellt zu übergeben. So sei denn in diesem Schillerjahr noch eins ausdrücklich hervorgehoben, die Schillerausgabe des Schwäbischen Schillervereins, die für den Preis von einer Mark in vortrefflicher Ausstattung Schillers Gedichte und Dramen an Tausende bringen will, wie sie schon bei Schillers hundertstem Todestage Hunderttausenden sie übergab.
Nicht ein ungesundes, sondern ein gesundes Zeichen der Zeit ist der Lesehunger der Masse. Und die schwere Verantwortung, die auf uns ruht, ist die, ihn richtig befriedigen zu helfen. Mutatis mutandis gilt jedem, der an der Volksbildung arbeitet, an seiner bescheidnen Stelle die Antwort, die Schiller im neunten Brief auf die Frage hatte: »Wie verwahrt sich aber der Künstler vor den Verderbnissen seiner Zeit, die ihn von allen Seiten umfangen?« Die Antwort heißt: »Wenn er ihr Urteil verachtet. Er blicke aufwärts nach seiner Würde und dem Gesetz, nicht niederwärts nach dem Glück und nach dem Bedürfnis. Gleich frei von der eiteln Geschäftigkeit, die in den flüchtigen Augenblick gern ihre Spur drücken möchte, und von dem ungeduldigen Schwärmergeist, der auf die dürftige Geburt der Zeit den Maßstab des Unbedingten anwendet, überlasse er dem Verstande, der hier einheimisch ist, die Sphäre des Wirklichen; er aber strebe, aus dem Bunde des Möglichen mit dem Notwendigen das Ideal zu erzeugen. Dies präge er aus in Täuschung und Wahrheit, präge es in die Spiele seiner Einbildungskraft und in den Ernst seiner Taten, präge es aus in allen sinnlichen und geistigen Formen und werfe es schweigend in die unendliche Zeit.«
Wohl hat Schiller erkannt, daß nicht jedem, dem dies Ideal in der Seele glüht, die schöpferische Ruhe und der große geduldige Sinn verliehen wurde, »es in das nüchterne Wort auszugießen und den treuen Händen der Zeit zu vertrauen«, aber auch hier versagt sich uns der Große, Unermessne nicht mit Rat und 259 Antwort: »Gib also, werde ich dem jungen Freund der Wahrheit und Schönheit zur Antwort geben, der von mir wissen will, wie er dem edlen Trieb in seiner Brust bei allem Widerstande des Jahrhunderts Genüge zu tun hat, gib der Welt, auf die du wirkst, die Richtung zum Guten, so wird der ruhige Rhythmus der Zeit die Entwicklung bringen.« Und diesem ruhigen Rhythmus der Zeit muß sich letzten Endes auch die Arbeit der Volksbildung anvertrauen. Sie wird alle Gefahren langsam, aber sicher überwinden, wenn sie eins sich vor Augen hält, worin sich Schiller so tief mit Goethe begegnet: die Erziehung zur Ehrfurcht. Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen über uns und dem Gesetz in unsrer Brust, Ehrfurcht – das tut uns heute vor allem not – vor der Reinheit der Frau, Ehrfurcht vor dem eignen Volk und Vaterlande, Ehrfurcht vor jedem redlichen Aufwärtsstreben, Ehrfurcht im rechten Sinn vor unsrer eignen unsterblichen Seele – das ist der tiefere Sinn jeder Kunst und jeder Bildungsarbeit. Nicht bei jedem von uns Geringen kann der Wille so mit der Kraft im Bunde sein wie bei Friedrich Schiller, aber in seinem Sinn zu wirken, ist uns allen möglich. Und hier vor allem erwächst unserm sonst so vielfach geteilten und getrennten Volk eine gemeinsame große Aufgabe. Immer noch ist es, Raabes Wort zu wiederholen, der höchste Genuß auf Erden, Deutsch zu verstehn, und diesen Genuß dem ganzen Volk zu vermitteln, ist die Aufgabe, die das Problem »Das Volk und die Literatur« uns stellt. Wenn wir ihrer Beantwortung in dem Sinne dieser von unsern beiden größten Dichtern gepriesenen Ehrfurcht nähergekommen sind, dann werden wir dem Genius, dessen hundertundfünfzigsten Geburtstag wir in diesem Jahre feiern, wieder frei und offen in dem Bewußtsein nach unsern schwachen Kräften erfüllter Pflicht ins Auge sehn können.